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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Wie retten wir unsre alten Volkslieder?

Wie "Müde kehrt der Wandersmann zurück", "Wie die Blümlein draußen zittern"
und ähnliche schreckliche Früchte der Dienstbotenromantik, die sich irgendwie
Luft machen muß, sind nicht länger möglich und auch nicht nötig, da, wo erst
einmal wieder die alten, schlicht köstlichen Weisen wie "Jetzt gang i ans
Brünnele", "Mein Schatz, der ist auf die Wanderschaft hin", "Ach Gott, wie
weh tut scheiden", "All meine Gedanken", "Da unten im Tale läufts Wasser
so trüb" und das uralte, ewig schöne, ewig mächtige Lied "von den Königs¬
kindern" von Jugend auf in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wo singt
sie noch das Volk? Nirgends. Man kennt sie noch so ein klein wenig, hier
und da erinnert sich einer dumpf, daß Mutter das sang oder Großmutter
vielleicht, aber sie wirklich singen, spontan, aus der Stimmung heraus, mit all
den vielen und nie zu vielen Versen -- das tut keiner mehr. Und doch sind
sie aus dem Volke hervorgegangen; und das Volk würde sein Eigentum wieder¬
kennen und nicht verleugnen, wenn sie ihm wieder nahe gebracht würden.

Das ist eben Aufgabe der Schulen, wurde mir gesagt. Und dem Schul¬
gesang wird ja jetzt auch große Aufmerksamkeit gezollt, die Liederbücher sind
verbessert und auch wieder ganz besonders das Volkslied.

Ich hörte wieder höflich zu und dachte: Es soll mich freuen!

Daraufhin trat ich einen kleinen Rekognoszierungszug an. Ich weiß nicht,
ob einer von den Leuten, die alles zählen heutzutage, auch schon einmal gezählt
hat, wieviel "Neue verbesserte und revidierte Liederbücher für den Gebrauch an
Volks- und Mittelschulen" es im Deutschen Reiche gibt -- dreitausend wird
bei weitem zu niedrig gegriffen sein. Es ist, wie es scheint unmöglich, ein
einziges, aber dafür gutes Lehrbuch für alle Schulen zu schaffen. Warum,
ist nur unklar, denn verzweifelt ähnlich sehen sich alle diese "Liederschatze" und
diabolisch ähnlich darin, daß ausnahmslos alles Beste vom Guten weggelassen
ist und das Gute, was blieb, verwässert und verbessert". Gewiß ist ja nach
Ansicht der Schulräte das alte "Ach, wie ists möglich dann, daß ich dich lassen
kann" bedeutend schöner in der neuen "sittlich gereinigten" Fassung:

aber ist so etwas einem gesund denkenden Menschen nicht gräßlich? Dann lieber
ganz weg damit, wenn man wirklich glaubt, der einfache, innige alte Text:

könnte irgendein Kind sittlich schädigen! Das liebe, so echt deutsche "Muß i
denn" bleibt auch entweder ganz weg oder ist inhaltlich völlig entstellt. Es
ist ja auch darin vom "Schatz" die Rede -- entsetzlich! Dafür ist von Silcher,
Curschmann, Himmel usw. so viel da, als man nur immer verlangen kann -- weit,
weit mehr jedenfalls, als ich verlange! Vermissen wird man in allen Fällen
die echten Kinderlieder "Von den zwei Hasen", "Sonne hat sich müd gelaufen",
"Schlaf in guter Ruh", "Suma, suam", und viele andre, die für die Kleinsten
gerade recht gemacht sind. Wenn man ein der richtigen Stelle ein wenig graben


Wie retten wir unsre alten Volkslieder?

Wie „Müde kehrt der Wandersmann zurück", „Wie die Blümlein draußen zittern"
und ähnliche schreckliche Früchte der Dienstbotenromantik, die sich irgendwie
Luft machen muß, sind nicht länger möglich und auch nicht nötig, da, wo erst
einmal wieder die alten, schlicht köstlichen Weisen wie „Jetzt gang i ans
Brünnele", „Mein Schatz, der ist auf die Wanderschaft hin", „Ach Gott, wie
weh tut scheiden", „All meine Gedanken", „Da unten im Tale läufts Wasser
so trüb" und das uralte, ewig schöne, ewig mächtige Lied „von den Königs¬
kindern" von Jugend auf in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wo singt
sie noch das Volk? Nirgends. Man kennt sie noch so ein klein wenig, hier
und da erinnert sich einer dumpf, daß Mutter das sang oder Großmutter
vielleicht, aber sie wirklich singen, spontan, aus der Stimmung heraus, mit all
den vielen und nie zu vielen Versen — das tut keiner mehr. Und doch sind
sie aus dem Volke hervorgegangen; und das Volk würde sein Eigentum wieder¬
kennen und nicht verleugnen, wenn sie ihm wieder nahe gebracht würden.

Das ist eben Aufgabe der Schulen, wurde mir gesagt. Und dem Schul¬
gesang wird ja jetzt auch große Aufmerksamkeit gezollt, die Liederbücher sind
verbessert und auch wieder ganz besonders das Volkslied.

Ich hörte wieder höflich zu und dachte: Es soll mich freuen!

Daraufhin trat ich einen kleinen Rekognoszierungszug an. Ich weiß nicht,
ob einer von den Leuten, die alles zählen heutzutage, auch schon einmal gezählt
hat, wieviel „Neue verbesserte und revidierte Liederbücher für den Gebrauch an
Volks- und Mittelschulen" es im Deutschen Reiche gibt — dreitausend wird
bei weitem zu niedrig gegriffen sein. Es ist, wie es scheint unmöglich, ein
einziges, aber dafür gutes Lehrbuch für alle Schulen zu schaffen. Warum,
ist nur unklar, denn verzweifelt ähnlich sehen sich alle diese „Liederschatze" und
diabolisch ähnlich darin, daß ausnahmslos alles Beste vom Guten weggelassen
ist und das Gute, was blieb, verwässert und verbessert". Gewiß ist ja nach
Ansicht der Schulräte das alte „Ach, wie ists möglich dann, daß ich dich lassen
kann" bedeutend schöner in der neuen „sittlich gereinigten" Fassung:

aber ist so etwas einem gesund denkenden Menschen nicht gräßlich? Dann lieber
ganz weg damit, wenn man wirklich glaubt, der einfache, innige alte Text:

könnte irgendein Kind sittlich schädigen! Das liebe, so echt deutsche „Muß i
denn" bleibt auch entweder ganz weg oder ist inhaltlich völlig entstellt. Es
ist ja auch darin vom „Schatz" die Rede — entsetzlich! Dafür ist von Silcher,
Curschmann, Himmel usw. so viel da, als man nur immer verlangen kann — weit,
weit mehr jedenfalls, als ich verlange! Vermissen wird man in allen Fällen
die echten Kinderlieder „Von den zwei Hasen", „Sonne hat sich müd gelaufen",
„Schlaf in guter Ruh", „Suma, suam", und viele andre, die für die Kleinsten
gerade recht gemacht sind. Wenn man ein der richtigen Stelle ein wenig graben


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[0087] Wie retten wir unsre alten Volkslieder? Wie „Müde kehrt der Wandersmann zurück", „Wie die Blümlein draußen zittern" und ähnliche schreckliche Früchte der Dienstbotenromantik, die sich irgendwie Luft machen muß, sind nicht länger möglich und auch nicht nötig, da, wo erst einmal wieder die alten, schlicht köstlichen Weisen wie „Jetzt gang i ans Brünnele", „Mein Schatz, der ist auf die Wanderschaft hin", „Ach Gott, wie weh tut scheiden", „All meine Gedanken", „Da unten im Tale läufts Wasser so trüb" und das uralte, ewig schöne, ewig mächtige Lied „von den Königs¬ kindern" von Jugend auf in Fleisch und Blut übergegangen sind. Wo singt sie noch das Volk? Nirgends. Man kennt sie noch so ein klein wenig, hier und da erinnert sich einer dumpf, daß Mutter das sang oder Großmutter vielleicht, aber sie wirklich singen, spontan, aus der Stimmung heraus, mit all den vielen und nie zu vielen Versen — das tut keiner mehr. Und doch sind sie aus dem Volke hervorgegangen; und das Volk würde sein Eigentum wieder¬ kennen und nicht verleugnen, wenn sie ihm wieder nahe gebracht würden. Das ist eben Aufgabe der Schulen, wurde mir gesagt. Und dem Schul¬ gesang wird ja jetzt auch große Aufmerksamkeit gezollt, die Liederbücher sind verbessert und auch wieder ganz besonders das Volkslied. Ich hörte wieder höflich zu und dachte: Es soll mich freuen! Daraufhin trat ich einen kleinen Rekognoszierungszug an. Ich weiß nicht, ob einer von den Leuten, die alles zählen heutzutage, auch schon einmal gezählt hat, wieviel „Neue verbesserte und revidierte Liederbücher für den Gebrauch an Volks- und Mittelschulen" es im Deutschen Reiche gibt — dreitausend wird bei weitem zu niedrig gegriffen sein. Es ist, wie es scheint unmöglich, ein einziges, aber dafür gutes Lehrbuch für alle Schulen zu schaffen. Warum, ist nur unklar, denn verzweifelt ähnlich sehen sich alle diese „Liederschatze" und diabolisch ähnlich darin, daß ausnahmslos alles Beste vom Guten weggelassen ist und das Gute, was blieb, verwässert und verbessert". Gewiß ist ja nach Ansicht der Schulräte das alte „Ach, wie ists möglich dann, daß ich dich lassen kann" bedeutend schöner in der neuen „sittlich gereinigten" Fassung: aber ist so etwas einem gesund denkenden Menschen nicht gräßlich? Dann lieber ganz weg damit, wenn man wirklich glaubt, der einfache, innige alte Text: könnte irgendein Kind sittlich schädigen! Das liebe, so echt deutsche „Muß i denn" bleibt auch entweder ganz weg oder ist inhaltlich völlig entstellt. Es ist ja auch darin vom „Schatz" die Rede — entsetzlich! Dafür ist von Silcher, Curschmann, Himmel usw. so viel da, als man nur immer verlangen kann — weit, weit mehr jedenfalls, als ich verlange! Vermissen wird man in allen Fällen die echten Kinderlieder „Von den zwei Hasen", „Sonne hat sich müd gelaufen", „Schlaf in guter Ruh", „Suma, suam", und viele andre, die für die Kleinsten gerade recht gemacht sind. Wenn man ein der richtigen Stelle ein wenig graben

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/87>, abgerufen am 24.07.2024.