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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Die Philosophie des Pragmatismus

recht als allgemeine Wahrheit verkündeten Systemen in Widerstreit geraten
mußten und so nicht ganz mit Unrecht die Vorstellung hervorriefen, daß
in der Philosophie jeder dieser Systemgründer vom andern abgetan würde
und deshalb die Beschäftigung mit ihr von vornherein eine unnütze Zeitver¬
schwendung sei.

Hier hat nun der "Pragmatismus" zweifellos eine bessere Stellung. Er
verzichtet von vornherein auf den Anspruch, ewige und unbedingte Wahr¬
heiten liefern zu können, sondern ist sich der Bedingtheit und Beschränktheit
aller Erkenntnis bewußt; er ist überzeugt, daß unsre Erkenntnis uns nicht
hinter die Erscheinungswelt führt, sondern in dieser befangen bleibt, und daß
der ganze Sinn des Begriffs "Wahrheit", wenn wir diesen einer Theorie
beilegen und sie somit zur "Erkenntnis" stempeln, darin besteht, daß diese
Theorie uns, sei es in der Beherrschung der Außenwelt oder der Förderung
sonstiger Lebensziele, praktische Dienste leistet. Der Pragmatismus sucht
deshalb gar nicht Wahrheit, sondern Wahrheiten, von denen er aber von
vornherein weiß, daß sie keine objektive, ewige und unbedingte, sondern eine
im dargelegten Sinne relative und beschränkte Giltigkeit besitzen. Gerade durch
diesen Verzicht auf den dogmatischen Wahrheitsanspruch seiner Begriffe und
Aufstellungen aber gewinnt der Pragmatismus Vorteile, die ihm im Kampf
ums Dasein mit jeder dogmatischen Weltbetrachtung sehr zustatten kommen
dürften. Während jede dogmatisch-rationalistische Weltbetrachtung unduldsam
ist, kann der Pragmatismus die weitestgehende Duldung üben; er weiß, daß
es sich gar nicht darum handelt, "die" Wahrheit zu finden, sondern meine
Wahrheit oder deine; er weiß, daß der Wahrheiten viele sind, er löst und
lockert die Starrheit der herkömmlichen Systeme und paßt sich geschmeidig der
innern Entwicklung des nach Erkenntnis verlangenden Menschen an. Eben
durch den ihm eigentümlichen Wahrheitsbegriff aber kann der Pragmatismus
auch viel duldsamer gegen gewisse Begriffe und Weltbetrachtungen sein, die
eine streng rationalistische Denkart darum gern anzufeinden pflegt, weil ihre
Berechtigung wirklich oder vermeintlich auf dem Wege des Nationalismus
nicht dargetan werden kann. Wenn zum Beispiel eine gewisse rationalistische
Betrachtung den Begriff "Gott" nicht annehmen zu können glaubt, weil sein
Dasein nicht mit den Kriterien des Rationalismus "streng bewiesen" werden
kann, so ist der Anhänger des Pragmatismus an diese Kriterien keineswegs
gebunden; er kann vielmehr an Gott wie an jede Vorstellung religiöser Art
ohne weiteres glauben und diesen Glauben rechtfertigen, wenn dieser Glaube
ihn an irgendeinem Teile seines innern Lebens ohne Widerspruch mit dem
Ganzen fördert, befruchtet oder beglückt. Leistet dieser Glaube einen solchen
Dienst, so ist die Vorstellung, der er gilt, damit für den Pragmatisten eben¬
sogut gerechtfertigt wie der Äther oder die Atome für den Naturwissenschafter,
und das gleiche gilt für jede Art religiöser Lehrsätze oder Vorstellungsinhalte.
Der Glaube zum Beispiel, daß das Leben einen Sinn habe, der sich nach


Grenzboten IV 1909 75
Die Philosophie des Pragmatismus

recht als allgemeine Wahrheit verkündeten Systemen in Widerstreit geraten
mußten und so nicht ganz mit Unrecht die Vorstellung hervorriefen, daß
in der Philosophie jeder dieser Systemgründer vom andern abgetan würde
und deshalb die Beschäftigung mit ihr von vornherein eine unnütze Zeitver¬
schwendung sei.

Hier hat nun der „Pragmatismus" zweifellos eine bessere Stellung. Er
verzichtet von vornherein auf den Anspruch, ewige und unbedingte Wahr¬
heiten liefern zu können, sondern ist sich der Bedingtheit und Beschränktheit
aller Erkenntnis bewußt; er ist überzeugt, daß unsre Erkenntnis uns nicht
hinter die Erscheinungswelt führt, sondern in dieser befangen bleibt, und daß
der ganze Sinn des Begriffs „Wahrheit", wenn wir diesen einer Theorie
beilegen und sie somit zur „Erkenntnis" stempeln, darin besteht, daß diese
Theorie uns, sei es in der Beherrschung der Außenwelt oder der Förderung
sonstiger Lebensziele, praktische Dienste leistet. Der Pragmatismus sucht
deshalb gar nicht Wahrheit, sondern Wahrheiten, von denen er aber von
vornherein weiß, daß sie keine objektive, ewige und unbedingte, sondern eine
im dargelegten Sinne relative und beschränkte Giltigkeit besitzen. Gerade durch
diesen Verzicht auf den dogmatischen Wahrheitsanspruch seiner Begriffe und
Aufstellungen aber gewinnt der Pragmatismus Vorteile, die ihm im Kampf
ums Dasein mit jeder dogmatischen Weltbetrachtung sehr zustatten kommen
dürften. Während jede dogmatisch-rationalistische Weltbetrachtung unduldsam
ist, kann der Pragmatismus die weitestgehende Duldung üben; er weiß, daß
es sich gar nicht darum handelt, „die" Wahrheit zu finden, sondern meine
Wahrheit oder deine; er weiß, daß der Wahrheiten viele sind, er löst und
lockert die Starrheit der herkömmlichen Systeme und paßt sich geschmeidig der
innern Entwicklung des nach Erkenntnis verlangenden Menschen an. Eben
durch den ihm eigentümlichen Wahrheitsbegriff aber kann der Pragmatismus
auch viel duldsamer gegen gewisse Begriffe und Weltbetrachtungen sein, die
eine streng rationalistische Denkart darum gern anzufeinden pflegt, weil ihre
Berechtigung wirklich oder vermeintlich auf dem Wege des Nationalismus
nicht dargetan werden kann. Wenn zum Beispiel eine gewisse rationalistische
Betrachtung den Begriff „Gott" nicht annehmen zu können glaubt, weil sein
Dasein nicht mit den Kriterien des Rationalismus „streng bewiesen" werden
kann, so ist der Anhänger des Pragmatismus an diese Kriterien keineswegs
gebunden; er kann vielmehr an Gott wie an jede Vorstellung religiöser Art
ohne weiteres glauben und diesen Glauben rechtfertigen, wenn dieser Glaube
ihn an irgendeinem Teile seines innern Lebens ohne Widerspruch mit dem
Ganzen fördert, befruchtet oder beglückt. Leistet dieser Glaube einen solchen
Dienst, so ist die Vorstellung, der er gilt, damit für den Pragmatisten eben¬
sogut gerechtfertigt wie der Äther oder die Atome für den Naturwissenschafter,
und das gleiche gilt für jede Art religiöser Lehrsätze oder Vorstellungsinhalte.
Der Glaube zum Beispiel, daß das Leben einen Sinn habe, der sich nach


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[0597] Die Philosophie des Pragmatismus recht als allgemeine Wahrheit verkündeten Systemen in Widerstreit geraten mußten und so nicht ganz mit Unrecht die Vorstellung hervorriefen, daß in der Philosophie jeder dieser Systemgründer vom andern abgetan würde und deshalb die Beschäftigung mit ihr von vornherein eine unnütze Zeitver¬ schwendung sei. Hier hat nun der „Pragmatismus" zweifellos eine bessere Stellung. Er verzichtet von vornherein auf den Anspruch, ewige und unbedingte Wahr¬ heiten liefern zu können, sondern ist sich der Bedingtheit und Beschränktheit aller Erkenntnis bewußt; er ist überzeugt, daß unsre Erkenntnis uns nicht hinter die Erscheinungswelt führt, sondern in dieser befangen bleibt, und daß der ganze Sinn des Begriffs „Wahrheit", wenn wir diesen einer Theorie beilegen und sie somit zur „Erkenntnis" stempeln, darin besteht, daß diese Theorie uns, sei es in der Beherrschung der Außenwelt oder der Förderung sonstiger Lebensziele, praktische Dienste leistet. Der Pragmatismus sucht deshalb gar nicht Wahrheit, sondern Wahrheiten, von denen er aber von vornherein weiß, daß sie keine objektive, ewige und unbedingte, sondern eine im dargelegten Sinne relative und beschränkte Giltigkeit besitzen. Gerade durch diesen Verzicht auf den dogmatischen Wahrheitsanspruch seiner Begriffe und Aufstellungen aber gewinnt der Pragmatismus Vorteile, die ihm im Kampf ums Dasein mit jeder dogmatischen Weltbetrachtung sehr zustatten kommen dürften. Während jede dogmatisch-rationalistische Weltbetrachtung unduldsam ist, kann der Pragmatismus die weitestgehende Duldung üben; er weiß, daß es sich gar nicht darum handelt, „die" Wahrheit zu finden, sondern meine Wahrheit oder deine; er weiß, daß der Wahrheiten viele sind, er löst und lockert die Starrheit der herkömmlichen Systeme und paßt sich geschmeidig der innern Entwicklung des nach Erkenntnis verlangenden Menschen an. Eben durch den ihm eigentümlichen Wahrheitsbegriff aber kann der Pragmatismus auch viel duldsamer gegen gewisse Begriffe und Weltbetrachtungen sein, die eine streng rationalistische Denkart darum gern anzufeinden pflegt, weil ihre Berechtigung wirklich oder vermeintlich auf dem Wege des Nationalismus nicht dargetan werden kann. Wenn zum Beispiel eine gewisse rationalistische Betrachtung den Begriff „Gott" nicht annehmen zu können glaubt, weil sein Dasein nicht mit den Kriterien des Rationalismus „streng bewiesen" werden kann, so ist der Anhänger des Pragmatismus an diese Kriterien keineswegs gebunden; er kann vielmehr an Gott wie an jede Vorstellung religiöser Art ohne weiteres glauben und diesen Glauben rechtfertigen, wenn dieser Glaube ihn an irgendeinem Teile seines innern Lebens ohne Widerspruch mit dem Ganzen fördert, befruchtet oder beglückt. Leistet dieser Glaube einen solchen Dienst, so ist die Vorstellung, der er gilt, damit für den Pragmatisten eben¬ sogut gerechtfertigt wie der Äther oder die Atome für den Naturwissenschafter, und das gleiche gilt für jede Art religiöser Lehrsätze oder Vorstellungsinhalte. Der Glaube zum Beispiel, daß das Leben einen Sinn habe, der sich nach Grenzboten IV 1909 75

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/597>, abgerufen am 24.07.2024.