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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Deutschtum und Schweiz

auch der empfindlichste Schweizer uns Reichsdeutschen nicht übelnehmen, wenn wir
die Frage unter die Lupe nshmen, ob die Weiterentwicklung des schweizerischen
Staates zu einer "Nation" für uns wünschenswert erscheint oder nicht, und im
letzteren Falle, ob wir Mittel haben, die "nations"werdung der Schweiz zu
verhindern.

Das deutsche Volk ist ein Kulturvolk ersten Ranges. Diesen Rang zu
behaupten wird für uns um so leichter sein, je größer unsere Zahl ist. Die
Höchstleistungen in Kunst und Wissenschaft, die staatsmännische Begabung eines
Bismarck, die Leistungen eines Zeppelin, alles das kommt so selten vor, daß
ein Volk, auch ein begabtes Volk, über eine sehr große Zahl von Menschen
verfügen muß, wenn seine Leistungen für die Menschheit ihm den Ehrenplatz
eines führenden Volkes sichern sollen. Eine Ausnahme von dieser Regel machten
wohl nur die alten Griechen. Die Bevölkerung Griechenlands war gewiß nicht
so zahlreich wie die heutige der Schweiz, und doch hat diese Handvoll Menschen
eine geradezu erstaunliche Fülle von Geistern allerersten Ranges hervorgebracht.
Freilich, das hochauflodernde Feuer ist sehr bald wieder in sich zusammen¬
gesunken und dann ganz erloschen. So fabelhaft begabt nun wie die Griechen
zur Zeit des Plato und Aeschvlus, des Phidias und Praxiteles sind wir
Teutsche leider nicht. Deshalb kann es uns nur mit Schmerz und Besorgnis
erfüllen, wenn ein Teil unseres Volkes sich von der deutschen Geisteswelt ablösen
will, um in Zukunft nicht mehr wie bisher seine Gottfried Keller und Böcklin,
seine Johannes Müller, Albrecht von Haller, Pestalozzi und Lavater unter die
Erschaffer der deutschen Kultur einzureihen, sondern sie als Erzeuger einer
anderen, einer schweizerischen Kultur zu verwenden.

Was wir Deutsche in Europa und in der ganzen Welt zu bedeuten haben,
hängt aber nicht bloß von der Schöpferkraft unserer Denker, Dichter, Forscher
und Erfinder ab, sondern auch von der Menschenzahl, die unsere Sprache spricht.
Das auszuführen, wird wohl kaum nötig sein. Wenn ein Schriftsteller in deutscher
Sprache ein gutes Buch schreibt, so hat er Leser, soweit die deutsche Zunge klingt;
sein Wirkungskreis wächst und schrumpft genau so wie das deutsche Sprachgebiet.
Ferner, der Handel folgt nicht bloß der Flagge, sondern vor allem der Sprache;
hier in der mehrsprachigen Schweiz ist das mit Händen zu greifen. Die Ver¬
breitung unserer Sprache bedeutet also Verbreitung unseres Einflusses und Mehrung
unseres Reichtums, d. h. unserer Macht. Wenn wir das berücksichtigen, so enthüllt
sich uns ein weiterer Grund, die Loslösung der Deutschschweizer von dem geistigen
Deutschland zu bedauern, denn diese Ablösung, die Entstehung einer schweize¬
rischen "Nation", könnte sich nur auf Kosten der deutschen Sprache
vollziehen.

Um dies klar zu machen, müssen wir etwas weiter ausholen. Die Be¬
völkerung der Schweiz besteht bekanntlich aus 71 Prozent Deutschen, ans
26 Prozent Franzosen und aus etwa 6 Prozent Italienern, Ladinern und
Romanschen. Die Deutschen haben die Schweiz geschaffen und man kann wohl


Deutschtum und Schweiz

auch der empfindlichste Schweizer uns Reichsdeutschen nicht übelnehmen, wenn wir
die Frage unter die Lupe nshmen, ob die Weiterentwicklung des schweizerischen
Staates zu einer „Nation" für uns wünschenswert erscheint oder nicht, und im
letzteren Falle, ob wir Mittel haben, die „nations"werdung der Schweiz zu
verhindern.

Das deutsche Volk ist ein Kulturvolk ersten Ranges. Diesen Rang zu
behaupten wird für uns um so leichter sein, je größer unsere Zahl ist. Die
Höchstleistungen in Kunst und Wissenschaft, die staatsmännische Begabung eines
Bismarck, die Leistungen eines Zeppelin, alles das kommt so selten vor, daß
ein Volk, auch ein begabtes Volk, über eine sehr große Zahl von Menschen
verfügen muß, wenn seine Leistungen für die Menschheit ihm den Ehrenplatz
eines führenden Volkes sichern sollen. Eine Ausnahme von dieser Regel machten
wohl nur die alten Griechen. Die Bevölkerung Griechenlands war gewiß nicht
so zahlreich wie die heutige der Schweiz, und doch hat diese Handvoll Menschen
eine geradezu erstaunliche Fülle von Geistern allerersten Ranges hervorgebracht.
Freilich, das hochauflodernde Feuer ist sehr bald wieder in sich zusammen¬
gesunken und dann ganz erloschen. So fabelhaft begabt nun wie die Griechen
zur Zeit des Plato und Aeschvlus, des Phidias und Praxiteles sind wir
Teutsche leider nicht. Deshalb kann es uns nur mit Schmerz und Besorgnis
erfüllen, wenn ein Teil unseres Volkes sich von der deutschen Geisteswelt ablösen
will, um in Zukunft nicht mehr wie bisher seine Gottfried Keller und Böcklin,
seine Johannes Müller, Albrecht von Haller, Pestalozzi und Lavater unter die
Erschaffer der deutschen Kultur einzureihen, sondern sie als Erzeuger einer
anderen, einer schweizerischen Kultur zu verwenden.

Was wir Deutsche in Europa und in der ganzen Welt zu bedeuten haben,
hängt aber nicht bloß von der Schöpferkraft unserer Denker, Dichter, Forscher
und Erfinder ab, sondern auch von der Menschenzahl, die unsere Sprache spricht.
Das auszuführen, wird wohl kaum nötig sein. Wenn ein Schriftsteller in deutscher
Sprache ein gutes Buch schreibt, so hat er Leser, soweit die deutsche Zunge klingt;
sein Wirkungskreis wächst und schrumpft genau so wie das deutsche Sprachgebiet.
Ferner, der Handel folgt nicht bloß der Flagge, sondern vor allem der Sprache;
hier in der mehrsprachigen Schweiz ist das mit Händen zu greifen. Die Ver¬
breitung unserer Sprache bedeutet also Verbreitung unseres Einflusses und Mehrung
unseres Reichtums, d. h. unserer Macht. Wenn wir das berücksichtigen, so enthüllt
sich uns ein weiterer Grund, die Loslösung der Deutschschweizer von dem geistigen
Deutschland zu bedauern, denn diese Ablösung, die Entstehung einer schweize¬
rischen „Nation", könnte sich nur auf Kosten der deutschen Sprache
vollziehen.

Um dies klar zu machen, müssen wir etwas weiter ausholen. Die Be¬
völkerung der Schweiz besteht bekanntlich aus 71 Prozent Deutschen, ans
26 Prozent Franzosen und aus etwa 6 Prozent Italienern, Ladinern und
Romanschen. Die Deutschen haben die Schweiz geschaffen und man kann wohl


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/513>, abgerufen am 22.12.2024.