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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutsche Romane

gewissen Grade jeden Künstler an sich selbst messen -- aber auch da muß gesagt
werden, daß eben Thomas Mann, auch an seinem Besten gemessen, nicht empor-,
sondern herabgeglitten ist. Möglich, daß seine Gaben an Entfaltungskraft ver¬
loren, als er sie nicht mehr an heimatlichen Eindrücken (die die "Buddenbrooks"
schufen) erproben konnte. Jedenfalls wirkt "Königliche Hoheit" wie ein reines
Spiel, das uns häufig (hier paßt das Fremdwort) amüsiert, aber tiefern mensch¬
lichen Anteil nicht hervorruft. Abgesehen schon von zahlreichen, unnötigen Wieder¬
holungen, ist das Bild dieses kleinen Hofes und des Prinzen Klaus Heinrich
stark geziert aufgenommen, wie es da in einer Erzählung vor uns aufwächst, die
halb Hofbericht und halb leise durchklingende Satire ist. Man fühlt das Problem:
ein junger Fürst, den die Liebe zu einem seltsamen und klugen Mädchen von
dem lediglich repräsentativ aufgefaßten Beruf zu wirklicher nützlicher Tätigkeit
für das Land fortreißt -- aber es erstickt unter dem unnötigen Beiwerk, der Ver¬
fasser geniert sich gewissermaßen, es heraustreten zu lassen, er gelangt nicht zu
wirklicher Wärme, und wir behalten am Ende nur den mattfarbigen Abglanz
in Händen, während wir doch am farbigen Abglanz das Leben zu halten wünschten.

Es ist sehr leicht, im Verhältnis zu solchen literarischen Erscheinungen, wie
etwa Thomas Mann, Schriftsteller wie Rudolph Stratz glattweg als Unter¬
haltimgsschriftsteller zu bezeichnen; und doch wünschte man manchem unserer
berühmtesten Romandichter die straffe und sichere Kunst, gradhin zu erzählen,
wie sie Rudolph Stratz in seinem neuen Roman "Für Dich" (Stuttgart, Cotta)
übt. Zwei Ehegatten sind auseinander gegangen, er hat wieder geheiratet, sie
sich aufs neue verlobt. Sie trennten sich, weil zwei heiße Temperamente die
lodernden Flammen nicht zu still brennendem Herdfeuer einen konnten -- und
finden sich langsam wieder, zunächst zufällig zusammengekommen, dann am
Krankenbett und am Sarge des Kindes zueinander geführt, finden sich in einer
nun alle Schranken überschlagenden Leidenschaft. Und schließlich geht sie in
den Tod, um dem Mann, der Uniform, ruhige Häuslichkeit, Frau und Kinder
der zweiten Ehe für sie hinwerfen will, das alles und einen neuen, langsam
zu erkämpfenden Frieden zu erhalten. Das Buch ist, das sei ihm ausdrücklich
zum Lobe gesagt, sehr spannend, fesselnd von Anfang bis zu Ende, das Milieu
in seiner ruhigen Echtheit doch ganz nebensächlich, die aneinander empor¬
brandenden Charaktere durchaus die Hauptsache. Stratz besitzt die Gabe fast
aller unserer Offiziersschriftsteller, gut und klar zu sehen, auch das Detail zu
beobachten, bleibt aber nicht im Detail stecken, wie manchmal früher, sondern
wächst darüber hinaus, rein zur Beobachtung und Darstellung der Menschen.

Es war vielleicht zu keiner Zeit schwerer für den Romanschriftsteller, nicht
im Milieu stecken zu bleiben, als in unserer, die sich ja erst den Milieuroman
geschaffen hat, die in ihrem Streben nach Intimität jeden Umkreis, den der
Heimat wie den des Berufs, bis in die letzten Kleinheiten und Feinheiten zu
erfassen strebt. Der soziale Drang der achtziger und neunziger Jahre verband
sich da mit den ästhetischen Forderungen der Zeit und führte zu all den breiten
Schilderungen des Volkslebens aller Landschaften, aller Berufe, die, oft die
eigentliche Handlung überwuchernd, Roman auf Roman unserer Tage erfüllten.
Typisch sahen wir etwa bei dem Landwirt Wilhelm von Potenz, wie er im
"Pfarrer von Breitendorf" noch ganz in dem Allgemeinen, Flächigen stecken
blieb und erst in den beiden Landromanen, dem "Büttnerbauern" und dem
"Grabenhäger", den individuellen Kampf richtig in die Darstellung des All¬
gemeinen zu verflechten wußte. Und mehr als ein junges Talent gewann die
Sprungkraft erst, nachdem es den Boden der Heimat nach allen Richtungen hin


Deutsche Romane

gewissen Grade jeden Künstler an sich selbst messen — aber auch da muß gesagt
werden, daß eben Thomas Mann, auch an seinem Besten gemessen, nicht empor-,
sondern herabgeglitten ist. Möglich, daß seine Gaben an Entfaltungskraft ver¬
loren, als er sie nicht mehr an heimatlichen Eindrücken (die die „Buddenbrooks"
schufen) erproben konnte. Jedenfalls wirkt „Königliche Hoheit" wie ein reines
Spiel, das uns häufig (hier paßt das Fremdwort) amüsiert, aber tiefern mensch¬
lichen Anteil nicht hervorruft. Abgesehen schon von zahlreichen, unnötigen Wieder¬
holungen, ist das Bild dieses kleinen Hofes und des Prinzen Klaus Heinrich
stark geziert aufgenommen, wie es da in einer Erzählung vor uns aufwächst, die
halb Hofbericht und halb leise durchklingende Satire ist. Man fühlt das Problem:
ein junger Fürst, den die Liebe zu einem seltsamen und klugen Mädchen von
dem lediglich repräsentativ aufgefaßten Beruf zu wirklicher nützlicher Tätigkeit
für das Land fortreißt — aber es erstickt unter dem unnötigen Beiwerk, der Ver¬
fasser geniert sich gewissermaßen, es heraustreten zu lassen, er gelangt nicht zu
wirklicher Wärme, und wir behalten am Ende nur den mattfarbigen Abglanz
in Händen, während wir doch am farbigen Abglanz das Leben zu halten wünschten.

Es ist sehr leicht, im Verhältnis zu solchen literarischen Erscheinungen, wie
etwa Thomas Mann, Schriftsteller wie Rudolph Stratz glattweg als Unter¬
haltimgsschriftsteller zu bezeichnen; und doch wünschte man manchem unserer
berühmtesten Romandichter die straffe und sichere Kunst, gradhin zu erzählen,
wie sie Rudolph Stratz in seinem neuen Roman „Für Dich" (Stuttgart, Cotta)
übt. Zwei Ehegatten sind auseinander gegangen, er hat wieder geheiratet, sie
sich aufs neue verlobt. Sie trennten sich, weil zwei heiße Temperamente die
lodernden Flammen nicht zu still brennendem Herdfeuer einen konnten — und
finden sich langsam wieder, zunächst zufällig zusammengekommen, dann am
Krankenbett und am Sarge des Kindes zueinander geführt, finden sich in einer
nun alle Schranken überschlagenden Leidenschaft. Und schließlich geht sie in
den Tod, um dem Mann, der Uniform, ruhige Häuslichkeit, Frau und Kinder
der zweiten Ehe für sie hinwerfen will, das alles und einen neuen, langsam
zu erkämpfenden Frieden zu erhalten. Das Buch ist, das sei ihm ausdrücklich
zum Lobe gesagt, sehr spannend, fesselnd von Anfang bis zu Ende, das Milieu
in seiner ruhigen Echtheit doch ganz nebensächlich, die aneinander empor¬
brandenden Charaktere durchaus die Hauptsache. Stratz besitzt die Gabe fast
aller unserer Offiziersschriftsteller, gut und klar zu sehen, auch das Detail zu
beobachten, bleibt aber nicht im Detail stecken, wie manchmal früher, sondern
wächst darüber hinaus, rein zur Beobachtung und Darstellung der Menschen.

Es war vielleicht zu keiner Zeit schwerer für den Romanschriftsteller, nicht
im Milieu stecken zu bleiben, als in unserer, die sich ja erst den Milieuroman
geschaffen hat, die in ihrem Streben nach Intimität jeden Umkreis, den der
Heimat wie den des Berufs, bis in die letzten Kleinheiten und Feinheiten zu
erfassen strebt. Der soziale Drang der achtziger und neunziger Jahre verband
sich da mit den ästhetischen Forderungen der Zeit und führte zu all den breiten
Schilderungen des Volkslebens aller Landschaften, aller Berufe, die, oft die
eigentliche Handlung überwuchernd, Roman auf Roman unserer Tage erfüllten.
Typisch sahen wir etwa bei dem Landwirt Wilhelm von Potenz, wie er im
„Pfarrer von Breitendorf" noch ganz in dem Allgemeinen, Flächigen stecken
blieb und erst in den beiden Landromanen, dem „Büttnerbauern" und dem
„Grabenhäger", den individuellen Kampf richtig in die Darstellung des All¬
gemeinen zu verflechten wußte. Und mehr als ein junges Talent gewann die
Sprungkraft erst, nachdem es den Boden der Heimat nach allen Richtungen hin


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[0070] Deutsche Romane gewissen Grade jeden Künstler an sich selbst messen — aber auch da muß gesagt werden, daß eben Thomas Mann, auch an seinem Besten gemessen, nicht empor-, sondern herabgeglitten ist. Möglich, daß seine Gaben an Entfaltungskraft ver¬ loren, als er sie nicht mehr an heimatlichen Eindrücken (die die „Buddenbrooks" schufen) erproben konnte. Jedenfalls wirkt „Königliche Hoheit" wie ein reines Spiel, das uns häufig (hier paßt das Fremdwort) amüsiert, aber tiefern mensch¬ lichen Anteil nicht hervorruft. Abgesehen schon von zahlreichen, unnötigen Wieder¬ holungen, ist das Bild dieses kleinen Hofes und des Prinzen Klaus Heinrich stark geziert aufgenommen, wie es da in einer Erzählung vor uns aufwächst, die halb Hofbericht und halb leise durchklingende Satire ist. Man fühlt das Problem: ein junger Fürst, den die Liebe zu einem seltsamen und klugen Mädchen von dem lediglich repräsentativ aufgefaßten Beruf zu wirklicher nützlicher Tätigkeit für das Land fortreißt — aber es erstickt unter dem unnötigen Beiwerk, der Ver¬ fasser geniert sich gewissermaßen, es heraustreten zu lassen, er gelangt nicht zu wirklicher Wärme, und wir behalten am Ende nur den mattfarbigen Abglanz in Händen, während wir doch am farbigen Abglanz das Leben zu halten wünschten. Es ist sehr leicht, im Verhältnis zu solchen literarischen Erscheinungen, wie etwa Thomas Mann, Schriftsteller wie Rudolph Stratz glattweg als Unter¬ haltimgsschriftsteller zu bezeichnen; und doch wünschte man manchem unserer berühmtesten Romandichter die straffe und sichere Kunst, gradhin zu erzählen, wie sie Rudolph Stratz in seinem neuen Roman „Für Dich" (Stuttgart, Cotta) übt. Zwei Ehegatten sind auseinander gegangen, er hat wieder geheiratet, sie sich aufs neue verlobt. Sie trennten sich, weil zwei heiße Temperamente die lodernden Flammen nicht zu still brennendem Herdfeuer einen konnten — und finden sich langsam wieder, zunächst zufällig zusammengekommen, dann am Krankenbett und am Sarge des Kindes zueinander geführt, finden sich in einer nun alle Schranken überschlagenden Leidenschaft. Und schließlich geht sie in den Tod, um dem Mann, der Uniform, ruhige Häuslichkeit, Frau und Kinder der zweiten Ehe für sie hinwerfen will, das alles und einen neuen, langsam zu erkämpfenden Frieden zu erhalten. Das Buch ist, das sei ihm ausdrücklich zum Lobe gesagt, sehr spannend, fesselnd von Anfang bis zu Ende, das Milieu in seiner ruhigen Echtheit doch ganz nebensächlich, die aneinander empor¬ brandenden Charaktere durchaus die Hauptsache. Stratz besitzt die Gabe fast aller unserer Offiziersschriftsteller, gut und klar zu sehen, auch das Detail zu beobachten, bleibt aber nicht im Detail stecken, wie manchmal früher, sondern wächst darüber hinaus, rein zur Beobachtung und Darstellung der Menschen. Es war vielleicht zu keiner Zeit schwerer für den Romanschriftsteller, nicht im Milieu stecken zu bleiben, als in unserer, die sich ja erst den Milieuroman geschaffen hat, die in ihrem Streben nach Intimität jeden Umkreis, den der Heimat wie den des Berufs, bis in die letzten Kleinheiten und Feinheiten zu erfassen strebt. Der soziale Drang der achtziger und neunziger Jahre verband sich da mit den ästhetischen Forderungen der Zeit und führte zu all den breiten Schilderungen des Volkslebens aller Landschaften, aller Berufe, die, oft die eigentliche Handlung überwuchernd, Roman auf Roman unserer Tage erfüllten. Typisch sahen wir etwa bei dem Landwirt Wilhelm von Potenz, wie er im „Pfarrer von Breitendorf" noch ganz in dem Allgemeinen, Flächigen stecken blieb und erst in den beiden Landromanen, dem „Büttnerbauern" und dem „Grabenhäger", den individuellen Kampf richtig in die Darstellung des All¬ gemeinen zu verflechten wußte. Und mehr als ein junges Talent gewann die Sprungkraft erst, nachdem es den Boden der Heimat nach allen Richtungen hin

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/70>, abgerufen am 22.12.2024.