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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Zvaiidlnngcn des natlle'crkiNincns

Anforderungen eines Natlncrkennens genügt, das sich das Prädikat der Wissen¬
schaftliche mit Fug und Recht beilegen darf.

Einige Jahre zuvor schon hatte Laplaces Landsmann und Zeitgenosse, der
berühmte Chemiker Lavoisier, durch Einführung der Wage in das Laboratorium
des Chemikers der exakten, wissenschaftlichen Methode die Bahn und damit
zugleich der Phlogistoutheorie den Hals gebrochen, die so viele schöne Geistes¬
kraft seither absorbierte. Nun erst fing man an, in den wissenschaftlichen Werk¬
stätten mit Methode zu arbeiten. Ein neues Element der anorganischen Natur
um das andere wurde entdeckt, nach immer komplizierteren chemischen Verbindungen
im organischen Reich wurde gefahndet. Und der Aufschwung, den so die aus
dein mittelalterlichen Gewand der Alchemie herausgeschlüpfte exakte chemische
Forschung erfuhr, teilte sich alsbald auch den übrigen Zweigen des Naturwissens mit.
Die Heilkunde, die Physiologie, Physik, Zoologie und Botanik wurden der zur
exakten Wissenschaft ausgerückten Chemie später mehr oder minder tributpflichtig.

Zu dein Physiker und Mathematiker Laplace und zu dem Chemiker Lavoisier
gesellte sich auf der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts als dritter Lands¬
mann und Zeitgenosse noch der Zoologe und Botaniker Lamarck. der eigentliche
Begründer der Entwickelungslehre, der von dein damaligen Gelehrtencliquentnm
der französischen Akademie totgeschwiegene Vorläufer Darwins. Es ist gewiß
bemerkenswert, daß fast zur selben Zeit, da in Deutschland Kant der im viel¬
hundertjährigen Frondienst der Tradition stehenden, zur öden, unfruchtbaren
Scholastik ausgearteten Philosophie durch die glänzendste Großtat auf dein Gebiet
rein spekulativen Denkens zu neuem Ansehen verhalf, in Frankreich die naturalistische
Schule eines Descartes eine Anzahl Männer hervorbrachte, die in erster Linie
dazu berufen waren, die seither beinahe nur in dilettantischer Empirie dunkel
umhertastende Naturkunde zu einer exakten, methodisch forschenden Wissenschaft
emporzuheben. Allen voran leuchtet unter den Zeitgenossen das Dreigestirn
Laplace-Lavoisier-Lamarck. Aber das helle Rot, das von diesem Dreigestirn aus
über das nun folgende naturwissenschaftliche Zeitalter hinwegstrahlt, rührt nicht
bloß vom Schein der Morgenröte her, die sich endlich um geistigen Himmel
einer neuaubrecheudeu Aufklärung zeigt, sondern deutet auch mahnend und
dräuend auf Lavoisiers freventlich vergossenes Lebensblut hiu. Die Meuscheu-
bestien der französischen Revolution scheuten selbst nicht davor zurück, ein im
Dienste der höchsten Wissenschaft stehendes Menschenleben ihren atavistischer
Trieben zu opfern.

I" Frankreichs Hauptstadt erblühte damals zwischen rauchenden Barrikaden¬
trümmern und auf einem Boden, der sich an Menschenblut satt getrunken, die
schon ein volles Säkulum bestehende Anatomie des sciences zu neuem Leben.
Auf Jahrzehnte hinaus wurde sie zur wichtigsten Pflanzstätte der jung und
'nächtig aufkeimenden Naturwissenschaften. Wo immer in der gebildeten Welt
"u Anfang des neunzehnten Jahrhunderts anf naturwissenschaftlichem Gebiet
eine wichtige Entdeckung gemacht, eine umsichtige Hypothese aufgestellt wurde.


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Anforderungen eines Natlncrkennens genügt, das sich das Prädikat der Wissen¬
schaftliche mit Fug und Recht beilegen darf.

Einige Jahre zuvor schon hatte Laplaces Landsmann und Zeitgenosse, der
berühmte Chemiker Lavoisier, durch Einführung der Wage in das Laboratorium
des Chemikers der exakten, wissenschaftlichen Methode die Bahn und damit
zugleich der Phlogistoutheorie den Hals gebrochen, die so viele schöne Geistes¬
kraft seither absorbierte. Nun erst fing man an, in den wissenschaftlichen Werk¬
stätten mit Methode zu arbeiten. Ein neues Element der anorganischen Natur
um das andere wurde entdeckt, nach immer komplizierteren chemischen Verbindungen
im organischen Reich wurde gefahndet. Und der Aufschwung, den so die aus
dein mittelalterlichen Gewand der Alchemie herausgeschlüpfte exakte chemische
Forschung erfuhr, teilte sich alsbald auch den übrigen Zweigen des Naturwissens mit.
Die Heilkunde, die Physiologie, Physik, Zoologie und Botanik wurden der zur
exakten Wissenschaft ausgerückten Chemie später mehr oder minder tributpflichtig.

Zu dein Physiker und Mathematiker Laplace und zu dem Chemiker Lavoisier
gesellte sich auf der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts als dritter Lands¬
mann und Zeitgenosse noch der Zoologe und Botaniker Lamarck. der eigentliche
Begründer der Entwickelungslehre, der von dein damaligen Gelehrtencliquentnm
der französischen Akademie totgeschwiegene Vorläufer Darwins. Es ist gewiß
bemerkenswert, daß fast zur selben Zeit, da in Deutschland Kant der im viel¬
hundertjährigen Frondienst der Tradition stehenden, zur öden, unfruchtbaren
Scholastik ausgearteten Philosophie durch die glänzendste Großtat auf dein Gebiet
rein spekulativen Denkens zu neuem Ansehen verhalf, in Frankreich die naturalistische
Schule eines Descartes eine Anzahl Männer hervorbrachte, die in erster Linie
dazu berufen waren, die seither beinahe nur in dilettantischer Empirie dunkel
umhertastende Naturkunde zu einer exakten, methodisch forschenden Wissenschaft
emporzuheben. Allen voran leuchtet unter den Zeitgenossen das Dreigestirn
Laplace-Lavoisier-Lamarck. Aber das helle Rot, das von diesem Dreigestirn aus
über das nun folgende naturwissenschaftliche Zeitalter hinwegstrahlt, rührt nicht
bloß vom Schein der Morgenröte her, die sich endlich um geistigen Himmel
einer neuaubrecheudeu Aufklärung zeigt, sondern deutet auch mahnend und
dräuend auf Lavoisiers freventlich vergossenes Lebensblut hiu. Die Meuscheu-
bestien der französischen Revolution scheuten selbst nicht davor zurück, ein im
Dienste der höchsten Wissenschaft stehendes Menschenleben ihren atavistischer
Trieben zu opfern.

I" Frankreichs Hauptstadt erblühte damals zwischen rauchenden Barrikaden¬
trümmern und auf einem Boden, der sich an Menschenblut satt getrunken, die
schon ein volles Säkulum bestehende Anatomie des sciences zu neuem Leben.
Auf Jahrzehnte hinaus wurde sie zur wichtigsten Pflanzstätte der jung und
'nächtig aufkeimenden Naturwissenschaften. Wo immer in der gebildeten Welt
«u Anfang des neunzehnten Jahrhunderts anf naturwissenschaftlichem Gebiet
eine wichtige Entdeckung gemacht, eine umsichtige Hypothese aufgestellt wurde.


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[0275] Zvaiidlnngcn des natlle'crkiNincns Anforderungen eines Natlncrkennens genügt, das sich das Prädikat der Wissen¬ schaftliche mit Fug und Recht beilegen darf. Einige Jahre zuvor schon hatte Laplaces Landsmann und Zeitgenosse, der berühmte Chemiker Lavoisier, durch Einführung der Wage in das Laboratorium des Chemikers der exakten, wissenschaftlichen Methode die Bahn und damit zugleich der Phlogistoutheorie den Hals gebrochen, die so viele schöne Geistes¬ kraft seither absorbierte. Nun erst fing man an, in den wissenschaftlichen Werk¬ stätten mit Methode zu arbeiten. Ein neues Element der anorganischen Natur um das andere wurde entdeckt, nach immer komplizierteren chemischen Verbindungen im organischen Reich wurde gefahndet. Und der Aufschwung, den so die aus dein mittelalterlichen Gewand der Alchemie herausgeschlüpfte exakte chemische Forschung erfuhr, teilte sich alsbald auch den übrigen Zweigen des Naturwissens mit. Die Heilkunde, die Physiologie, Physik, Zoologie und Botanik wurden der zur exakten Wissenschaft ausgerückten Chemie später mehr oder minder tributpflichtig. Zu dein Physiker und Mathematiker Laplace und zu dem Chemiker Lavoisier gesellte sich auf der Schwelle des neunzehnten Jahrhunderts als dritter Lands¬ mann und Zeitgenosse noch der Zoologe und Botaniker Lamarck. der eigentliche Begründer der Entwickelungslehre, der von dein damaligen Gelehrtencliquentnm der französischen Akademie totgeschwiegene Vorläufer Darwins. Es ist gewiß bemerkenswert, daß fast zur selben Zeit, da in Deutschland Kant der im viel¬ hundertjährigen Frondienst der Tradition stehenden, zur öden, unfruchtbaren Scholastik ausgearteten Philosophie durch die glänzendste Großtat auf dein Gebiet rein spekulativen Denkens zu neuem Ansehen verhalf, in Frankreich die naturalistische Schule eines Descartes eine Anzahl Männer hervorbrachte, die in erster Linie dazu berufen waren, die seither beinahe nur in dilettantischer Empirie dunkel umhertastende Naturkunde zu einer exakten, methodisch forschenden Wissenschaft emporzuheben. Allen voran leuchtet unter den Zeitgenossen das Dreigestirn Laplace-Lavoisier-Lamarck. Aber das helle Rot, das von diesem Dreigestirn aus über das nun folgende naturwissenschaftliche Zeitalter hinwegstrahlt, rührt nicht bloß vom Schein der Morgenröte her, die sich endlich um geistigen Himmel einer neuaubrecheudeu Aufklärung zeigt, sondern deutet auch mahnend und dräuend auf Lavoisiers freventlich vergossenes Lebensblut hiu. Die Meuscheu- bestien der französischen Revolution scheuten selbst nicht davor zurück, ein im Dienste der höchsten Wissenschaft stehendes Menschenleben ihren atavistischer Trieben zu opfern. I" Frankreichs Hauptstadt erblühte damals zwischen rauchenden Barrikaden¬ trümmern und auf einem Boden, der sich an Menschenblut satt getrunken, die schon ein volles Säkulum bestehende Anatomie des sciences zu neuem Leben. Auf Jahrzehnte hinaus wurde sie zur wichtigsten Pflanzstätte der jung und 'nächtig aufkeimenden Naturwissenschaften. Wo immer in der gebildeten Welt «u Anfang des neunzehnten Jahrhunderts anf naturwissenschaftlichem Gebiet eine wichtige Entdeckung gemacht, eine umsichtige Hypothese aufgestellt wurde.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/275>, abgerufen am 24.07.2024.