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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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-dum siebzigsten Geburtstage Btto Liebniauus

bedeutsamen Verdienste erworben hat, so war die Naturphilosophie das zweite
Gebiet, das er in tiefgreifender Weise bearbeitet hat. Aber er ist hier nicht
stehen geblieben; er hat weiter tätigen Anteil genommen an der Vertiefung der
philosophischen Kultur des Zeitalters. Nach längerer, nur durch einige kleinere
Publikationen unterbrochener Pause erschien 1899 die "Weltwanderung" und
bald darauf der zweite Band der "Gedanken und Tatsachen" -- Werke, die
wieder prinzipiell Neues zu sagen haben: das ethische Problem ist erheblich
über das in der "Analysis" Gesagte hinausgeführt, und das Problem der
Geschichtsphilosophie ist zum erstenmal in zusammenhängender, an originalen
Gesichtspunkten reicher Weise behandelt. Vernunft und Liebe trete" Verehrung
fordernd als die beiden Mächte hervor, die den Menschen über sich selbst erhebeu,
die den Sinn des Daseins in sich schließen. Dies ist das dritte Hauptthema
der Philosophie Liebmanns.

Überblickt man so das Schaffen Liebmanns, so sieht man, daß er nie
stehen geblieben ist. Mit seinen Arbeiten ist immer auch sein Ziel vorwärts
gerückt. Und ganz erstaunlich ist die Sicherheit, mit der er seinen philosophischen
Weg gegangen ist: er hat nichts zurückzunehmen gehabt von dem früher Gesagten.
Die späteren Auflagen seiner Werke sind hin und wieder erweitert; aber nur
selten ist ein Satz verändert, und nirgends greifen die Veränderungen tief.
In aller Entwicklung hat er derselbe bleiben können, der er war, als er 1865
zum erstenmal in der literarischen Welt auftrat. Mit einem tiefen und frucht¬
baren Gedanken hat er seine Schriftstellerlaufbahn begonnen, und diesen Gedanken
hat er mit eiserner Energie festgehalten, hat ihn durchgedacht und sich dann
den neuen Problemen zugewandt, die sich gerade dadurch stellten, daß jener zu
Ende gedacht war: so führte ihn der Weg mit einer Art dialektischer Not¬
wendigkeit von der Erkenntnistheorie zur Naturphilosophie und weiter zur Ethik
und Geschichtsphilosophie; doch so, daß die Themata der früheren Jahre ihr
Interesse und ihre Bedeutung nicht verlieren: noch in den um die Jahrhundert¬
wende erschienenen Heften der "Gedanken und Tatsachen" sind erkenntnis¬
theoretische und naturphilosophische Probleme behandelt.

Daß Liebmann in solcher Weise die vor langen Jahren geschriebenen
Werke auch heute noch festhalten kann, verdankt er vor allem der strengen
Selbstzucht, mit der er von Anfang an gearbeitet hat. Es entspricht gewiß der
Wahrheit, wenn er in: Vorwort zur ersten Auflage der "Analysis" versichert,
er habe sich ^nur schwer zu dieser Vermehrung der philosophischen Literatur
entschlossen. Er haßt die laute, reklamesüchtige, leere Betriebsamkeit des Schwätzers.
Auch auf dem Katheder ist jedes Wort erwogen. So meisterhaft er zu reden
weiß: man merkt es ihm immer an, daß er den hohen Wert des Schweigens
durch lange Jahre hindurch erprobt und das Schweigen lieb gewonnen hat.
Darum erscheint er als sein M höchsten Sinne vornehmer Charakter. Schon
in der Schrift "Kant und die Epigonen" fordert der Fünfundzwanzigjährige
von jedem wahren Philosophen eine "immer und überall fragende" Geistes-


-dum siebzigsten Geburtstage Btto Liebniauus

bedeutsamen Verdienste erworben hat, so war die Naturphilosophie das zweite
Gebiet, das er in tiefgreifender Weise bearbeitet hat. Aber er ist hier nicht
stehen geblieben; er hat weiter tätigen Anteil genommen an der Vertiefung der
philosophischen Kultur des Zeitalters. Nach längerer, nur durch einige kleinere
Publikationen unterbrochener Pause erschien 1899 die „Weltwanderung" und
bald darauf der zweite Band der „Gedanken und Tatsachen" — Werke, die
wieder prinzipiell Neues zu sagen haben: das ethische Problem ist erheblich
über das in der „Analysis" Gesagte hinausgeführt, und das Problem der
Geschichtsphilosophie ist zum erstenmal in zusammenhängender, an originalen
Gesichtspunkten reicher Weise behandelt. Vernunft und Liebe trete» Verehrung
fordernd als die beiden Mächte hervor, die den Menschen über sich selbst erhebeu,
die den Sinn des Daseins in sich schließen. Dies ist das dritte Hauptthema
der Philosophie Liebmanns.

Überblickt man so das Schaffen Liebmanns, so sieht man, daß er nie
stehen geblieben ist. Mit seinen Arbeiten ist immer auch sein Ziel vorwärts
gerückt. Und ganz erstaunlich ist die Sicherheit, mit der er seinen philosophischen
Weg gegangen ist: er hat nichts zurückzunehmen gehabt von dem früher Gesagten.
Die späteren Auflagen seiner Werke sind hin und wieder erweitert; aber nur
selten ist ein Satz verändert, und nirgends greifen die Veränderungen tief.
In aller Entwicklung hat er derselbe bleiben können, der er war, als er 1865
zum erstenmal in der literarischen Welt auftrat. Mit einem tiefen und frucht¬
baren Gedanken hat er seine Schriftstellerlaufbahn begonnen, und diesen Gedanken
hat er mit eiserner Energie festgehalten, hat ihn durchgedacht und sich dann
den neuen Problemen zugewandt, die sich gerade dadurch stellten, daß jener zu
Ende gedacht war: so führte ihn der Weg mit einer Art dialektischer Not¬
wendigkeit von der Erkenntnistheorie zur Naturphilosophie und weiter zur Ethik
und Geschichtsphilosophie; doch so, daß die Themata der früheren Jahre ihr
Interesse und ihre Bedeutung nicht verlieren: noch in den um die Jahrhundert¬
wende erschienenen Heften der „Gedanken und Tatsachen" sind erkenntnis¬
theoretische und naturphilosophische Probleme behandelt.

Daß Liebmann in solcher Weise die vor langen Jahren geschriebenen
Werke auch heute noch festhalten kann, verdankt er vor allem der strengen
Selbstzucht, mit der er von Anfang an gearbeitet hat. Es entspricht gewiß der
Wahrheit, wenn er in: Vorwort zur ersten Auflage der „Analysis" versichert,
er habe sich ^nur schwer zu dieser Vermehrung der philosophischen Literatur
entschlossen. Er haßt die laute, reklamesüchtige, leere Betriebsamkeit des Schwätzers.
Auch auf dem Katheder ist jedes Wort erwogen. So meisterhaft er zu reden
weiß: man merkt es ihm immer an, daß er den hohen Wert des Schweigens
durch lange Jahre hindurch erprobt und das Schweigen lieb gewonnen hat.
Darum erscheint er als sein M höchsten Sinne vornehmer Charakter. Schon
in der Schrift „Kant und die Epigonen" fordert der Fünfundzwanzigjährige
von jedem wahren Philosophen eine „immer und überall fragende" Geistes-


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[0422] -dum siebzigsten Geburtstage Btto Liebniauus bedeutsamen Verdienste erworben hat, so war die Naturphilosophie das zweite Gebiet, das er in tiefgreifender Weise bearbeitet hat. Aber er ist hier nicht stehen geblieben; er hat weiter tätigen Anteil genommen an der Vertiefung der philosophischen Kultur des Zeitalters. Nach längerer, nur durch einige kleinere Publikationen unterbrochener Pause erschien 1899 die „Weltwanderung" und bald darauf der zweite Band der „Gedanken und Tatsachen" — Werke, die wieder prinzipiell Neues zu sagen haben: das ethische Problem ist erheblich über das in der „Analysis" Gesagte hinausgeführt, und das Problem der Geschichtsphilosophie ist zum erstenmal in zusammenhängender, an originalen Gesichtspunkten reicher Weise behandelt. Vernunft und Liebe trete» Verehrung fordernd als die beiden Mächte hervor, die den Menschen über sich selbst erhebeu, die den Sinn des Daseins in sich schließen. Dies ist das dritte Hauptthema der Philosophie Liebmanns. Überblickt man so das Schaffen Liebmanns, so sieht man, daß er nie stehen geblieben ist. Mit seinen Arbeiten ist immer auch sein Ziel vorwärts gerückt. Und ganz erstaunlich ist die Sicherheit, mit der er seinen philosophischen Weg gegangen ist: er hat nichts zurückzunehmen gehabt von dem früher Gesagten. Die späteren Auflagen seiner Werke sind hin und wieder erweitert; aber nur selten ist ein Satz verändert, und nirgends greifen die Veränderungen tief. In aller Entwicklung hat er derselbe bleiben können, der er war, als er 1865 zum erstenmal in der literarischen Welt auftrat. Mit einem tiefen und frucht¬ baren Gedanken hat er seine Schriftstellerlaufbahn begonnen, und diesen Gedanken hat er mit eiserner Energie festgehalten, hat ihn durchgedacht und sich dann den neuen Problemen zugewandt, die sich gerade dadurch stellten, daß jener zu Ende gedacht war: so führte ihn der Weg mit einer Art dialektischer Not¬ wendigkeit von der Erkenntnistheorie zur Naturphilosophie und weiter zur Ethik und Geschichtsphilosophie; doch so, daß die Themata der früheren Jahre ihr Interesse und ihre Bedeutung nicht verlieren: noch in den um die Jahrhundert¬ wende erschienenen Heften der „Gedanken und Tatsachen" sind erkenntnis¬ theoretische und naturphilosophische Probleme behandelt. Daß Liebmann in solcher Weise die vor langen Jahren geschriebenen Werke auch heute noch festhalten kann, verdankt er vor allem der strengen Selbstzucht, mit der er von Anfang an gearbeitet hat. Es entspricht gewiß der Wahrheit, wenn er in: Vorwort zur ersten Auflage der „Analysis" versichert, er habe sich ^nur schwer zu dieser Vermehrung der philosophischen Literatur entschlossen. Er haßt die laute, reklamesüchtige, leere Betriebsamkeit des Schwätzers. Auch auf dem Katheder ist jedes Wort erwogen. So meisterhaft er zu reden weiß: man merkt es ihm immer an, daß er den hohen Wert des Schweigens durch lange Jahre hindurch erprobt und das Schweigen lieb gewonnen hat. Darum erscheint er als sein M höchsten Sinne vornehmer Charakter. Schon in der Schrift „Kant und die Epigonen" fordert der Fünfundzwanzigjährige von jedem wahren Philosophen eine „immer und überall fragende" Geistes-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/422>, abgerufen am 24.07.2024.