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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Ivmidluugini des Naturerkennens

lautlos und unsichtbar durcheinander wirbeln wie in einem Tollhaus, liegen
noch genug Rätsel verborgen, die nach dem Gelöstwerden sich sehnen. Eine
nach wahrer Erkenntnis ringende Wissenschaft muß fort und fort mit dieser
unumstößlichen Tatsache rechnen. Alle Versuche, die Lebenserscheinungen am
tierischen Organismus mechanisch zu erklären, werden immer an Einseitigkeit
und Unzulänglichkeit kranken. Mau denke nur an den beliebten Brauch, den
lebendigen Körper mit einer Arbeitsmaschine zu vergleichen. Der Vergleich stimmt
nur, soweit die Funktionen der Speisung, respektive Heizung, und die des Energie-,
respektive Wärmeverbrauchs dabei in Betracht kommen. Jede weitere Parallele
entspricht schon nicht mehr den Tatsachen. Eine Maschine, die, wie etwa der
menschliche Organismus, selbsttätig ihre eigenen Tiegel und Retorten (Zellen)
zertrümmert und solche, außer der sonst geleisteten Arbeit, so ganz nebenher
auch immer wieder von neuem aufbaut, müßte noch erst ihren Erbauer finden.

Trotz alledem aber wird kein Naturforscher, dein es ernst ist mit dem
Forschen, vou dem für ihn allein maßgebenden obersten Grundsatz abweichen,
alle Vorkommnisse in der Natur so lange natürlich erklären zu wollen, als dies
irgend möglich ist. Diesen Grundsatz geben alle diejenigen von vornherein
preis, die mit dem Anerkennen einer besonderen Lebenskraft auch der von den:
alten Vitalismus bedingten Teleologie wieder zuneigen, jener zielbewußt
geschaffenen Zweckmäßigkeit, die mau so gerne in alles Naturgeschehen, in alle
Orgcmcmlagen und deren Funktionen hineingeheimnist. Darin liegt aber
gerade die Stärke der Deszendenzlehre, daß sie uns eine ans natürlichem Wege
erworbene Zweckmäßigkeit nahelegt, und zwar auf Grund von Tatsachen, die
uns in der Natur auf Schritt und Tritt begegnen. Wird ein Individuum,
oder eine ganze Spezies durch allmählich sich ändernde äußere Lebens¬
bedingungen dein scharfen Kampf ums Dasein ausgesetzt, so wirken, die
erforderliche, ungezählte Generationen umfassende Zeitdauer vorausgesetzt, die
umbildenden, verschiebenden Kräfte einschneidend genug, um schließlich auch die
winzigsten Lebensvorgänge in der Zelle zu treffen und so für das Individuum
und die Spezies zweckmäßig neu zu gestalten. Wenn der von Zoologen und
Biologen angestellte Versuch über Anpassung und Vererbung, über Regulationen,
Regenerationen und Restitutionen am angeschnittenen lebenden Tierkörper auch
noch so häufig die Autwort auf die direkt gestellte Frage schuldig bleibt, so ist
damit immer noch lange nicht gesagt, daß der Versuch deu Vorgang, wie er sich in
der großen Natur abspielt, treu wiedergebe. Es verhält sich mit diesen an
Vertretern eines seit unvordenklicher Zeit gefestigten Organismenstammes vor¬
genommenen Versuchen nicht anders als mit den Laboratoriumsversuchen des
Chemikers, der innerhalb weniger Stunden Prozesse der Erdkruste nachahmen
oder gar nachweisen will, die dermalen in der Natur unter ungeheuren
Druck- und Temperaturverhältnissen vor sich gingen, innerhalb sogenannter
geologischer Epochen sich abspielten, das heißt innerhalb Zeiträumen, von denen
wir uns niemals eine nur annähernde Vorstellung werden machen können.


Ivmidluugini des Naturerkennens

lautlos und unsichtbar durcheinander wirbeln wie in einem Tollhaus, liegen
noch genug Rätsel verborgen, die nach dem Gelöstwerden sich sehnen. Eine
nach wahrer Erkenntnis ringende Wissenschaft muß fort und fort mit dieser
unumstößlichen Tatsache rechnen. Alle Versuche, die Lebenserscheinungen am
tierischen Organismus mechanisch zu erklären, werden immer an Einseitigkeit
und Unzulänglichkeit kranken. Mau denke nur an den beliebten Brauch, den
lebendigen Körper mit einer Arbeitsmaschine zu vergleichen. Der Vergleich stimmt
nur, soweit die Funktionen der Speisung, respektive Heizung, und die des Energie-,
respektive Wärmeverbrauchs dabei in Betracht kommen. Jede weitere Parallele
entspricht schon nicht mehr den Tatsachen. Eine Maschine, die, wie etwa der
menschliche Organismus, selbsttätig ihre eigenen Tiegel und Retorten (Zellen)
zertrümmert und solche, außer der sonst geleisteten Arbeit, so ganz nebenher
auch immer wieder von neuem aufbaut, müßte noch erst ihren Erbauer finden.

Trotz alledem aber wird kein Naturforscher, dein es ernst ist mit dem
Forschen, vou dem für ihn allein maßgebenden obersten Grundsatz abweichen,
alle Vorkommnisse in der Natur so lange natürlich erklären zu wollen, als dies
irgend möglich ist. Diesen Grundsatz geben alle diejenigen von vornherein
preis, die mit dem Anerkennen einer besonderen Lebenskraft auch der von den:
alten Vitalismus bedingten Teleologie wieder zuneigen, jener zielbewußt
geschaffenen Zweckmäßigkeit, die mau so gerne in alles Naturgeschehen, in alle
Orgcmcmlagen und deren Funktionen hineingeheimnist. Darin liegt aber
gerade die Stärke der Deszendenzlehre, daß sie uns eine ans natürlichem Wege
erworbene Zweckmäßigkeit nahelegt, und zwar auf Grund von Tatsachen, die
uns in der Natur auf Schritt und Tritt begegnen. Wird ein Individuum,
oder eine ganze Spezies durch allmählich sich ändernde äußere Lebens¬
bedingungen dein scharfen Kampf ums Dasein ausgesetzt, so wirken, die
erforderliche, ungezählte Generationen umfassende Zeitdauer vorausgesetzt, die
umbildenden, verschiebenden Kräfte einschneidend genug, um schließlich auch die
winzigsten Lebensvorgänge in der Zelle zu treffen und so für das Individuum
und die Spezies zweckmäßig neu zu gestalten. Wenn der von Zoologen und
Biologen angestellte Versuch über Anpassung und Vererbung, über Regulationen,
Regenerationen und Restitutionen am angeschnittenen lebenden Tierkörper auch
noch so häufig die Autwort auf die direkt gestellte Frage schuldig bleibt, so ist
damit immer noch lange nicht gesagt, daß der Versuch deu Vorgang, wie er sich in
der großen Natur abspielt, treu wiedergebe. Es verhält sich mit diesen an
Vertretern eines seit unvordenklicher Zeit gefestigten Organismenstammes vor¬
genommenen Versuchen nicht anders als mit den Laboratoriumsversuchen des
Chemikers, der innerhalb weniger Stunden Prozesse der Erdkruste nachahmen
oder gar nachweisen will, die dermalen in der Natur unter ungeheuren
Druck- und Temperaturverhältnissen vor sich gingen, innerhalb sogenannter
geologischer Epochen sich abspielten, das heißt innerhalb Zeiträumen, von denen
wir uns niemals eine nur annähernde Vorstellung werden machen können.


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[0283] Ivmidluugini des Naturerkennens lautlos und unsichtbar durcheinander wirbeln wie in einem Tollhaus, liegen noch genug Rätsel verborgen, die nach dem Gelöstwerden sich sehnen. Eine nach wahrer Erkenntnis ringende Wissenschaft muß fort und fort mit dieser unumstößlichen Tatsache rechnen. Alle Versuche, die Lebenserscheinungen am tierischen Organismus mechanisch zu erklären, werden immer an Einseitigkeit und Unzulänglichkeit kranken. Mau denke nur an den beliebten Brauch, den lebendigen Körper mit einer Arbeitsmaschine zu vergleichen. Der Vergleich stimmt nur, soweit die Funktionen der Speisung, respektive Heizung, und die des Energie-, respektive Wärmeverbrauchs dabei in Betracht kommen. Jede weitere Parallele entspricht schon nicht mehr den Tatsachen. Eine Maschine, die, wie etwa der menschliche Organismus, selbsttätig ihre eigenen Tiegel und Retorten (Zellen) zertrümmert und solche, außer der sonst geleisteten Arbeit, so ganz nebenher auch immer wieder von neuem aufbaut, müßte noch erst ihren Erbauer finden. Trotz alledem aber wird kein Naturforscher, dein es ernst ist mit dem Forschen, vou dem für ihn allein maßgebenden obersten Grundsatz abweichen, alle Vorkommnisse in der Natur so lange natürlich erklären zu wollen, als dies irgend möglich ist. Diesen Grundsatz geben alle diejenigen von vornherein preis, die mit dem Anerkennen einer besonderen Lebenskraft auch der von den: alten Vitalismus bedingten Teleologie wieder zuneigen, jener zielbewußt geschaffenen Zweckmäßigkeit, die mau so gerne in alles Naturgeschehen, in alle Orgcmcmlagen und deren Funktionen hineingeheimnist. Darin liegt aber gerade die Stärke der Deszendenzlehre, daß sie uns eine ans natürlichem Wege erworbene Zweckmäßigkeit nahelegt, und zwar auf Grund von Tatsachen, die uns in der Natur auf Schritt und Tritt begegnen. Wird ein Individuum, oder eine ganze Spezies durch allmählich sich ändernde äußere Lebens¬ bedingungen dein scharfen Kampf ums Dasein ausgesetzt, so wirken, die erforderliche, ungezählte Generationen umfassende Zeitdauer vorausgesetzt, die umbildenden, verschiebenden Kräfte einschneidend genug, um schließlich auch die winzigsten Lebensvorgänge in der Zelle zu treffen und so für das Individuum und die Spezies zweckmäßig neu zu gestalten. Wenn der von Zoologen und Biologen angestellte Versuch über Anpassung und Vererbung, über Regulationen, Regenerationen und Restitutionen am angeschnittenen lebenden Tierkörper auch noch so häufig die Autwort auf die direkt gestellte Frage schuldig bleibt, so ist damit immer noch lange nicht gesagt, daß der Versuch deu Vorgang, wie er sich in der großen Natur abspielt, treu wiedergebe. Es verhält sich mit diesen an Vertretern eines seit unvordenklicher Zeit gefestigten Organismenstammes vor¬ genommenen Versuchen nicht anders als mit den Laboratoriumsversuchen des Chemikers, der innerhalb weniger Stunden Prozesse der Erdkruste nachahmen oder gar nachweisen will, die dermalen in der Natur unter ungeheuren Druck- und Temperaturverhältnissen vor sich gingen, innerhalb sogenannter geologischer Epochen sich abspielten, das heißt innerhalb Zeiträumen, von denen wir uns niemals eine nur annähernde Vorstellung werden machen können.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/283>, abgerufen am 24.07.2024.