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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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" Hellas und Wilamowitz

Orest "llsstößt, als ihm der Wagen seiner Seele zu entgleisen droht: "Solange
ich noch bei Sinnen bin, verkündige ich den Freunden und ich sage, daß ich die
Mutter tötete nicht ohne Recht, sie, die vatermordende Befleckung und der
Götter Haß." (V. 1027.) Und angesichts dieser Szene wagt Wilamowitz zu
behaupten: "Schon indem er es tut, weiß er, daß es Sünde ist," wagt
pathetisch zu verkünden, daß Orestes "bis zum Zittern des armen Sünders die
ganze Skala der Gefühle durchläuft". Nicht laut genug kann man in solche
Ohren schreien: Den Griechen der tragischen Kultur war der Armesündergeruch
ekelhaft.

In Hellas war in den Zeiten des Heraklit und Parmenides die Höhe
und der Herrschaftsbereich des Geistes ins Unerhörte gesteigert. Welt, Götter
und Seele wurden ein Spiel in den Händen der Weisen. Ihre Religion hob
sich zur letzten Höhe, denn im Dienste des Dionysos wurden die Ergriffenen
eins mit' dem Gott, selbst zum Gott. Die Tragiker, diese Gewalt des Dionysos
aufnehmend und sie bändigend durch die klaren Formen des Apollon, brauchten
vor den höchsten Zielen nicht zu zagen. Wie auf den Parthenonfriesen Mensch
und Gott auf derselben Ebene stehen, so leben die tragischen Helden ein
göttliches Leben. Durch größere Macht und Unsterblichkeit sind die Götter aus¬
gezeichnet, aber an Würde stehen die Helden nicht zurück. Vor der Tat schwankt
Orestes, aber als die Erinnyen ihn schon Hetzen, ist er den Göttern gegenüber
noch stolz. Von Apollon fordert er Hilfe, von Athene Recht, nicht Gnade.
Den Erinnyen gegenüber vertritt er selbstbewußt den Mord, den doch Apollon
veranlaßte. Gerade Orestes ist ein Beweis dafür, daß Leiden und Fall
gar nicht notwendig zum Wesen des tragischen Helden gehören- um so mehr
gehört dies Gefühl "den Göttern gleich' ich" dazu.

In allen Dramen des Aischylos und Sophokles sind die Helden von diesem
tragischen Stolz getragen, der ihnen verbietet, wenn sie in Gefahr sind, die
Götter um Gnade zu flehn oder gar sie durch Reue zu versöhnen. Nur an
Mas mag noch erinnert sein. Sein jugendlicher Ehrgeiz war gewesen, ohne
die Hilfe der Götter unsterblichen Ruhm zu gewinnen. (V. 767.) Mit unerbitt¬
lichem Stolze verläßt er Freunde, Geliebte und Sohn, als er gescheitert ist.
Und doch sind ihm die milderen Regungen einer christlichen Moral nicht fremd;
sonst hätte er sie nicht so schön vortäuschen können, als er die Einsamkeit zu
würdigen: Tode sucht. (V. 650.) Odysseus ist in seinem ritterlichen Ethos edler
als die göttliche Hasserin Athene: Er haßte, solange es edel war zu hassen,
aber seine Feindschaft weicht vor der Rittertugend ("f>^) des Helden. (V. 1357.)
Um den unbeugsamen Stolz und ruhigen Edelsinn dieses Rittertums zu verstehen,
darf man nicht die Frage aufwerfen, ob vorchristlich oder christlich; man muß
empfinden, daß hier wundervolle Epochen des Menschentums ihre gesteigerten
Lebensformen offenbaren.

Man soll Wilamowitz nicht tadeln, daß er die Größe und Härte eines
solchen Ethos nicht aufzufassen vermag. Aber es ist wohl erlaubt, etwa am


» Hellas und Wilamowitz

Orest «llsstößt, als ihm der Wagen seiner Seele zu entgleisen droht: „Solange
ich noch bei Sinnen bin, verkündige ich den Freunden und ich sage, daß ich die
Mutter tötete nicht ohne Recht, sie, die vatermordende Befleckung und der
Götter Haß." (V. 1027.) Und angesichts dieser Szene wagt Wilamowitz zu
behaupten: „Schon indem er es tut, weiß er, daß es Sünde ist," wagt
pathetisch zu verkünden, daß Orestes „bis zum Zittern des armen Sünders die
ganze Skala der Gefühle durchläuft". Nicht laut genug kann man in solche
Ohren schreien: Den Griechen der tragischen Kultur war der Armesündergeruch
ekelhaft.

In Hellas war in den Zeiten des Heraklit und Parmenides die Höhe
und der Herrschaftsbereich des Geistes ins Unerhörte gesteigert. Welt, Götter
und Seele wurden ein Spiel in den Händen der Weisen. Ihre Religion hob
sich zur letzten Höhe, denn im Dienste des Dionysos wurden die Ergriffenen
eins mit' dem Gott, selbst zum Gott. Die Tragiker, diese Gewalt des Dionysos
aufnehmend und sie bändigend durch die klaren Formen des Apollon, brauchten
vor den höchsten Zielen nicht zu zagen. Wie auf den Parthenonfriesen Mensch
und Gott auf derselben Ebene stehen, so leben die tragischen Helden ein
göttliches Leben. Durch größere Macht und Unsterblichkeit sind die Götter aus¬
gezeichnet, aber an Würde stehen die Helden nicht zurück. Vor der Tat schwankt
Orestes, aber als die Erinnyen ihn schon Hetzen, ist er den Göttern gegenüber
noch stolz. Von Apollon fordert er Hilfe, von Athene Recht, nicht Gnade.
Den Erinnyen gegenüber vertritt er selbstbewußt den Mord, den doch Apollon
veranlaßte. Gerade Orestes ist ein Beweis dafür, daß Leiden und Fall
gar nicht notwendig zum Wesen des tragischen Helden gehören- um so mehr
gehört dies Gefühl „den Göttern gleich' ich" dazu.

In allen Dramen des Aischylos und Sophokles sind die Helden von diesem
tragischen Stolz getragen, der ihnen verbietet, wenn sie in Gefahr sind, die
Götter um Gnade zu flehn oder gar sie durch Reue zu versöhnen. Nur an
Mas mag noch erinnert sein. Sein jugendlicher Ehrgeiz war gewesen, ohne
die Hilfe der Götter unsterblichen Ruhm zu gewinnen. (V. 767.) Mit unerbitt¬
lichem Stolze verläßt er Freunde, Geliebte und Sohn, als er gescheitert ist.
Und doch sind ihm die milderen Regungen einer christlichen Moral nicht fremd;
sonst hätte er sie nicht so schön vortäuschen können, als er die Einsamkeit zu
würdigen: Tode sucht. (V. 650.) Odysseus ist in seinem ritterlichen Ethos edler
als die göttliche Hasserin Athene: Er haßte, solange es edel war zu hassen,
aber seine Feindschaft weicht vor der Rittertugend («f>^) des Helden. (V. 1357.)
Um den unbeugsamen Stolz und ruhigen Edelsinn dieses Rittertums zu verstehen,
darf man nicht die Frage aufwerfen, ob vorchristlich oder christlich; man muß
empfinden, daß hier wundervolle Epochen des Menschentums ihre gesteigerten
Lebensformen offenbaren.

Man soll Wilamowitz nicht tadeln, daß er die Größe und Härte eines
solchen Ethos nicht aufzufassen vermag. Aber es ist wohl erlaubt, etwa am


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[0428] » Hellas und Wilamowitz Orest «llsstößt, als ihm der Wagen seiner Seele zu entgleisen droht: „Solange ich noch bei Sinnen bin, verkündige ich den Freunden und ich sage, daß ich die Mutter tötete nicht ohne Recht, sie, die vatermordende Befleckung und der Götter Haß." (V. 1027.) Und angesichts dieser Szene wagt Wilamowitz zu behaupten: „Schon indem er es tut, weiß er, daß es Sünde ist," wagt pathetisch zu verkünden, daß Orestes „bis zum Zittern des armen Sünders die ganze Skala der Gefühle durchläuft". Nicht laut genug kann man in solche Ohren schreien: Den Griechen der tragischen Kultur war der Armesündergeruch ekelhaft. In Hellas war in den Zeiten des Heraklit und Parmenides die Höhe und der Herrschaftsbereich des Geistes ins Unerhörte gesteigert. Welt, Götter und Seele wurden ein Spiel in den Händen der Weisen. Ihre Religion hob sich zur letzten Höhe, denn im Dienste des Dionysos wurden die Ergriffenen eins mit' dem Gott, selbst zum Gott. Die Tragiker, diese Gewalt des Dionysos aufnehmend und sie bändigend durch die klaren Formen des Apollon, brauchten vor den höchsten Zielen nicht zu zagen. Wie auf den Parthenonfriesen Mensch und Gott auf derselben Ebene stehen, so leben die tragischen Helden ein göttliches Leben. Durch größere Macht und Unsterblichkeit sind die Götter aus¬ gezeichnet, aber an Würde stehen die Helden nicht zurück. Vor der Tat schwankt Orestes, aber als die Erinnyen ihn schon Hetzen, ist er den Göttern gegenüber noch stolz. Von Apollon fordert er Hilfe, von Athene Recht, nicht Gnade. Den Erinnyen gegenüber vertritt er selbstbewußt den Mord, den doch Apollon veranlaßte. Gerade Orestes ist ein Beweis dafür, daß Leiden und Fall gar nicht notwendig zum Wesen des tragischen Helden gehören- um so mehr gehört dies Gefühl „den Göttern gleich' ich" dazu. In allen Dramen des Aischylos und Sophokles sind die Helden von diesem tragischen Stolz getragen, der ihnen verbietet, wenn sie in Gefahr sind, die Götter um Gnade zu flehn oder gar sie durch Reue zu versöhnen. Nur an Mas mag noch erinnert sein. Sein jugendlicher Ehrgeiz war gewesen, ohne die Hilfe der Götter unsterblichen Ruhm zu gewinnen. (V. 767.) Mit unerbitt¬ lichem Stolze verläßt er Freunde, Geliebte und Sohn, als er gescheitert ist. Und doch sind ihm die milderen Regungen einer christlichen Moral nicht fremd; sonst hätte er sie nicht so schön vortäuschen können, als er die Einsamkeit zu würdigen: Tode sucht. (V. 650.) Odysseus ist in seinem ritterlichen Ethos edler als die göttliche Hasserin Athene: Er haßte, solange es edel war zu hassen, aber seine Feindschaft weicht vor der Rittertugend («f>^) des Helden. (V. 1357.) Um den unbeugsamen Stolz und ruhigen Edelsinn dieses Rittertums zu verstehen, darf man nicht die Frage aufwerfen, ob vorchristlich oder christlich; man muß empfinden, daß hier wundervolle Epochen des Menschentums ihre gesteigerten Lebensformen offenbaren. Man soll Wilamowitz nicht tadeln, daß er die Größe und Härte eines solchen Ethos nicht aufzufassen vermag. Aber es ist wohl erlaubt, etwa am

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/428>, abgerufen am 04.07.2024.