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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Georg Freiherr von hertling

theistisch - teleologischen Weltanschauung die volle wissenschaftliche Berechtigung
zukomme. Er tritt aufs entschiedenste für sie ein und glaubt, das Ziel der
Einheit suchenden Vernunft in der Einheit der schöpferischen, mit Macht und
Weisheit ausgestatteten Ursache gefunden zu haben, soweit es eben die allgemeinen
Schranken unserer Erkenntnis zulassen. Er verhehlt sich nämlich nicht, daß wir
niemals zu einem adäquaten Begriffe der Wesenheit des einheitlichen geistigen
Grundes alles Seins gelangen, von dem göttlichen Urwesen nur das Daß
behaupten können, ohne das Was oder Wie im mindesten zu verstehen; sind
wir doch Menschen, und Goethe hat einmal sehr treffend gesagt: "Der Mensch
begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist." Daraus folgt, daß die teleo-
logische Weltansicht in ihrer Durchführung lückenhaft bleibt und bleiben muß.
Es geht uns mit ihr, wie Hertling sehr schön sagt, wie dem Wanderer, der
den höchsten Punkt einer Bergkette erstiegen hat. "Wohl sieht er jetzt weit über
die Bergwände hinaus, die unten im Tale seinem Auge sich undurchdringlich
entgegenstellten, wohl erblickt er die einzelnen hervorragenden Spitzen, die das
Licht der Sonne erhellt, aber in das Dunkel der Täter vermag sein Blick nicht
hineinzubringen, und es gelingt ihm nicht, den Lauf ihrer vielfach gewundenen
Krümmungen im Zusammenhange zu erkennen." Wir können nicht zweifeln,
daß die Welt und die Dinge um eitles Zweckes willen da sind, und wo wir
das Einzelne in seinem Entstehen und der Zusammenordnung seiner Teile
betrachten, finden wir es deutlich von Zwecken beherrscht. Aber die Fäden
fehlen uns, die diese Einzelzwecke mit dein Ziele des Ganzen ausreichend ver¬
knüpfen.

Hertlings Lieblingsstudium ist nächst der aristotelischen die mittelalterliche
Philosophie. 1871 erschien die Studie über "Materie und Form und die
Definition der Seele bei Aristoteles", an der Eduard Zeller in der
"Philosophie der Griechen" (Dritte Auflage 1879. II. 2, S. 312) manches
auszusetzen faud. Sie ist eine Ergänzung zu Franz Brentanos scharf¬
sinnigen und inhaltsreichem Buche "Die Psychologie des Aristoteles, ins¬
besondere seine Lehre vom N"-^ M.-^xc!;". 1880 verfaßte Hertling zur
Feier des 600jährigen Gedächtnistages Werth des Großen die Festschrift,
die in drei voneinander getrennten Zlbhandlungen zur Würdigung des noch
sehr wenig berücksichtigten Scholastikers aus dem 13. Jahrhundert beiträgt.
Insbesondere hat er über die Stellung des Fürsten der Scholastik, des
heiligen Thomas von Aquin, zu den Problemen der philosophischen Rechts-,
Staats- und Gesellschaftslehre eingehende Studien gemacht und deren Resultate
in seiner politischen Laufbahn verwertet. Der preußische Kulturkampf führte
ihn 1875 in den deutschen Reichstag, wo er sich der Zentrumssraktion
anschloß. Er ward einer der einflußreichsten Kämpen seiner Partei, haupt¬
sächlich in sozialen Fragen, und ist heute der Führer des Zentrums. Er ist
auch Präsident der Görres-Gesellschaft, an deren Begründung der Domdekan,
Generalvikar und Theologie-Professor Johann Baptist, Heinrich in Mainz den


Grenzboten I 1910 W
Georg Freiherr von hertling

theistisch - teleologischen Weltanschauung die volle wissenschaftliche Berechtigung
zukomme. Er tritt aufs entschiedenste für sie ein und glaubt, das Ziel der
Einheit suchenden Vernunft in der Einheit der schöpferischen, mit Macht und
Weisheit ausgestatteten Ursache gefunden zu haben, soweit es eben die allgemeinen
Schranken unserer Erkenntnis zulassen. Er verhehlt sich nämlich nicht, daß wir
niemals zu einem adäquaten Begriffe der Wesenheit des einheitlichen geistigen
Grundes alles Seins gelangen, von dem göttlichen Urwesen nur das Daß
behaupten können, ohne das Was oder Wie im mindesten zu verstehen; sind
wir doch Menschen, und Goethe hat einmal sehr treffend gesagt: „Der Mensch
begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist." Daraus folgt, daß die teleo-
logische Weltansicht in ihrer Durchführung lückenhaft bleibt und bleiben muß.
Es geht uns mit ihr, wie Hertling sehr schön sagt, wie dem Wanderer, der
den höchsten Punkt einer Bergkette erstiegen hat. „Wohl sieht er jetzt weit über
die Bergwände hinaus, die unten im Tale seinem Auge sich undurchdringlich
entgegenstellten, wohl erblickt er die einzelnen hervorragenden Spitzen, die das
Licht der Sonne erhellt, aber in das Dunkel der Täter vermag sein Blick nicht
hineinzubringen, und es gelingt ihm nicht, den Lauf ihrer vielfach gewundenen
Krümmungen im Zusammenhange zu erkennen." Wir können nicht zweifeln,
daß die Welt und die Dinge um eitles Zweckes willen da sind, und wo wir
das Einzelne in seinem Entstehen und der Zusammenordnung seiner Teile
betrachten, finden wir es deutlich von Zwecken beherrscht. Aber die Fäden
fehlen uns, die diese Einzelzwecke mit dein Ziele des Ganzen ausreichend ver¬
knüpfen.

Hertlings Lieblingsstudium ist nächst der aristotelischen die mittelalterliche
Philosophie. 1871 erschien die Studie über „Materie und Form und die
Definition der Seele bei Aristoteles", an der Eduard Zeller in der
„Philosophie der Griechen" (Dritte Auflage 1879. II. 2, S. 312) manches
auszusetzen faud. Sie ist eine Ergänzung zu Franz Brentanos scharf¬
sinnigen und inhaltsreichem Buche „Die Psychologie des Aristoteles, ins¬
besondere seine Lehre vom N»-^ M.-^xc!;". 1880 verfaßte Hertling zur
Feier des 600jährigen Gedächtnistages Werth des Großen die Festschrift,
die in drei voneinander getrennten Zlbhandlungen zur Würdigung des noch
sehr wenig berücksichtigten Scholastikers aus dem 13. Jahrhundert beiträgt.
Insbesondere hat er über die Stellung des Fürsten der Scholastik, des
heiligen Thomas von Aquin, zu den Problemen der philosophischen Rechts-,
Staats- und Gesellschaftslehre eingehende Studien gemacht und deren Resultate
in seiner politischen Laufbahn verwertet. Der preußische Kulturkampf führte
ihn 1875 in den deutschen Reichstag, wo er sich der Zentrumssraktion
anschloß. Er ward einer der einflußreichsten Kämpen seiner Partei, haupt¬
sächlich in sozialen Fragen, und ist heute der Führer des Zentrums. Er ist
auch Präsident der Görres-Gesellschaft, an deren Begründung der Domdekan,
Generalvikar und Theologie-Professor Johann Baptist, Heinrich in Mainz den


Grenzboten I 1910 W
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[0317] Georg Freiherr von hertling theistisch - teleologischen Weltanschauung die volle wissenschaftliche Berechtigung zukomme. Er tritt aufs entschiedenste für sie ein und glaubt, das Ziel der Einheit suchenden Vernunft in der Einheit der schöpferischen, mit Macht und Weisheit ausgestatteten Ursache gefunden zu haben, soweit es eben die allgemeinen Schranken unserer Erkenntnis zulassen. Er verhehlt sich nämlich nicht, daß wir niemals zu einem adäquaten Begriffe der Wesenheit des einheitlichen geistigen Grundes alles Seins gelangen, von dem göttlichen Urwesen nur das Daß behaupten können, ohne das Was oder Wie im mindesten zu verstehen; sind wir doch Menschen, und Goethe hat einmal sehr treffend gesagt: „Der Mensch begreift niemals, wie anthropomorphisch er ist." Daraus folgt, daß die teleo- logische Weltansicht in ihrer Durchführung lückenhaft bleibt und bleiben muß. Es geht uns mit ihr, wie Hertling sehr schön sagt, wie dem Wanderer, der den höchsten Punkt einer Bergkette erstiegen hat. „Wohl sieht er jetzt weit über die Bergwände hinaus, die unten im Tale seinem Auge sich undurchdringlich entgegenstellten, wohl erblickt er die einzelnen hervorragenden Spitzen, die das Licht der Sonne erhellt, aber in das Dunkel der Täter vermag sein Blick nicht hineinzubringen, und es gelingt ihm nicht, den Lauf ihrer vielfach gewundenen Krümmungen im Zusammenhange zu erkennen." Wir können nicht zweifeln, daß die Welt und die Dinge um eitles Zweckes willen da sind, und wo wir das Einzelne in seinem Entstehen und der Zusammenordnung seiner Teile betrachten, finden wir es deutlich von Zwecken beherrscht. Aber die Fäden fehlen uns, die diese Einzelzwecke mit dein Ziele des Ganzen ausreichend ver¬ knüpfen. Hertlings Lieblingsstudium ist nächst der aristotelischen die mittelalterliche Philosophie. 1871 erschien die Studie über „Materie und Form und die Definition der Seele bei Aristoteles", an der Eduard Zeller in der „Philosophie der Griechen" (Dritte Auflage 1879. II. 2, S. 312) manches auszusetzen faud. Sie ist eine Ergänzung zu Franz Brentanos scharf¬ sinnigen und inhaltsreichem Buche „Die Psychologie des Aristoteles, ins¬ besondere seine Lehre vom N»-^ M.-^xc!;". 1880 verfaßte Hertling zur Feier des 600jährigen Gedächtnistages Werth des Großen die Festschrift, die in drei voneinander getrennten Zlbhandlungen zur Würdigung des noch sehr wenig berücksichtigten Scholastikers aus dem 13. Jahrhundert beiträgt. Insbesondere hat er über die Stellung des Fürsten der Scholastik, des heiligen Thomas von Aquin, zu den Problemen der philosophischen Rechts-, Staats- und Gesellschaftslehre eingehende Studien gemacht und deren Resultate in seiner politischen Laufbahn verwertet. Der preußische Kulturkampf führte ihn 1875 in den deutschen Reichstag, wo er sich der Zentrumssraktion anschloß. Er ward einer der einflußreichsten Kämpen seiner Partei, haupt¬ sächlich in sozialen Fragen, und ist heute der Führer des Zentrums. Er ist auch Präsident der Görres-Gesellschaft, an deren Begründung der Domdekan, Generalvikar und Theologie-Professor Johann Baptist, Heinrich in Mainz den Grenzboten I 1910 W

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/317>, abgerufen am 24.07.2024.