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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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"Ich" -- oder "nur Vaterland" ?

Recht heischendes Wesen nicht mehr besteht, "sich völlig selbst aufgeben" muß,
daß "der Mensch als Individualität als Persönlichkeit total vernichtet" wird.

Man sieht, der Verfasser gehört den gebildeten, führenden Ständen an;
er will ein "Psychologe", ein "Seelentunder" sein. Aber von den Empfindungen,
die sich in der Seele unsrer jungen Bauern, unsrer jungen Handwerker und
jungen Arbeiter auslösen, wenn sie zum Dienst in Heer und Flotte ausge¬
hoben werdem^. von diesen Empfindungen hat er nicht einmal eine Ahnung.
Gewiß, auch die naive Freude am "Zwcierleituch", das winkt, spricht mit bei
diesen ungebildeten Jungen. Aber dieser "Wechsel des Rocks" schafft weder
in seinen noch in irgend jemands Augen eine Rangerhöhung. Der Rollen¬
wechsel ist es, der diese Rangerhöhung schafft. Unser Militärpsychologe hat
wohl noch nie den Kinderspruch gehört: "Edelmann, Bettelmann, Bauer,
Soldat." Der stammt aus einer Zeit, wo der geschundne Bauer noch hinter
dem Bettelmann kam und noch hinter diesem erst der entgleiste entwurzelte
Kerl rangierte, der sich als Söldner vaterlandslos um den Silberling ver¬
kaufte. Aber früher schon, da war es anders bei uns in Deutschland, und
auch heute wieder ist es anders. Gott sei Dank! Noch heute feiern wir das
Fest der Aufnahme unsrer Truppen in die Kirche, die Konfirmation und die
Firmelung, in den Jahren, wo vordem die Schwertumgürtung, die Wehrhaft¬
erklärung der Jungmannschaft erfolgte, mit fünfzehn Jahren. Und warum
war diese Schwertumgürtung ein solches Fest seit den ältesten Zeiten bis in
die Zeiten des Verfalls des alten deutschen Reichs? Weil es die Rang¬
erhöhung vom Kinde zum Manne war, vom Schntzgenießer zum Schutz-
gewährer. Ganz dieselbe Rangerhöhung bildet unsre heutige Aushebung zum
Dienst fürs Vaterland. Von ihm, dem Vaterland, empfing der Ausgehöhlte
bis auf diesen Tag einen Schutz; von jetzt ab gewährt er ihm Schutz. Und
um ebensoviel steigt er, nicht nur in seiner, nein, in jedermanns Wertung;
jetzt ist er nicht mehr bloß auf uns angewiesen, sondern wir sind es ebenso
auf ihn. Darum sein Juchhe! Jetzt ist er eine Nummer für die ändern,
vorher war er keine. Sonst müßten doch die Leute Juchhe! schreien, die frei
geworden sind, und die nun still nach Hause gehn und sich damit trösten, daß
es doch auch seine Vorteile habe, wenn man seinem Geschäft und Verdienst
nachgehn könne.

Aber freilich -- und da liegt der Hase im Pfeffer -- unsre einfachen
und unverbildeten jungen Leute sind eben frei von dieser verbildeten und
krankhaften "Ichsucht" unsers Militärpsychologen. Ihnen allen kommt nicht
zuerst ihr liebes Ich, sondern Nummer eins ist das Vaterland, und sie alle
wissen von Haus aus und von ihrer Arbeit her, daß nur die Ein- und Unter¬
ordnung des einzelnen etwas zu schaffen vermag, und daß nichts gedeihen
kann, wo dieser beherrscht wird von der schrankenlosen Selbstsucht, nur sich
zur ^Geltung zu bringen. Denn das ist alles, was hinter den glitzernden
Wendungen steckt von dem "Menschen als Individualität, als Persönlichkeit",


„Ich" — oder „nur Vaterland" ?

Recht heischendes Wesen nicht mehr besteht, „sich völlig selbst aufgeben" muß,
daß „der Mensch als Individualität als Persönlichkeit total vernichtet" wird.

Man sieht, der Verfasser gehört den gebildeten, führenden Ständen an;
er will ein „Psychologe", ein „Seelentunder" sein. Aber von den Empfindungen,
die sich in der Seele unsrer jungen Bauern, unsrer jungen Handwerker und
jungen Arbeiter auslösen, wenn sie zum Dienst in Heer und Flotte ausge¬
hoben werdem^. von diesen Empfindungen hat er nicht einmal eine Ahnung.
Gewiß, auch die naive Freude am „Zwcierleituch", das winkt, spricht mit bei
diesen ungebildeten Jungen. Aber dieser „Wechsel des Rocks" schafft weder
in seinen noch in irgend jemands Augen eine Rangerhöhung. Der Rollen¬
wechsel ist es, der diese Rangerhöhung schafft. Unser Militärpsychologe hat
wohl noch nie den Kinderspruch gehört: „Edelmann, Bettelmann, Bauer,
Soldat." Der stammt aus einer Zeit, wo der geschundne Bauer noch hinter
dem Bettelmann kam und noch hinter diesem erst der entgleiste entwurzelte
Kerl rangierte, der sich als Söldner vaterlandslos um den Silberling ver¬
kaufte. Aber früher schon, da war es anders bei uns in Deutschland, und
auch heute wieder ist es anders. Gott sei Dank! Noch heute feiern wir das
Fest der Aufnahme unsrer Truppen in die Kirche, die Konfirmation und die
Firmelung, in den Jahren, wo vordem die Schwertumgürtung, die Wehrhaft¬
erklärung der Jungmannschaft erfolgte, mit fünfzehn Jahren. Und warum
war diese Schwertumgürtung ein solches Fest seit den ältesten Zeiten bis in
die Zeiten des Verfalls des alten deutschen Reichs? Weil es die Rang¬
erhöhung vom Kinde zum Manne war, vom Schntzgenießer zum Schutz-
gewährer. Ganz dieselbe Rangerhöhung bildet unsre heutige Aushebung zum
Dienst fürs Vaterland. Von ihm, dem Vaterland, empfing der Ausgehöhlte
bis auf diesen Tag einen Schutz; von jetzt ab gewährt er ihm Schutz. Und
um ebensoviel steigt er, nicht nur in seiner, nein, in jedermanns Wertung;
jetzt ist er nicht mehr bloß auf uns angewiesen, sondern wir sind es ebenso
auf ihn. Darum sein Juchhe! Jetzt ist er eine Nummer für die ändern,
vorher war er keine. Sonst müßten doch die Leute Juchhe! schreien, die frei
geworden sind, und die nun still nach Hause gehn und sich damit trösten, daß
es doch auch seine Vorteile habe, wenn man seinem Geschäft und Verdienst
nachgehn könne.

Aber freilich — und da liegt der Hase im Pfeffer — unsre einfachen
und unverbildeten jungen Leute sind eben frei von dieser verbildeten und
krankhaften „Ichsucht" unsers Militärpsychologen. Ihnen allen kommt nicht
zuerst ihr liebes Ich, sondern Nummer eins ist das Vaterland, und sie alle
wissen von Haus aus und von ihrer Arbeit her, daß nur die Ein- und Unter¬
ordnung des einzelnen etwas zu schaffen vermag, und daß nichts gedeihen
kann, wo dieser beherrscht wird von der schrankenlosen Selbstsucht, nur sich
zur ^Geltung zu bringen. Denn das ist alles, was hinter den glitzernden
Wendungen steckt von dem „Menschen als Individualität, als Persönlichkeit",


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[0494] „Ich" — oder „nur Vaterland" ? Recht heischendes Wesen nicht mehr besteht, „sich völlig selbst aufgeben" muß, daß „der Mensch als Individualität als Persönlichkeit total vernichtet" wird. Man sieht, der Verfasser gehört den gebildeten, führenden Ständen an; er will ein „Psychologe", ein „Seelentunder" sein. Aber von den Empfindungen, die sich in der Seele unsrer jungen Bauern, unsrer jungen Handwerker und jungen Arbeiter auslösen, wenn sie zum Dienst in Heer und Flotte ausge¬ hoben werdem^. von diesen Empfindungen hat er nicht einmal eine Ahnung. Gewiß, auch die naive Freude am „Zwcierleituch", das winkt, spricht mit bei diesen ungebildeten Jungen. Aber dieser „Wechsel des Rocks" schafft weder in seinen noch in irgend jemands Augen eine Rangerhöhung. Der Rollen¬ wechsel ist es, der diese Rangerhöhung schafft. Unser Militärpsychologe hat wohl noch nie den Kinderspruch gehört: „Edelmann, Bettelmann, Bauer, Soldat." Der stammt aus einer Zeit, wo der geschundne Bauer noch hinter dem Bettelmann kam und noch hinter diesem erst der entgleiste entwurzelte Kerl rangierte, der sich als Söldner vaterlandslos um den Silberling ver¬ kaufte. Aber früher schon, da war es anders bei uns in Deutschland, und auch heute wieder ist es anders. Gott sei Dank! Noch heute feiern wir das Fest der Aufnahme unsrer Truppen in die Kirche, die Konfirmation und die Firmelung, in den Jahren, wo vordem die Schwertumgürtung, die Wehrhaft¬ erklärung der Jungmannschaft erfolgte, mit fünfzehn Jahren. Und warum war diese Schwertumgürtung ein solches Fest seit den ältesten Zeiten bis in die Zeiten des Verfalls des alten deutschen Reichs? Weil es die Rang¬ erhöhung vom Kinde zum Manne war, vom Schntzgenießer zum Schutz- gewährer. Ganz dieselbe Rangerhöhung bildet unsre heutige Aushebung zum Dienst fürs Vaterland. Von ihm, dem Vaterland, empfing der Ausgehöhlte bis auf diesen Tag einen Schutz; von jetzt ab gewährt er ihm Schutz. Und um ebensoviel steigt er, nicht nur in seiner, nein, in jedermanns Wertung; jetzt ist er nicht mehr bloß auf uns angewiesen, sondern wir sind es ebenso auf ihn. Darum sein Juchhe! Jetzt ist er eine Nummer für die ändern, vorher war er keine. Sonst müßten doch die Leute Juchhe! schreien, die frei geworden sind, und die nun still nach Hause gehn und sich damit trösten, daß es doch auch seine Vorteile habe, wenn man seinem Geschäft und Verdienst nachgehn könne. Aber freilich — und da liegt der Hase im Pfeffer — unsre einfachen und unverbildeten jungen Leute sind eben frei von dieser verbildeten und krankhaften „Ichsucht" unsers Militärpsychologen. Ihnen allen kommt nicht zuerst ihr liebes Ich, sondern Nummer eins ist das Vaterland, und sie alle wissen von Haus aus und von ihrer Arbeit her, daß nur die Ein- und Unter¬ ordnung des einzelnen etwas zu schaffen vermag, und daß nichts gedeihen kann, wo dieser beherrscht wird von der schrankenlosen Selbstsucht, nur sich zur ^Geltung zu bringen. Denn das ist alles, was hinter den glitzernden Wendungen steckt von dem „Menschen als Individualität, als Persönlichkeit",

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/494>, abgerufen am 05.07.2024.