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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Braucht Japan Krieg?

100 Jen, die Zurückweisung unberechtigter Angriffe eines ungeschickte:! (bald
versetzten) fremden Handelsattaches auf die fremde Kaufmannschaft 5000 Jen.
Ebenso wunderlich sieht es im Ressort des Bildungswesens aus. Die höheren
Schulen sind in Japan nicht nur zum großen Teil Privatschulen, sondern
vielfach auch reine Finanzunternehmungen terrenis- und gewissenloser "Di¬
rektoren". Die Direktoren der staatlichen Schulen werden vom Mini¬
sterium ernannt, handeln aber von der Übernahme ihres Amtes^ ab völlig
selbständig und willkürlich. Ihr Amt ist eine Sinekure. Sie unterrichten
wöchentlich zwei bis vier Stunden und halten ihren Schülern dann und
wann Vorträge über Moral, statt die Moral durch Arbeit, durch Unterricht und
Inspektion zu beweisen. Es kann vorkommen, 'daß ein Direktor Hans Dampf
in allen Gassen ist, daß er überall in der Hauptstadt oder im Lande Ansprachen
und Festreden hält, von Plato und Aristoteles redet und doch von diesen alten
Philosophen nichts als den Namen kennt und vom Schulwesen keine Ahnung
hat, weil er nicht Fachmann ist. Die Schüler streiken daher oft und zwingen
den Direktor (oder einen Lehrer) zum Abgang von der Schule. Welche Unordnung
bei einem Teil der großen Aktiengesellschaften herrscht, haben die Bankerotte der
Großjapanischen Zuckerraffinerie (14 Millionen Jen Aktienkapital!) und der
Seeproduktengesellschaft bewiesen. Die Direktoren sind vielfach gewissenlose
Ignoranten, die auf Kosten der Gesellschaft als Sultane leben, die Aufsichtsrate
bloße Puppen. Auch die technischen Beamten genügen nicht immer. Wie vor
wenigen Jahren die Oberingenieure einer großen Eisenbahn junge Männer waren,
die erst zwei Jahre zuvor die Universität Kioto verlassen hatten, so begnügte
sich eine Bierbrauerei mit einen: noch jüngeren Manu.

Genug! Die angeführten Beispiele, die sich leicht aus allen anderen Gebieten,
Armee und Marine ausgenommen, ergänzen ließen, beweisen, daß es noch heute
vielfach an Sachverständigen fehlt, wie das gar nicht anders sein kann. War
doch Japan bis vor reichlich einem Menschenalter Agrarstaat, und dieser Agrar-
staat nicht nur gegen das Ausland abgeschlossen, sondern auch in: Innern durch
das Feudalsystem und das Verbot der Freizügigkeit in zahllose Kleinstaaten
geteilt, die ein isoliertes Dasein führten. Staats- und Privatwirtschaft
rechneten mit verschwindend wenig Faktoren. Der Bauernstand, also fast die
Gesamtzahl der Einwohnerschaft des Landes, leistete Frondienste für die
herrschende Kaste des Adels und der Krieger. Einen Kaufmannsstand
gab es nicht, im großen und ganzen nur winzige Geschäfte, die wir Hoken-
handlungen nennen. Wurde doch der Jen (Riu) vor vierzig Jahren in 100 Sen,
1 Sen in 100 Um, 1 Um in 10 Mo, 1 Mo in 10 sehn, 1 sehn in 10 Kotsu
geteilt. Ein Kotsu betrug also das Zehnmillionstel eines Jen oder Riu. Der Geld¬
verkehr war zur Zeit der Naturalwirtschaft in Japan naturgemäß verschwindend
gering. Aber die obige Einteilung ist selbst bei Berücksichtigung der Tatsache,
daß der Geldwert ständig sinkt, ein Beweis für die außerordentlich kleinen
Verhältnisse der ehemaligen japanischen Wirtschaft. Etwas lebhafter und


Braucht Japan Krieg?

100 Jen, die Zurückweisung unberechtigter Angriffe eines ungeschickte:! (bald
versetzten) fremden Handelsattaches auf die fremde Kaufmannschaft 5000 Jen.
Ebenso wunderlich sieht es im Ressort des Bildungswesens aus. Die höheren
Schulen sind in Japan nicht nur zum großen Teil Privatschulen, sondern
vielfach auch reine Finanzunternehmungen terrenis- und gewissenloser „Di¬
rektoren". Die Direktoren der staatlichen Schulen werden vom Mini¬
sterium ernannt, handeln aber von der Übernahme ihres Amtes^ ab völlig
selbständig und willkürlich. Ihr Amt ist eine Sinekure. Sie unterrichten
wöchentlich zwei bis vier Stunden und halten ihren Schülern dann und
wann Vorträge über Moral, statt die Moral durch Arbeit, durch Unterricht und
Inspektion zu beweisen. Es kann vorkommen, 'daß ein Direktor Hans Dampf
in allen Gassen ist, daß er überall in der Hauptstadt oder im Lande Ansprachen
und Festreden hält, von Plato und Aristoteles redet und doch von diesen alten
Philosophen nichts als den Namen kennt und vom Schulwesen keine Ahnung
hat, weil er nicht Fachmann ist. Die Schüler streiken daher oft und zwingen
den Direktor (oder einen Lehrer) zum Abgang von der Schule. Welche Unordnung
bei einem Teil der großen Aktiengesellschaften herrscht, haben die Bankerotte der
Großjapanischen Zuckerraffinerie (14 Millionen Jen Aktienkapital!) und der
Seeproduktengesellschaft bewiesen. Die Direktoren sind vielfach gewissenlose
Ignoranten, die auf Kosten der Gesellschaft als Sultane leben, die Aufsichtsrate
bloße Puppen. Auch die technischen Beamten genügen nicht immer. Wie vor
wenigen Jahren die Oberingenieure einer großen Eisenbahn junge Männer waren,
die erst zwei Jahre zuvor die Universität Kioto verlassen hatten, so begnügte
sich eine Bierbrauerei mit einen: noch jüngeren Manu.

Genug! Die angeführten Beispiele, die sich leicht aus allen anderen Gebieten,
Armee und Marine ausgenommen, ergänzen ließen, beweisen, daß es noch heute
vielfach an Sachverständigen fehlt, wie das gar nicht anders sein kann. War
doch Japan bis vor reichlich einem Menschenalter Agrarstaat, und dieser Agrar-
staat nicht nur gegen das Ausland abgeschlossen, sondern auch in: Innern durch
das Feudalsystem und das Verbot der Freizügigkeit in zahllose Kleinstaaten
geteilt, die ein isoliertes Dasein führten. Staats- und Privatwirtschaft
rechneten mit verschwindend wenig Faktoren. Der Bauernstand, also fast die
Gesamtzahl der Einwohnerschaft des Landes, leistete Frondienste für die
herrschende Kaste des Adels und der Krieger. Einen Kaufmannsstand
gab es nicht, im großen und ganzen nur winzige Geschäfte, die wir Hoken-
handlungen nennen. Wurde doch der Jen (Riu) vor vierzig Jahren in 100 Sen,
1 Sen in 100 Um, 1 Um in 10 Mo, 1 Mo in 10 sehn, 1 sehn in 10 Kotsu
geteilt. Ein Kotsu betrug also das Zehnmillionstel eines Jen oder Riu. Der Geld¬
verkehr war zur Zeit der Naturalwirtschaft in Japan naturgemäß verschwindend
gering. Aber die obige Einteilung ist selbst bei Berücksichtigung der Tatsache,
daß der Geldwert ständig sinkt, ein Beweis für die außerordentlich kleinen
Verhältnisse der ehemaligen japanischen Wirtschaft. Etwas lebhafter und


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/75>, abgerufen am 24.07.2024.