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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika

Studium von Land und Leuten die ungeheure Korruption des politischen
Lebens ermißt; doch ist es gerade die Größe der Aufgabe, die ihn anzieht
und seine Umwandlung in einen für sein Land und Volk begeisterten Ameri¬
kaner fördert.

Obgleich die Betonung des schon angedeuteten Vererbungsproblems das
Buch als psychologischen Roman kennzeichnet, repräsentiert es in andrer Be¬
ziehung doch schon wieder eine Zwischenstufe. Denn das Schicksal der Menschen
überschattet das großartige Gemälde der Stadt San Francisco. Das kaleido¬
skopische Hinundherströmen der Menschenmassen in ihren Verkehrsadern er¬
scheint wie die Pulsschläge eines Riesenorganismus, eines Wesens, das beinahe
menschliche Individualität annimmt, wenngleich in ungeheuern Dimensionen.
Diese gewaltigen Bilder erdrücken die handelnden Personen zuweilen unter
ihrer Wucht, was übrigens von der Verfasserin beabsichtigt scheint. Denn
am Ende, als die eigentliche Erzählung abgeschlossen ist, wird als Epilog
eine überaus dramatische Schilderung der Katastrophe von 1906 angefügt, und
über dem Bilde der in Flammen aufgehenden Stadt vergißt der Leser das
Schicksal Isabel Otis, der blauäugigen Schönen aus spanischem Blut, und
ihres Erwählten.

Wenn Gertruds Atherton zu ihrer Darstellung der Wechselwirkungen
zwischen amerikanischer und europäischer Kultur den gewichtigen Apparat der
Politischen Parteikämpfe mit heranzieht, so gibt Edles Wharton ihrer Novelle
UadÄiltg as Irs^nos*), die in kleinerm Rahmen ein ähnliches Thema be¬
handelt, das diskrete Milieu des Faubourg Se. Germain. Die Kontraste
sind notwendigerweise hier viel augenfälliger als in den Beziehungen zwischen
der englischen und der amerikanischen Gesellschaft, die ja immerhin durch einen
gemeinsamen Ursprung miteinander verknüpft sind. Zwischen der ethischen
und gesellschaftlichen Tradition des französischen Adels und der Aristokratie
Amerikas, die ihre Stellung so ganz der Kraft der Persönlichkeit dankt, sind
die Gegensätze unüberbrückbar. Und die amerikanischen Erbinnen, die sich auf
ihrem Trip über den Kontinent verleiten lassen, das Familienwappen eines
Comte oder Marquis zu vergolden, sie nehmen von der Überfeinerung der
Lebensformen nur das Äußerliche an. Ihr Freiheitssinn wird eingedämmt,
weil die Schranken, die sie umgeben, so elastisch und doch so undurchdringlich
sind. Die besten unter ihnen werden die Degeneration unter der Hülle dieser
raffinierter Lebenskunst nicht voll ermessen, selbst wenn ihnen eine unglückliche
Ehe die Augen öffnen sollte. Doch wenn ein Wiedersehen mit vertrauten
Freunden aus der alten Heimat einen Hauch aus einer andern Welt in ihr
Dasein hineinwehen läßt, dann wird mit der Erkenntnis der vielen Nichtig¬
keiten, in denen sich ihr Frauenleben zersplittert und verflüchtigt, die Sehn¬
sucht nach den freiern, schlichtem Lebensbedingungen wach, zu denen sie



") Macmillan and Co., London und Newyork.
Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika

Studium von Land und Leuten die ungeheure Korruption des politischen
Lebens ermißt; doch ist es gerade die Größe der Aufgabe, die ihn anzieht
und seine Umwandlung in einen für sein Land und Volk begeisterten Ameri¬
kaner fördert.

Obgleich die Betonung des schon angedeuteten Vererbungsproblems das
Buch als psychologischen Roman kennzeichnet, repräsentiert es in andrer Be¬
ziehung doch schon wieder eine Zwischenstufe. Denn das Schicksal der Menschen
überschattet das großartige Gemälde der Stadt San Francisco. Das kaleido¬
skopische Hinundherströmen der Menschenmassen in ihren Verkehrsadern er¬
scheint wie die Pulsschläge eines Riesenorganismus, eines Wesens, das beinahe
menschliche Individualität annimmt, wenngleich in ungeheuern Dimensionen.
Diese gewaltigen Bilder erdrücken die handelnden Personen zuweilen unter
ihrer Wucht, was übrigens von der Verfasserin beabsichtigt scheint. Denn
am Ende, als die eigentliche Erzählung abgeschlossen ist, wird als Epilog
eine überaus dramatische Schilderung der Katastrophe von 1906 angefügt, und
über dem Bilde der in Flammen aufgehenden Stadt vergißt der Leser das
Schicksal Isabel Otis, der blauäugigen Schönen aus spanischem Blut, und
ihres Erwählten.

Wenn Gertruds Atherton zu ihrer Darstellung der Wechselwirkungen
zwischen amerikanischer und europäischer Kultur den gewichtigen Apparat der
Politischen Parteikämpfe mit heranzieht, so gibt Edles Wharton ihrer Novelle
UadÄiltg as Irs^nos*), die in kleinerm Rahmen ein ähnliches Thema be¬
handelt, das diskrete Milieu des Faubourg Se. Germain. Die Kontraste
sind notwendigerweise hier viel augenfälliger als in den Beziehungen zwischen
der englischen und der amerikanischen Gesellschaft, die ja immerhin durch einen
gemeinsamen Ursprung miteinander verknüpft sind. Zwischen der ethischen
und gesellschaftlichen Tradition des französischen Adels und der Aristokratie
Amerikas, die ihre Stellung so ganz der Kraft der Persönlichkeit dankt, sind
die Gegensätze unüberbrückbar. Und die amerikanischen Erbinnen, die sich auf
ihrem Trip über den Kontinent verleiten lassen, das Familienwappen eines
Comte oder Marquis zu vergolden, sie nehmen von der Überfeinerung der
Lebensformen nur das Äußerliche an. Ihr Freiheitssinn wird eingedämmt,
weil die Schranken, die sie umgeben, so elastisch und doch so undurchdringlich
sind. Die besten unter ihnen werden die Degeneration unter der Hülle dieser
raffinierter Lebenskunst nicht voll ermessen, selbst wenn ihnen eine unglückliche
Ehe die Augen öffnen sollte. Doch wenn ein Wiedersehen mit vertrauten
Freunden aus der alten Heimat einen Hauch aus einer andern Welt in ihr
Dasein hineinwehen läßt, dann wird mit der Erkenntnis der vielen Nichtig¬
keiten, in denen sich ihr Frauenleben zersplittert und verflüchtigt, die Sehn¬
sucht nach den freiern, schlichtem Lebensbedingungen wach, zu denen sie



") Macmillan and Co., London und Newyork.
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[0569] Neue Ziele des psychologischen Romans in Amerika Studium von Land und Leuten die ungeheure Korruption des politischen Lebens ermißt; doch ist es gerade die Größe der Aufgabe, die ihn anzieht und seine Umwandlung in einen für sein Land und Volk begeisterten Ameri¬ kaner fördert. Obgleich die Betonung des schon angedeuteten Vererbungsproblems das Buch als psychologischen Roman kennzeichnet, repräsentiert es in andrer Be¬ ziehung doch schon wieder eine Zwischenstufe. Denn das Schicksal der Menschen überschattet das großartige Gemälde der Stadt San Francisco. Das kaleido¬ skopische Hinundherströmen der Menschenmassen in ihren Verkehrsadern er¬ scheint wie die Pulsschläge eines Riesenorganismus, eines Wesens, das beinahe menschliche Individualität annimmt, wenngleich in ungeheuern Dimensionen. Diese gewaltigen Bilder erdrücken die handelnden Personen zuweilen unter ihrer Wucht, was übrigens von der Verfasserin beabsichtigt scheint. Denn am Ende, als die eigentliche Erzählung abgeschlossen ist, wird als Epilog eine überaus dramatische Schilderung der Katastrophe von 1906 angefügt, und über dem Bilde der in Flammen aufgehenden Stadt vergißt der Leser das Schicksal Isabel Otis, der blauäugigen Schönen aus spanischem Blut, und ihres Erwählten. Wenn Gertruds Atherton zu ihrer Darstellung der Wechselwirkungen zwischen amerikanischer und europäischer Kultur den gewichtigen Apparat der Politischen Parteikämpfe mit heranzieht, so gibt Edles Wharton ihrer Novelle UadÄiltg as Irs^nos*), die in kleinerm Rahmen ein ähnliches Thema be¬ handelt, das diskrete Milieu des Faubourg Se. Germain. Die Kontraste sind notwendigerweise hier viel augenfälliger als in den Beziehungen zwischen der englischen und der amerikanischen Gesellschaft, die ja immerhin durch einen gemeinsamen Ursprung miteinander verknüpft sind. Zwischen der ethischen und gesellschaftlichen Tradition des französischen Adels und der Aristokratie Amerikas, die ihre Stellung so ganz der Kraft der Persönlichkeit dankt, sind die Gegensätze unüberbrückbar. Und die amerikanischen Erbinnen, die sich auf ihrem Trip über den Kontinent verleiten lassen, das Familienwappen eines Comte oder Marquis zu vergolden, sie nehmen von der Überfeinerung der Lebensformen nur das Äußerliche an. Ihr Freiheitssinn wird eingedämmt, weil die Schranken, die sie umgeben, so elastisch und doch so undurchdringlich sind. Die besten unter ihnen werden die Degeneration unter der Hülle dieser raffinierter Lebenskunst nicht voll ermessen, selbst wenn ihnen eine unglückliche Ehe die Augen öffnen sollte. Doch wenn ein Wiedersehen mit vertrauten Freunden aus der alten Heimat einen Hauch aus einer andern Welt in ihr Dasein hineinwehen läßt, dann wird mit der Erkenntnis der vielen Nichtig¬ keiten, in denen sich ihr Frauenleben zersplittert und verflüchtigt, die Sehn¬ sucht nach den freiern, schlichtem Lebensbedingungen wach, zu denen sie ") Macmillan and Co., London und Newyork.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/569>, abgerufen am 24.07.2024.