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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Aufgaben der Volksvertreter

Reichstags. Demgemäß haben die Liberalen, die das Land vor Erschütterung
bewahren wollen, das Schwergewicht ihrer Tätigkeit ins Land, unter die
Wähler zu verlegen. Nicht die Regierung hat die kommenden allgemeinen
Wahlen vorzubereiten, sondern die Vertrauensmänner der Nation. Handelt
die nationalliberale Partei anders, so wird sie bei den demnüchstigen allge¬
meinen Neichstagswahlen am meisten zu leiden haben.

Daß die Liberalen, wenn sie diesen Weg einschlagen, nicht davor zurück¬
schrecken dürfen, die Agrar-Kouscrvcitiven bei den Wahlen überall zu bekämpfen,
im Einzelfalle selbst ans die Gefahr hin, daß Sozialdemokraten gewühlt
werden, versteht sich von selbst. Diese Wahltaktik gründet sich nicht ans die
Liebe zur Sozialdemokratie. Sie ist eine bittre Notwendigkeit, die
geradezu gefordert wird durch das System der Stichwahlen. Man sollte
mit der Gepflogenheit brechen, den Parteien einen Borwurf aus ihrem
Verhalten bei den Stichwahlen zu machen. Wer sich tiefer in dieses System
hineingedacht hat, weiß, daß es in jeder Gestaltung unmoralisch ist und zu
unmoralischen Wahlparolen führen muß. Man sollte davon Abstand nehmen,
die Unmoral des Systems als Unmoral der Parteien hinzustellen, die darauf
angewiesen sind. Sämtliche bürgerlichen Parteien sind bald hier bald dort
aus wahltaktischen Gründen genötigt, direkt oder indirekt sozialdemokratische
Abgeordnete zu unterstützen. Auch den Deutschkonservativen kann nachgewiesen
werden, daß sie in einer Anzahl von Wahlkreisen bei Stichwahlen zwischen
liberalen und sozialdemokratischen Kandidaten durch Stimmenthaltung den
Sozialdemokraten in das Parlament geschickt haben. Bei dieser Gelegenheit
mag darauf hingewiesen werden, daß bei der Nachwahl im Reichstagswahl¬
kreise Werden-Hoya der Welse gegen den Nationalliberalen nur mit Hilfe der
Stimmen des Blindes der Landwirte gewählt werden konnte. Und doch war
diese Wahltaktik so sehr gegen das nationale Interesse gerichtet, wie es eine
Wahltaktik überhaupt nur sein kann.

Die konservativen Parteiführer haben den Block um der Aufrechterhaltung
ihrer persönlichen Macht willen gesprengt; sie werden sich infolgedessen nicht
darüber beklagen können, wenn auch die Liberalen die Politik lediglich als
eine Machtfrage ansehen werden. Ein unerträgliches Anschwellen der Sozial¬
demokratie ist für das Deutsche Reich nur zu befürchten, wenn der monarchische
Gedanke weiter in den Staub gezogen wird, wie es durch die Führer der
Deutschkonservativen geschieht.




Aufgaben der Volksvertreter

Reichstags. Demgemäß haben die Liberalen, die das Land vor Erschütterung
bewahren wollen, das Schwergewicht ihrer Tätigkeit ins Land, unter die
Wähler zu verlegen. Nicht die Regierung hat die kommenden allgemeinen
Wahlen vorzubereiten, sondern die Vertrauensmänner der Nation. Handelt
die nationalliberale Partei anders, so wird sie bei den demnüchstigen allge¬
meinen Neichstagswahlen am meisten zu leiden haben.

Daß die Liberalen, wenn sie diesen Weg einschlagen, nicht davor zurück¬
schrecken dürfen, die Agrar-Kouscrvcitiven bei den Wahlen überall zu bekämpfen,
im Einzelfalle selbst ans die Gefahr hin, daß Sozialdemokraten gewühlt
werden, versteht sich von selbst. Diese Wahltaktik gründet sich nicht ans die
Liebe zur Sozialdemokratie. Sie ist eine bittre Notwendigkeit, die
geradezu gefordert wird durch das System der Stichwahlen. Man sollte
mit der Gepflogenheit brechen, den Parteien einen Borwurf aus ihrem
Verhalten bei den Stichwahlen zu machen. Wer sich tiefer in dieses System
hineingedacht hat, weiß, daß es in jeder Gestaltung unmoralisch ist und zu
unmoralischen Wahlparolen führen muß. Man sollte davon Abstand nehmen,
die Unmoral des Systems als Unmoral der Parteien hinzustellen, die darauf
angewiesen sind. Sämtliche bürgerlichen Parteien sind bald hier bald dort
aus wahltaktischen Gründen genötigt, direkt oder indirekt sozialdemokratische
Abgeordnete zu unterstützen. Auch den Deutschkonservativen kann nachgewiesen
werden, daß sie in einer Anzahl von Wahlkreisen bei Stichwahlen zwischen
liberalen und sozialdemokratischen Kandidaten durch Stimmenthaltung den
Sozialdemokraten in das Parlament geschickt haben. Bei dieser Gelegenheit
mag darauf hingewiesen werden, daß bei der Nachwahl im Reichstagswahl¬
kreise Werden-Hoya der Welse gegen den Nationalliberalen nur mit Hilfe der
Stimmen des Blindes der Landwirte gewählt werden konnte. Und doch war
diese Wahltaktik so sehr gegen das nationale Interesse gerichtet, wie es eine
Wahltaktik überhaupt nur sein kann.

Die konservativen Parteiführer haben den Block um der Aufrechterhaltung
ihrer persönlichen Macht willen gesprengt; sie werden sich infolgedessen nicht
darüber beklagen können, wenn auch die Liberalen die Politik lediglich als
eine Machtfrage ansehen werden. Ein unerträgliches Anschwellen der Sozial¬
demokratie ist für das Deutsche Reich nur zu befürchten, wenn der monarchische
Gedanke weiter in den Staub gezogen wird, wie es durch die Führer der
Deutschkonservativen geschieht.




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[0450] Aufgaben der Volksvertreter Reichstags. Demgemäß haben die Liberalen, die das Land vor Erschütterung bewahren wollen, das Schwergewicht ihrer Tätigkeit ins Land, unter die Wähler zu verlegen. Nicht die Regierung hat die kommenden allgemeinen Wahlen vorzubereiten, sondern die Vertrauensmänner der Nation. Handelt die nationalliberale Partei anders, so wird sie bei den demnüchstigen allge¬ meinen Neichstagswahlen am meisten zu leiden haben. Daß die Liberalen, wenn sie diesen Weg einschlagen, nicht davor zurück¬ schrecken dürfen, die Agrar-Kouscrvcitiven bei den Wahlen überall zu bekämpfen, im Einzelfalle selbst ans die Gefahr hin, daß Sozialdemokraten gewühlt werden, versteht sich von selbst. Diese Wahltaktik gründet sich nicht ans die Liebe zur Sozialdemokratie. Sie ist eine bittre Notwendigkeit, die geradezu gefordert wird durch das System der Stichwahlen. Man sollte mit der Gepflogenheit brechen, den Parteien einen Borwurf aus ihrem Verhalten bei den Stichwahlen zu machen. Wer sich tiefer in dieses System hineingedacht hat, weiß, daß es in jeder Gestaltung unmoralisch ist und zu unmoralischen Wahlparolen führen muß. Man sollte davon Abstand nehmen, die Unmoral des Systems als Unmoral der Parteien hinzustellen, die darauf angewiesen sind. Sämtliche bürgerlichen Parteien sind bald hier bald dort aus wahltaktischen Gründen genötigt, direkt oder indirekt sozialdemokratische Abgeordnete zu unterstützen. Auch den Deutschkonservativen kann nachgewiesen werden, daß sie in einer Anzahl von Wahlkreisen bei Stichwahlen zwischen liberalen und sozialdemokratischen Kandidaten durch Stimmenthaltung den Sozialdemokraten in das Parlament geschickt haben. Bei dieser Gelegenheit mag darauf hingewiesen werden, daß bei der Nachwahl im Reichstagswahl¬ kreise Werden-Hoya der Welse gegen den Nationalliberalen nur mit Hilfe der Stimmen des Blindes der Landwirte gewählt werden konnte. Und doch war diese Wahltaktik so sehr gegen das nationale Interesse gerichtet, wie es eine Wahltaktik überhaupt nur sein kann. Die konservativen Parteiführer haben den Block um der Aufrechterhaltung ihrer persönlichen Macht willen gesprengt; sie werden sich infolgedessen nicht darüber beklagen können, wenn auch die Liberalen die Politik lediglich als eine Machtfrage ansehen werden. Ein unerträgliches Anschwellen der Sozial¬ demokratie ist für das Deutsche Reich nur zu befürchten, wenn der monarchische Gedanke weiter in den Staub gezogen wird, wie es durch die Führer der Deutschkonservativen geschieht.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/450>, abgerufen am 24.07.2024.