Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Wir Schwerfälligen

Weiberröcke. Aber rings um den Sarg gingen all die dunkeln bleichen Arbeiterinnen
Tatavlcis. Und überall, wohin der Zug kam, blieben die Menschen stehen und
entblößten das Haupt. Einige küßten die flatternden Kleider des Priesters. Und
nach griechischer Sitte wurde allen des Weges Kommenden Konfekt angeboten wie
bei einer Hochzeit.

In einer Quergasse begegnete ein junger Türke der Prozession. Er konnte
weder vor- noch zurückgehen und mußte stehenbleiben, bis alles an ihm vorbei war.
Da sah er das junge, bräutlich geschmückte Mädchen, weißgekleidet in ihrem weißen
Sarge, die goldene Glorie des Haares um die Stirne.

Kaum hatte er ihren Namen gewußt und niemals hatte er ihre fernschauenden
Augen unter seinem magnitisierenden Blicke einfangen können. Nun aber, da sie
weit von ihm fortgetragen wurde, war es ihm, als habe sie seinem Herzen nahe
gestanden.

Als letzte der Tatavlamädchen geht eine dunkle hochgewachsene Gestalt. Die
Tränen haben all das Carmen-Gefunkel in ihren schwarzen Augen verlöscht.
Während der Zug in einer anderen Gasse verschwindet, wendet sie sich um, hinter
den anderen zögernd. Und als er sie ansieht, beugt sie ihr Haupt in müder
Unterwürfigkeit.

Aber weit, weit fort von ihm trägt man die kleine weiße Braut.




Mr Schwerfälligen
Wir alle, die mit Gott und Teufel stritten,
Sind still von Wesen und von schwerem Schritt.
Von allen Leidenschaften, die wir litten,
Gehn viel zu fremde Dinge mit uns mit. Das hindert uns die tosende Gebärde
Und läßt uns stumm mit leeren Händen stehn,
Indessen andre in die Frühlingserde
Die leichten Körner ihrer Hoffnung sa'n. Wir sind die Menschen, die zu vieles lernten,
Der Hemmung voll im Angesicht der Tat;
Wenn andre längst geborgen ihre Ernten,
Dann schreitet unser Schweigen erst zur Saat. Demütig knien wir am Wege nieder,
streift unsern Scheitel je des Lebens Wehn.
Und hat doch jeder auf dem Haupt der Brüder
Die nie erschaute Krone blitzen sehnt

Lothar Brieger-Wasservogel
Wir Schwerfälligen

Weiberröcke. Aber rings um den Sarg gingen all die dunkeln bleichen Arbeiterinnen
Tatavlcis. Und überall, wohin der Zug kam, blieben die Menschen stehen und
entblößten das Haupt. Einige küßten die flatternden Kleider des Priesters. Und
nach griechischer Sitte wurde allen des Weges Kommenden Konfekt angeboten wie
bei einer Hochzeit.

In einer Quergasse begegnete ein junger Türke der Prozession. Er konnte
weder vor- noch zurückgehen und mußte stehenbleiben, bis alles an ihm vorbei war.
Da sah er das junge, bräutlich geschmückte Mädchen, weißgekleidet in ihrem weißen
Sarge, die goldene Glorie des Haares um die Stirne.

Kaum hatte er ihren Namen gewußt und niemals hatte er ihre fernschauenden
Augen unter seinem magnitisierenden Blicke einfangen können. Nun aber, da sie
weit von ihm fortgetragen wurde, war es ihm, als habe sie seinem Herzen nahe
gestanden.

Als letzte der Tatavlamädchen geht eine dunkle hochgewachsene Gestalt. Die
Tränen haben all das Carmen-Gefunkel in ihren schwarzen Augen verlöscht.
Während der Zug in einer anderen Gasse verschwindet, wendet sie sich um, hinter
den anderen zögernd. Und als er sie ansieht, beugt sie ihr Haupt in müder
Unterwürfigkeit.

Aber weit, weit fort von ihm trägt man die kleine weiße Braut.




Mr Schwerfälligen
Wir alle, die mit Gott und Teufel stritten,
Sind still von Wesen und von schwerem Schritt.
Von allen Leidenschaften, die wir litten,
Gehn viel zu fremde Dinge mit uns mit. Das hindert uns die tosende Gebärde
Und läßt uns stumm mit leeren Händen stehn,
Indessen andre in die Frühlingserde
Die leichten Körner ihrer Hoffnung sa'n. Wir sind die Menschen, die zu vieles lernten,
Der Hemmung voll im Angesicht der Tat;
Wenn andre längst geborgen ihre Ernten,
Dann schreitet unser Schweigen erst zur Saat. Demütig knien wir am Wege nieder,
streift unsern Scheitel je des Lebens Wehn.
Und hat doch jeder auf dem Haupt der Brüder
Die nie erschaute Krone blitzen sehnt

Lothar Brieger-Wasservogel
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0243" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315240"/>
          <fw type="header" place="top"> Wir Schwerfälligen</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_954" prev="#ID_953"> Weiberröcke. Aber rings um den Sarg gingen all die dunkeln bleichen Arbeiterinnen<lb/>
Tatavlcis. Und überall, wohin der Zug kam, blieben die Menschen stehen und<lb/>
entblößten das Haupt. Einige küßten die flatternden Kleider des Priesters. Und<lb/>
nach griechischer Sitte wurde allen des Weges Kommenden Konfekt angeboten wie<lb/>
bei einer Hochzeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_955"> In einer Quergasse begegnete ein junger Türke der Prozession. Er konnte<lb/>
weder vor- noch zurückgehen und mußte stehenbleiben, bis alles an ihm vorbei war.<lb/>
Da sah er das junge, bräutlich geschmückte Mädchen, weißgekleidet in ihrem weißen<lb/>
Sarge, die goldene Glorie des Haares um die Stirne.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_956"> Kaum hatte er ihren Namen gewußt und niemals hatte er ihre fernschauenden<lb/>
Augen unter seinem magnitisierenden Blicke einfangen können. Nun aber, da sie<lb/>
weit von ihm fortgetragen wurde, war es ihm, als habe sie seinem Herzen nahe<lb/>
gestanden.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_957"> Als letzte der Tatavlamädchen geht eine dunkle hochgewachsene Gestalt. Die<lb/>
Tränen haben all das Carmen-Gefunkel in ihren schwarzen Augen verlöscht.<lb/>
Während der Zug in einer anderen Gasse verschwindet, wendet sie sich um, hinter<lb/>
den anderen zögernd. Und als er sie ansieht, beugt sie ihr Haupt in müder<lb/>
Unterwürfigkeit.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_958"> Aber weit, weit fort von ihm trägt man die kleine weiße Braut.</p><lb/>
          <milestone rendition="#hr" unit="section"/><lb/>
          <lg xml:id="POEMID_7" type="poem">
            <head> Mr Schwerfälligen</head>
            <l> Wir alle, die mit Gott und Teufel stritten,<lb/>
Sind still von Wesen und von schwerem Schritt.<lb/>
Von allen Leidenschaften, die wir litten,<lb/>
Gehn viel zu fremde Dinge mit uns mit. Das hindert uns die tosende Gebärde<lb/>
Und läßt uns stumm mit leeren Händen stehn,<lb/>
Indessen andre in die Frühlingserde<lb/>
Die leichten Körner ihrer Hoffnung sa'n. Wir sind die Menschen, die zu vieles lernten,<lb/>
Der Hemmung voll im Angesicht der Tat;<lb/>
Wenn andre längst geborgen ihre Ernten,<lb/>
Dann schreitet unser Schweigen erst zur Saat. Demütig knien wir am Wege nieder,<lb/>
streift unsern Scheitel je des Lebens Wehn.<lb/>
Und hat doch jeder auf dem Haupt der Brüder<lb/>
Die nie erschaute Krone blitzen sehnt </l>
          </lg><lb/>
          <note type="byline"> Lothar Brieger-Wasservogel</note><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0243] Wir Schwerfälligen Weiberröcke. Aber rings um den Sarg gingen all die dunkeln bleichen Arbeiterinnen Tatavlcis. Und überall, wohin der Zug kam, blieben die Menschen stehen und entblößten das Haupt. Einige küßten die flatternden Kleider des Priesters. Und nach griechischer Sitte wurde allen des Weges Kommenden Konfekt angeboten wie bei einer Hochzeit. In einer Quergasse begegnete ein junger Türke der Prozession. Er konnte weder vor- noch zurückgehen und mußte stehenbleiben, bis alles an ihm vorbei war. Da sah er das junge, bräutlich geschmückte Mädchen, weißgekleidet in ihrem weißen Sarge, die goldene Glorie des Haares um die Stirne. Kaum hatte er ihren Namen gewußt und niemals hatte er ihre fernschauenden Augen unter seinem magnitisierenden Blicke einfangen können. Nun aber, da sie weit von ihm fortgetragen wurde, war es ihm, als habe sie seinem Herzen nahe gestanden. Als letzte der Tatavlamädchen geht eine dunkle hochgewachsene Gestalt. Die Tränen haben all das Carmen-Gefunkel in ihren schwarzen Augen verlöscht. Während der Zug in einer anderen Gasse verschwindet, wendet sie sich um, hinter den anderen zögernd. Und als er sie ansieht, beugt sie ihr Haupt in müder Unterwürfigkeit. Aber weit, weit fort von ihm trägt man die kleine weiße Braut. Mr Schwerfälligen Wir alle, die mit Gott und Teufel stritten, Sind still von Wesen und von schwerem Schritt. Von allen Leidenschaften, die wir litten, Gehn viel zu fremde Dinge mit uns mit. Das hindert uns die tosende Gebärde Und läßt uns stumm mit leeren Händen stehn, Indessen andre in die Frühlingserde Die leichten Körner ihrer Hoffnung sa'n. Wir sind die Menschen, die zu vieles lernten, Der Hemmung voll im Angesicht der Tat; Wenn andre längst geborgen ihre Ernten, Dann schreitet unser Schweigen erst zur Saat. Demütig knien wir am Wege nieder, streift unsern Scheitel je des Lebens Wehn. Und hat doch jeder auf dem Haupt der Brüder Die nie erschaute Krone blitzen sehnt Lothar Brieger-Wasservogel

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/243
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/243>, abgerufen am 04.07.2024.