Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Ernst Moritz Arndt

Philosophie entfernt und um schlicht heraus ein einiges Deutschland predigt,
in dem Freiheit, natürliche Stärke und Religiosität herrschen möge.

Noch trennen ihn wenige Jahre von diesem besten Schaffen. Nach der
Schlacht bei Jena muß er Greifswald verlassen, wenn er nicht durch ein
französisches Gericht enden will wie der Buchhändler Palm, dem seine Schrift
"Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" das Leben kostete. Er bringt drei
Jahre in Schweden zu, wo er Arbeiten für die Regierung (Übersetzungen von
Gesetzen und Ankündigungen für Rügen und Pommern) und anderes findet.
Schills Zug sowie der Sturz des franzosenfeindlichen Königs lassen ihn 1809
nach Deutschland zurückkehren. Als Sprachmeister Ullmann trifft er mit Berliner
Patrioten zusammen. 1810 kann er in dem an Schweden zurückgefallenen Greifswald
seine Professur wieder aufnehmen; aber es duldet ihn nicht lange in der Enge.
Der russische Feldzug kündigt sich an, Arndt wagt sich nach Berlin, will nach Rußland,
wohin mancher deutsche Patriot strebt. Da kommt seinem Herzenswunsch die
Aufforderung Steins entgegen, des "Reichsfreiherrn von Stein, der, gleich mir
von Napoleon geächtet, durch einzelne meiner Schriften auf mich aufmerksam
geworden war". (Zu diesen "einzelnen Schriften" des "kleinen Professors in
Greifswald" war 1809 der zweite Teil vom "Geist der Zeit" getreten, ein
ganz vom Haß gegen Napoleon, die "enge, treulose, blutige Seele" erfülltes
Werk.) Und nun, in Rußland und Deutschland, als Hilfsarbeiter und Privat¬
sekretär seines genialen "alten Herrn", durchlebt Arndt seine gewaltigste Zeit.
Er hat sie doppelt beschrieben, außer in den Erinnerungen auch in den mit
88 Jahren verfaßten, aber köstlich und unbeschreiblich frischen "Wanderungen
und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein".
Arndt sieht alle Schrecken des russischen Feldzuges -- "o könnte ein stolzer
Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht!" --,
und nur dies Grauenvolle erklärt den unendlichen, rasend fanatischen Haß gegen
Napoleon, der sich nnn in Flugschrift um Flugschrift, in Gedicht um Gedicht
entlädt. Aber neben und über dem Haß steht verklärend die wundervolle Liebe
zum Vaterland, die unerschütterliche Hoffnung auf kommende Tage. Und Vers
wie Prosa sind gehoben durch biblische Töne, die nicht als kunstvolle Kopien
wirken, weil sie immer aus echtesten Gefühl vorsprudeln. Später, als ein Teil
der Befreiungsarbeit getan ist, mischt sich in diese Schriften etwas mehr praktische
Politik, aber die Begeisterung, der dichterische Schwung leiden nicht darunter.
"Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze" bietet als
Dichtung keinen geringeren Genuß als unter den: Gesichtswinkel einer politischen
Studie. Die eigentlichen Gedichte voll rcmhester Volkstümlichkeit, voll wildester
Begeisterung, diese Kampfaufrufe und Lobpreisungen einzelner Helden sind auch
heute noch zu lebendig, als daß sie erst namhaft gemacht zu werden brauchten.
Zwar das Fragelied nach "Des Deutschen Vaterland" kann nicht mehr National¬
hymne sein, seitdem die Frage beantwortet ist und nicht in Arndts weitem
Sinne beantwortet werden konnte; aber vergessen kann es niemals werden.


Ernst Moritz Arndt

Philosophie entfernt und um schlicht heraus ein einiges Deutschland predigt,
in dem Freiheit, natürliche Stärke und Religiosität herrschen möge.

Noch trennen ihn wenige Jahre von diesem besten Schaffen. Nach der
Schlacht bei Jena muß er Greifswald verlassen, wenn er nicht durch ein
französisches Gericht enden will wie der Buchhändler Palm, dem seine Schrift
„Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" das Leben kostete. Er bringt drei
Jahre in Schweden zu, wo er Arbeiten für die Regierung (Übersetzungen von
Gesetzen und Ankündigungen für Rügen und Pommern) und anderes findet.
Schills Zug sowie der Sturz des franzosenfeindlichen Königs lassen ihn 1809
nach Deutschland zurückkehren. Als Sprachmeister Ullmann trifft er mit Berliner
Patrioten zusammen. 1810 kann er in dem an Schweden zurückgefallenen Greifswald
seine Professur wieder aufnehmen; aber es duldet ihn nicht lange in der Enge.
Der russische Feldzug kündigt sich an, Arndt wagt sich nach Berlin, will nach Rußland,
wohin mancher deutsche Patriot strebt. Da kommt seinem Herzenswunsch die
Aufforderung Steins entgegen, des „Reichsfreiherrn von Stein, der, gleich mir
von Napoleon geächtet, durch einzelne meiner Schriften auf mich aufmerksam
geworden war". (Zu diesen „einzelnen Schriften" des „kleinen Professors in
Greifswald" war 1809 der zweite Teil vom „Geist der Zeit" getreten, ein
ganz vom Haß gegen Napoleon, die „enge, treulose, blutige Seele" erfülltes
Werk.) Und nun, in Rußland und Deutschland, als Hilfsarbeiter und Privat¬
sekretär seines genialen „alten Herrn", durchlebt Arndt seine gewaltigste Zeit.
Er hat sie doppelt beschrieben, außer in den Erinnerungen auch in den mit
88 Jahren verfaßten, aber köstlich und unbeschreiblich frischen „Wanderungen
und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein".
Arndt sieht alle Schrecken des russischen Feldzuges — „o könnte ein stolzer
Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht!" —,
und nur dies Grauenvolle erklärt den unendlichen, rasend fanatischen Haß gegen
Napoleon, der sich nnn in Flugschrift um Flugschrift, in Gedicht um Gedicht
entlädt. Aber neben und über dem Haß steht verklärend die wundervolle Liebe
zum Vaterland, die unerschütterliche Hoffnung auf kommende Tage. Und Vers
wie Prosa sind gehoben durch biblische Töne, die nicht als kunstvolle Kopien
wirken, weil sie immer aus echtesten Gefühl vorsprudeln. Später, als ein Teil
der Befreiungsarbeit getan ist, mischt sich in diese Schriften etwas mehr praktische
Politik, aber die Begeisterung, der dichterische Schwung leiden nicht darunter.
„Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze" bietet als
Dichtung keinen geringeren Genuß als unter den: Gesichtswinkel einer politischen
Studie. Die eigentlichen Gedichte voll rcmhester Volkstümlichkeit, voll wildester
Begeisterung, diese Kampfaufrufe und Lobpreisungen einzelner Helden sind auch
heute noch zu lebendig, als daß sie erst namhaft gemacht zu werden brauchten.
Zwar das Fragelied nach „Des Deutschen Vaterland" kann nicht mehr National¬
hymne sein, seitdem die Frage beantwortet ist und nicht in Arndts weitem
Sinne beantwortet werden konnte; aber vergessen kann es niemals werden.


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0167" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/315164"/>
          <fw type="header" place="top"> Ernst Moritz Arndt</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_536" prev="#ID_535"> Philosophie entfernt und um schlicht heraus ein einiges Deutschland predigt,<lb/>
in dem Freiheit, natürliche Stärke und Religiosität herrschen möge.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_537"> Noch trennen ihn wenige Jahre von diesem besten Schaffen. Nach der<lb/>
Schlacht bei Jena muß er Greifswald verlassen, wenn er nicht durch ein<lb/>
französisches Gericht enden will wie der Buchhändler Palm, dem seine Schrift<lb/>
&#x201E;Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" das Leben kostete. Er bringt drei<lb/>
Jahre in Schweden zu, wo er Arbeiten für die Regierung (Übersetzungen von<lb/>
Gesetzen und Ankündigungen für Rügen und Pommern) und anderes findet.<lb/>
Schills Zug sowie der Sturz des franzosenfeindlichen Königs lassen ihn 1809<lb/>
nach Deutschland zurückkehren. Als Sprachmeister Ullmann trifft er mit Berliner<lb/>
Patrioten zusammen. 1810 kann er in dem an Schweden zurückgefallenen Greifswald<lb/>
seine Professur wieder aufnehmen; aber es duldet ihn nicht lange in der Enge.<lb/>
Der russische Feldzug kündigt sich an, Arndt wagt sich nach Berlin, will nach Rußland,<lb/>
wohin mancher deutsche Patriot strebt. Da kommt seinem Herzenswunsch die<lb/>
Aufforderung Steins entgegen, des &#x201E;Reichsfreiherrn von Stein, der, gleich mir<lb/>
von Napoleon geächtet, durch einzelne meiner Schriften auf mich aufmerksam<lb/>
geworden war". (Zu diesen &#x201E;einzelnen Schriften" des &#x201E;kleinen Professors in<lb/>
Greifswald" war 1809 der zweite Teil vom &#x201E;Geist der Zeit" getreten, ein<lb/>
ganz vom Haß gegen Napoleon, die &#x201E;enge, treulose, blutige Seele" erfülltes<lb/>
Werk.) Und nun, in Rußland und Deutschland, als Hilfsarbeiter und Privat¬<lb/>
sekretär seines genialen &#x201E;alten Herrn", durchlebt Arndt seine gewaltigste Zeit.<lb/>
Er hat sie doppelt beschrieben, außer in den Erinnerungen auch in den mit<lb/>
88 Jahren verfaßten, aber köstlich und unbeschreiblich frischen &#x201E;Wanderungen<lb/>
und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein".<lb/>
Arndt sieht alle Schrecken des russischen Feldzuges &#x2014; &#x201E;o könnte ein stolzer<lb/>
Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht!" &#x2014;,<lb/>
und nur dies Grauenvolle erklärt den unendlichen, rasend fanatischen Haß gegen<lb/>
Napoleon, der sich nnn in Flugschrift um Flugschrift, in Gedicht um Gedicht<lb/>
entlädt. Aber neben und über dem Haß steht verklärend die wundervolle Liebe<lb/>
zum Vaterland, die unerschütterliche Hoffnung auf kommende Tage. Und Vers<lb/>
wie Prosa sind gehoben durch biblische Töne, die nicht als kunstvolle Kopien<lb/>
wirken, weil sie immer aus echtesten Gefühl vorsprudeln. Später, als ein Teil<lb/>
der Befreiungsarbeit getan ist, mischt sich in diese Schriften etwas mehr praktische<lb/>
Politik, aber die Begeisterung, der dichterische Schwung leiden nicht darunter.<lb/>
&#x201E;Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze" bietet als<lb/>
Dichtung keinen geringeren Genuß als unter den: Gesichtswinkel einer politischen<lb/>
Studie. Die eigentlichen Gedichte voll rcmhester Volkstümlichkeit, voll wildester<lb/>
Begeisterung, diese Kampfaufrufe und Lobpreisungen einzelner Helden sind auch<lb/>
heute noch zu lebendig, als daß sie erst namhaft gemacht zu werden brauchten.<lb/>
Zwar das Fragelied nach &#x201E;Des Deutschen Vaterland" kann nicht mehr National¬<lb/>
hymne sein, seitdem die Frage beantwortet ist und nicht in Arndts weitem<lb/>
Sinne beantwortet werden konnte; aber vergessen kann es niemals werden.</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0167] Ernst Moritz Arndt Philosophie entfernt und um schlicht heraus ein einiges Deutschland predigt, in dem Freiheit, natürliche Stärke und Religiosität herrschen möge. Noch trennen ihn wenige Jahre von diesem besten Schaffen. Nach der Schlacht bei Jena muß er Greifswald verlassen, wenn er nicht durch ein französisches Gericht enden will wie der Buchhändler Palm, dem seine Schrift „Deutschland in seiner tiefsten Erniedrigung" das Leben kostete. Er bringt drei Jahre in Schweden zu, wo er Arbeiten für die Regierung (Übersetzungen von Gesetzen und Ankündigungen für Rügen und Pommern) und anderes findet. Schills Zug sowie der Sturz des franzosenfeindlichen Königs lassen ihn 1809 nach Deutschland zurückkehren. Als Sprachmeister Ullmann trifft er mit Berliner Patrioten zusammen. 1810 kann er in dem an Schweden zurückgefallenen Greifswald seine Professur wieder aufnehmen; aber es duldet ihn nicht lange in der Enge. Der russische Feldzug kündigt sich an, Arndt wagt sich nach Berlin, will nach Rußland, wohin mancher deutsche Patriot strebt. Da kommt seinem Herzenswunsch die Aufforderung Steins entgegen, des „Reichsfreiherrn von Stein, der, gleich mir von Napoleon geächtet, durch einzelne meiner Schriften auf mich aufmerksam geworden war". (Zu diesen „einzelnen Schriften" des „kleinen Professors in Greifswald" war 1809 der zweite Teil vom „Geist der Zeit" getreten, ein ganz vom Haß gegen Napoleon, die „enge, treulose, blutige Seele" erfülltes Werk.) Und nun, in Rußland und Deutschland, als Hilfsarbeiter und Privat¬ sekretär seines genialen „alten Herrn", durchlebt Arndt seine gewaltigste Zeit. Er hat sie doppelt beschrieben, außer in den Erinnerungen auch in den mit 88 Jahren verfaßten, aber köstlich und unbeschreiblich frischen „Wanderungen und Wandelungen mit dem Reichsfreiherrn Heinrich Karl Friedrich von Stein". Arndt sieht alle Schrecken des russischen Feldzuges — „o könnte ein stolzer Eroberer weinen, wie er die Mütter von Hunderttausenden weinen macht!" —, und nur dies Grauenvolle erklärt den unendlichen, rasend fanatischen Haß gegen Napoleon, der sich nnn in Flugschrift um Flugschrift, in Gedicht um Gedicht entlädt. Aber neben und über dem Haß steht verklärend die wundervolle Liebe zum Vaterland, die unerschütterliche Hoffnung auf kommende Tage. Und Vers wie Prosa sind gehoben durch biblische Töne, die nicht als kunstvolle Kopien wirken, weil sie immer aus echtesten Gefühl vorsprudeln. Später, als ein Teil der Befreiungsarbeit getan ist, mischt sich in diese Schriften etwas mehr praktische Politik, aber die Begeisterung, der dichterische Schwung leiden nicht darunter. „Der Rhein, Deutschlands Strom, aber nicht Deutschlands Grenze" bietet als Dichtung keinen geringeren Genuß als unter den: Gesichtswinkel einer politischen Studie. Die eigentlichen Gedichte voll rcmhester Volkstümlichkeit, voll wildester Begeisterung, diese Kampfaufrufe und Lobpreisungen einzelner Helden sind auch heute noch zu lebendig, als daß sie erst namhaft gemacht zu werden brauchten. Zwar das Fragelied nach „Des Deutschen Vaterland" kann nicht mehr National¬ hymne sein, seitdem die Frage beantwortet ist und nicht in Arndts weitem Sinne beantwortet werden konnte; aber vergessen kann es niemals werden.

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/167
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 69, 1910, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341891_314996/167>, abgerufen am 04.07.2024.