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Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

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Graf poccis Aasperlkomödie" und die Marionetteiilmhne

Verballhornung der alten Märchenstoffe schafft hier im Grunde ein sehr
sicherer künstlerischer Takt, der seine Aufgabe, seine Mittel und seine stilistischen
Gesetze kennt. Die Märchenstoffe sind nicht von ungefähr oder bloß der
Kinder wegen gewählt und bearbeitet, sondern weil die kleine Bühne das
Unwirkliche, Übermenschliche nicht nur zuläßt, sondern geradezu herausfordert.
Und nicht zuletzt deshalb, weil die Romantik die natürliche geistige Heimat des
Volkes wie der Dichtung überhaupt ist, die ihre Wurzeln an den mystischen
Quellen nähren muß, wenn sie kräftig gedeihen soll. Der Kasperl Larifari ist nicht
nur Münchener Lokalfigur, sondern zugleich ein Angehöriger jenes uralten
Geschlechtes, das von Anfang an auf der Marionettenbühne zu Hause war, und
dessen Ahnherr im Altertum im Rang der Götter stand, ein Schreckgespenst, das,
wie die Sage berichtet, gestürzt worden war und seitdem ein verlachtes und verachtetes
Dasein führt. In allen Ländern und Zeiten hat er den Charakter und den Namen
angenommen, die ihm als Spaßmacher das Volk oder die Zeit gab. Er war
sozusagen der Hofnarr des Volkes, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen
brauchte und der, wenn er auch öfter Prügel dafür bekam, doch das Vorrecht
hatte, die Wahrheit zu sagen, Mißstände geißeln, hohe Herren verspotten und
Unsitten tadeln durfte in Zeiten, wo die Zensur streng war und kein andrer
Ausweg blieb, als den Schnupf mit Scherz zu maskieren und etwas Ernstgemeintes
im Spaß zu sagen. Dieser Kasperl Larifari erscheint nun fast als die einzige
naturalistische Erscheinung, aber im Zusammenspiel ist sie nur auf die parodistische
Wirkung berechnet. Pocal tut das, was in diesem Fall einzig richtig ist, er vermeidet
den Realismus der großen Bühne, und wo er die Wirklichkeit braucht, um seine
Überlegenheit an ihr zu messen, da ahmt er sie nicht nach, sondern er entlarvt
sie, offenbart ihre Schwächen und ihre Unzulänglichkeiten, verhöhnt sie und gibt
sie dem Gelächter preis. Er bedient sich der Harmonie des Kontrastes wie Shakespeare,
der dasselbe mit seinen Clown- und Rüpelszenen inmitten der tragischsten Augen¬
blicke meint. Aber auch in den romantischen Bestandteilen seiner Stücke verfährt
Pocal nicht anders als in den realistischen. Er steigert die romantische Empfindsamkeit
bis zum unerträglichen sentimentalen Schwulst genan so, wie er den banalen
Realismus des "asperl über die Wirklichkeit hinaus übertreibt, und durch die Über¬
treibung überwindet. Genau so überwindet er durch das llbermaß die krankhafte
Romantik. Keinen Augenblick kann man daran zweifeln, das dieser sentimentale
Schwulst nicht ernsthaft gemeint ist. Er tut dasselbe, was vor ihm, mit ungewöhnlich
größerer dichterischer Kraft und Selbstbeständigkeit, der österreichische Dichter
Ferdinand Raimund getan hat. Pocal als Marivnettendichter mußte drastisch sein,
um aus dem Kleinen ins Große zu wirken; er mußte komisch sein, um ernsthaft
SU erscheinen^ er mußte grotesk werden, um natürlich zu bleiben, und mußte das
Banate sowie das krankhaft Romantische übertreiben, um zu seinen befreienden
Wirkungen zu gelangen. Er hat den großen Stil, der der kleinen Bühne zukommt
,
Joseph Aug. Lux und den sie in ihren besten Zeiten gehabt hat.




Graf poccis Aasperlkomödie» und die Marionetteiilmhne

Verballhornung der alten Märchenstoffe schafft hier im Grunde ein sehr
sicherer künstlerischer Takt, der seine Aufgabe, seine Mittel und seine stilistischen
Gesetze kennt. Die Märchenstoffe sind nicht von ungefähr oder bloß der
Kinder wegen gewählt und bearbeitet, sondern weil die kleine Bühne das
Unwirkliche, Übermenschliche nicht nur zuläßt, sondern geradezu herausfordert.
Und nicht zuletzt deshalb, weil die Romantik die natürliche geistige Heimat des
Volkes wie der Dichtung überhaupt ist, die ihre Wurzeln an den mystischen
Quellen nähren muß, wenn sie kräftig gedeihen soll. Der Kasperl Larifari ist nicht
nur Münchener Lokalfigur, sondern zugleich ein Angehöriger jenes uralten
Geschlechtes, das von Anfang an auf der Marionettenbühne zu Hause war, und
dessen Ahnherr im Altertum im Rang der Götter stand, ein Schreckgespenst, das,
wie die Sage berichtet, gestürzt worden war und seitdem ein verlachtes und verachtetes
Dasein führt. In allen Ländern und Zeiten hat er den Charakter und den Namen
angenommen, die ihm als Spaßmacher das Volk oder die Zeit gab. Er war
sozusagen der Hofnarr des Volkes, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen
brauchte und der, wenn er auch öfter Prügel dafür bekam, doch das Vorrecht
hatte, die Wahrheit zu sagen, Mißstände geißeln, hohe Herren verspotten und
Unsitten tadeln durfte in Zeiten, wo die Zensur streng war und kein andrer
Ausweg blieb, als den Schnupf mit Scherz zu maskieren und etwas Ernstgemeintes
im Spaß zu sagen. Dieser Kasperl Larifari erscheint nun fast als die einzige
naturalistische Erscheinung, aber im Zusammenspiel ist sie nur auf die parodistische
Wirkung berechnet. Pocal tut das, was in diesem Fall einzig richtig ist, er vermeidet
den Realismus der großen Bühne, und wo er die Wirklichkeit braucht, um seine
Überlegenheit an ihr zu messen, da ahmt er sie nicht nach, sondern er entlarvt
sie, offenbart ihre Schwächen und ihre Unzulänglichkeiten, verhöhnt sie und gibt
sie dem Gelächter preis. Er bedient sich der Harmonie des Kontrastes wie Shakespeare,
der dasselbe mit seinen Clown- und Rüpelszenen inmitten der tragischsten Augen¬
blicke meint. Aber auch in den romantischen Bestandteilen seiner Stücke verfährt
Pocal nicht anders als in den realistischen. Er steigert die romantische Empfindsamkeit
bis zum unerträglichen sentimentalen Schwulst genan so, wie er den banalen
Realismus des »asperl über die Wirklichkeit hinaus übertreibt, und durch die Über¬
treibung überwindet. Genau so überwindet er durch das llbermaß die krankhafte
Romantik. Keinen Augenblick kann man daran zweifeln, das dieser sentimentale
Schwulst nicht ernsthaft gemeint ist. Er tut dasselbe, was vor ihm, mit ungewöhnlich
größerer dichterischer Kraft und Selbstbeständigkeit, der österreichische Dichter
Ferdinand Raimund getan hat. Pocal als Marivnettendichter mußte drastisch sein,
um aus dem Kleinen ins Große zu wirken; er mußte komisch sein, um ernsthaft
SU erscheinen^ er mußte grotesk werden, um natürlich zu bleiben, und mußte das
Banate sowie das krankhaft Romantische übertreiben, um zu seinen befreienden
Wirkungen zu gelangen. Er hat den großen Stil, der der kleinen Bühne zukommt
,
Joseph Aug. Lux und den sie in ihren besten Zeiten gehabt hat.




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[0251] Graf poccis Aasperlkomödie» und die Marionetteiilmhne Verballhornung der alten Märchenstoffe schafft hier im Grunde ein sehr sicherer künstlerischer Takt, der seine Aufgabe, seine Mittel und seine stilistischen Gesetze kennt. Die Märchenstoffe sind nicht von ungefähr oder bloß der Kinder wegen gewählt und bearbeitet, sondern weil die kleine Bühne das Unwirkliche, Übermenschliche nicht nur zuläßt, sondern geradezu herausfordert. Und nicht zuletzt deshalb, weil die Romantik die natürliche geistige Heimat des Volkes wie der Dichtung überhaupt ist, die ihre Wurzeln an den mystischen Quellen nähren muß, wenn sie kräftig gedeihen soll. Der Kasperl Larifari ist nicht nur Münchener Lokalfigur, sondern zugleich ein Angehöriger jenes uralten Geschlechtes, das von Anfang an auf der Marionettenbühne zu Hause war, und dessen Ahnherr im Altertum im Rang der Götter stand, ein Schreckgespenst, das, wie die Sage berichtet, gestürzt worden war und seitdem ein verlachtes und verachtetes Dasein führt. In allen Ländern und Zeiten hat er den Charakter und den Namen angenommen, die ihm als Spaßmacher das Volk oder die Zeit gab. Er war sozusagen der Hofnarr des Volkes, der kein Blatt vor den Mund zu nehmen brauchte und der, wenn er auch öfter Prügel dafür bekam, doch das Vorrecht hatte, die Wahrheit zu sagen, Mißstände geißeln, hohe Herren verspotten und Unsitten tadeln durfte in Zeiten, wo die Zensur streng war und kein andrer Ausweg blieb, als den Schnupf mit Scherz zu maskieren und etwas Ernstgemeintes im Spaß zu sagen. Dieser Kasperl Larifari erscheint nun fast als die einzige naturalistische Erscheinung, aber im Zusammenspiel ist sie nur auf die parodistische Wirkung berechnet. Pocal tut das, was in diesem Fall einzig richtig ist, er vermeidet den Realismus der großen Bühne, und wo er die Wirklichkeit braucht, um seine Überlegenheit an ihr zu messen, da ahmt er sie nicht nach, sondern er entlarvt sie, offenbart ihre Schwächen und ihre Unzulänglichkeiten, verhöhnt sie und gibt sie dem Gelächter preis. Er bedient sich der Harmonie des Kontrastes wie Shakespeare, der dasselbe mit seinen Clown- und Rüpelszenen inmitten der tragischsten Augen¬ blicke meint. Aber auch in den romantischen Bestandteilen seiner Stücke verfährt Pocal nicht anders als in den realistischen. Er steigert die romantische Empfindsamkeit bis zum unerträglichen sentimentalen Schwulst genan so, wie er den banalen Realismus des »asperl über die Wirklichkeit hinaus übertreibt, und durch die Über¬ treibung überwindet. Genau so überwindet er durch das llbermaß die krankhafte Romantik. Keinen Augenblick kann man daran zweifeln, das dieser sentimentale Schwulst nicht ernsthaft gemeint ist. Er tut dasselbe, was vor ihm, mit ungewöhnlich größerer dichterischer Kraft und Selbstbeständigkeit, der österreichische Dichter Ferdinand Raimund getan hat. Pocal als Marivnettendichter mußte drastisch sein, um aus dem Kleinen ins Große zu wirken; er mußte komisch sein, um ernsthaft SU erscheinen^ er mußte grotesk werden, um natürlich zu bleiben, und mußte das Banate sowie das krankhaft Romantische übertreiben, um zu seinen befreienden Wirkungen zu gelangen. Er hat den großen Stil, der der kleinen Bühne zukommt , Joseph Aug. Lux und den sie in ihren besten Zeiten gehabt hat.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/251>, abgerufen am 04.07.2024.