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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Die preußische verwaltimgsgesetzgebung

Was ich bisher geschildert habe, waren nicht besonders ausgesuchte Aus¬
nahmen; ähnlich ist es vielmehr überall, wohin man blickt. Bei einiger Ehrlichkeit
des Urteils wird man nicht leugnen können, daß unsre Verwaltungsgesetzgebung
seit dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts auf den wichtigsten Gebieten
einen verderblichen Stillstand oder geradezu Versumpfung gezeigt hat und noch
jetzt zeigt. Die einzelnen großen Leistungen der letzten Jahrzehnte, die Ver-
wältungsreform der siebziger und achtziger Jahre, die Miquelsche Neuordnung
der Staats- und Gemeindebesteuerung und, wenn man die Reichsgesetzgebung
hier mit berücksichtigen will, die Arbeiterversicherungsgesetze, können darüber
nicht hinwegtäuschen. Zugleich weisen aber diese einzelnen Erfolge auf die
Ursache des Übels deutlich hin; sie sind das Werk einzelner hervorragender
Männer.

Es gibt mauche, die in dieser Entwicklung den Ausdruck eines gesunden
Konservativismus gesehen haben, der mit Recht nicht unnötig in bestehende
Verhältnisse eingreife, oder man hat sie auf die nicht zu leugnende Verschiedenheit
in den Verhältnissen des großen Staats zurückgeführt, die verbiete, einheitliche
Vorschriften für den ganzen Staat zu treffen. Aber mit dem gesunden Kon¬
servativismus ist es überhaupt eine eigne Sache; er sieht häufig geistiger Trägheit
verzweifelt ähnlich. Und dann kann man doch auch vou "unnötigen" Eingriffen
da nicht sprechen, wo eigentlich alles nach einer Neuregelung schreit. Und der
zweite Einwand zeugt nur von einem geringen Verständnis für die zu entscheidende
Frage. Durch Gesetz können, das hat Graf Huc de Grals mit Recht hervor¬
gehoben, nur die allgemeinen Regeln aufgestellt werden. Die Ausführung im
einzelnen muß den Ausführungsbestimmungen und der laufenden Verwaltung
vorbehalten bleiben. Wozu haben wir denn die Selbstverwaltung und ihreBehörden?
Man hat doch sonst eine so schwärmerische Vorliebe für "Dezentralisation"!

Jedenfalls sind die Folgen dieser Lage der Gesetzgebung für die Verwaltung
wie für das Publikum gleich bedauerlich. Für die Behörden muß eine Gesetz¬
gebung, die so überaus verwickelt, ohne äußere und innere Einheitlichkeit, dabei
trotz aller Weitschweifigkeit doch lückenhaft ist, eine gewaltige Arbeit verursachen,
die nicht dadurch erquicklicher oder erträglicher wird, daß es sich dabei häufig
um unbedeutende Dinge handelt, die aber trotzdem oft mit einem gewaltigen
Aufwand an Zeit, Gelehrsamkeit und Denkkraft weitläufig erörtert werden
müssen. So erinnere ich mich aus meiner Referendarzeit eines Streits über
die Ausbesserung eines Schulzcmns, wobei es sich um eine Leistung im Wert
von einigen Mark handelte, der aber bis in die höchsten Stellen getrieben
wurde. In einem andern Fall tobte ein ähnlich hartnäckiger Streit um die
Lieferung eines Glockenseils. Der Oberpräsident von Ernsthausen erzählt in
seinen Lebenserinnerungen ähnliches aus dem Königsberger Bezirk. Regierungs¬
präsident von Diest erwähnt einen Fall, wo der Kreisausschuß und der Bezirks¬
ausschuß je zweimal, das Oberverwaltungsgericht aber viermal entscheiden mußten,
um festzustellen, ob in einer Schulgemeinde statt eines einheitlichen Schulgelds


Die preußische verwaltimgsgesetzgebung

Was ich bisher geschildert habe, waren nicht besonders ausgesuchte Aus¬
nahmen; ähnlich ist es vielmehr überall, wohin man blickt. Bei einiger Ehrlichkeit
des Urteils wird man nicht leugnen können, daß unsre Verwaltungsgesetzgebung
seit dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts auf den wichtigsten Gebieten
einen verderblichen Stillstand oder geradezu Versumpfung gezeigt hat und noch
jetzt zeigt. Die einzelnen großen Leistungen der letzten Jahrzehnte, die Ver-
wältungsreform der siebziger und achtziger Jahre, die Miquelsche Neuordnung
der Staats- und Gemeindebesteuerung und, wenn man die Reichsgesetzgebung
hier mit berücksichtigen will, die Arbeiterversicherungsgesetze, können darüber
nicht hinwegtäuschen. Zugleich weisen aber diese einzelnen Erfolge auf die
Ursache des Übels deutlich hin; sie sind das Werk einzelner hervorragender
Männer.

Es gibt mauche, die in dieser Entwicklung den Ausdruck eines gesunden
Konservativismus gesehen haben, der mit Recht nicht unnötig in bestehende
Verhältnisse eingreife, oder man hat sie auf die nicht zu leugnende Verschiedenheit
in den Verhältnissen des großen Staats zurückgeführt, die verbiete, einheitliche
Vorschriften für den ganzen Staat zu treffen. Aber mit dem gesunden Kon¬
servativismus ist es überhaupt eine eigne Sache; er sieht häufig geistiger Trägheit
verzweifelt ähnlich. Und dann kann man doch auch vou „unnötigen" Eingriffen
da nicht sprechen, wo eigentlich alles nach einer Neuregelung schreit. Und der
zweite Einwand zeugt nur von einem geringen Verständnis für die zu entscheidende
Frage. Durch Gesetz können, das hat Graf Huc de Grals mit Recht hervor¬
gehoben, nur die allgemeinen Regeln aufgestellt werden. Die Ausführung im
einzelnen muß den Ausführungsbestimmungen und der laufenden Verwaltung
vorbehalten bleiben. Wozu haben wir denn die Selbstverwaltung und ihreBehörden?
Man hat doch sonst eine so schwärmerische Vorliebe für „Dezentralisation"!

Jedenfalls sind die Folgen dieser Lage der Gesetzgebung für die Verwaltung
wie für das Publikum gleich bedauerlich. Für die Behörden muß eine Gesetz¬
gebung, die so überaus verwickelt, ohne äußere und innere Einheitlichkeit, dabei
trotz aller Weitschweifigkeit doch lückenhaft ist, eine gewaltige Arbeit verursachen,
die nicht dadurch erquicklicher oder erträglicher wird, daß es sich dabei häufig
um unbedeutende Dinge handelt, die aber trotzdem oft mit einem gewaltigen
Aufwand an Zeit, Gelehrsamkeit und Denkkraft weitläufig erörtert werden
müssen. So erinnere ich mich aus meiner Referendarzeit eines Streits über
die Ausbesserung eines Schulzcmns, wobei es sich um eine Leistung im Wert
von einigen Mark handelte, der aber bis in die höchsten Stellen getrieben
wurde. In einem andern Fall tobte ein ähnlich hartnäckiger Streit um die
Lieferung eines Glockenseils. Der Oberpräsident von Ernsthausen erzählt in
seinen Lebenserinnerungen ähnliches aus dem Königsberger Bezirk. Regierungs¬
präsident von Diest erwähnt einen Fall, wo der Kreisausschuß und der Bezirks¬
ausschuß je zweimal, das Oberverwaltungsgericht aber viermal entscheiden mußten,
um festzustellen, ob in einer Schulgemeinde statt eines einheitlichen Schulgelds


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[0314] Die preußische verwaltimgsgesetzgebung Was ich bisher geschildert habe, waren nicht besonders ausgesuchte Aus¬ nahmen; ähnlich ist es vielmehr überall, wohin man blickt. Bei einiger Ehrlichkeit des Urteils wird man nicht leugnen können, daß unsre Verwaltungsgesetzgebung seit dem ersten Drittel des vorigen Jahrhunderts auf den wichtigsten Gebieten einen verderblichen Stillstand oder geradezu Versumpfung gezeigt hat und noch jetzt zeigt. Die einzelnen großen Leistungen der letzten Jahrzehnte, die Ver- wältungsreform der siebziger und achtziger Jahre, die Miquelsche Neuordnung der Staats- und Gemeindebesteuerung und, wenn man die Reichsgesetzgebung hier mit berücksichtigen will, die Arbeiterversicherungsgesetze, können darüber nicht hinwegtäuschen. Zugleich weisen aber diese einzelnen Erfolge auf die Ursache des Übels deutlich hin; sie sind das Werk einzelner hervorragender Männer. Es gibt mauche, die in dieser Entwicklung den Ausdruck eines gesunden Konservativismus gesehen haben, der mit Recht nicht unnötig in bestehende Verhältnisse eingreife, oder man hat sie auf die nicht zu leugnende Verschiedenheit in den Verhältnissen des großen Staats zurückgeführt, die verbiete, einheitliche Vorschriften für den ganzen Staat zu treffen. Aber mit dem gesunden Kon¬ servativismus ist es überhaupt eine eigne Sache; er sieht häufig geistiger Trägheit verzweifelt ähnlich. Und dann kann man doch auch vou „unnötigen" Eingriffen da nicht sprechen, wo eigentlich alles nach einer Neuregelung schreit. Und der zweite Einwand zeugt nur von einem geringen Verständnis für die zu entscheidende Frage. Durch Gesetz können, das hat Graf Huc de Grals mit Recht hervor¬ gehoben, nur die allgemeinen Regeln aufgestellt werden. Die Ausführung im einzelnen muß den Ausführungsbestimmungen und der laufenden Verwaltung vorbehalten bleiben. Wozu haben wir denn die Selbstverwaltung und ihreBehörden? Man hat doch sonst eine so schwärmerische Vorliebe für „Dezentralisation"! Jedenfalls sind die Folgen dieser Lage der Gesetzgebung für die Verwaltung wie für das Publikum gleich bedauerlich. Für die Behörden muß eine Gesetz¬ gebung, die so überaus verwickelt, ohne äußere und innere Einheitlichkeit, dabei trotz aller Weitschweifigkeit doch lückenhaft ist, eine gewaltige Arbeit verursachen, die nicht dadurch erquicklicher oder erträglicher wird, daß es sich dabei häufig um unbedeutende Dinge handelt, die aber trotzdem oft mit einem gewaltigen Aufwand an Zeit, Gelehrsamkeit und Denkkraft weitläufig erörtert werden müssen. So erinnere ich mich aus meiner Referendarzeit eines Streits über die Ausbesserung eines Schulzcmns, wobei es sich um eine Leistung im Wert von einigen Mark handelte, der aber bis in die höchsten Stellen getrieben wurde. In einem andern Fall tobte ein ähnlich hartnäckiger Streit um die Lieferung eines Glockenseils. Der Oberpräsident von Ernsthausen erzählt in seinen Lebenserinnerungen ähnliches aus dem Königsberger Bezirk. Regierungs¬ präsident von Diest erwähnt einen Fall, wo der Kreisausschuß und der Bezirks¬ ausschuß je zweimal, das Oberverwaltungsgericht aber viermal entscheiden mußten, um festzustellen, ob in einer Schulgemeinde statt eines einheitlichen Schulgelds

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/314>, abgerufen am 24.07.2024.