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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

Friedrich Christian, die dessen ehemaliger Erzieher Graf Wackerbarth-Salmour
an den Leipziger Rat gelangen ließ, zum Rektor der Nikolaischule gewählt
wurde. Reiske übernahm die Schule in tiefer Verwahrlosung. Er klagt noch
im Jahre seines Amtsantritts: "Die unglaubliche und unbeschreibliche Boßheit,
Dummheit, Ungezogenheit und Unart der jungen wilden Bruks macht einem
Schulmanne den Kopf so wüste, erreget, durchhitzt und vergället ihm sein ganzes
Geblüthe", und im folgenden Jahre schließt er eine längere Aussprache vor dem
Cötus mit folgenden beweglichen Worten: "Komm her, du lieber Stecken, ich
ergreife dich zum erstenmale ick auocl nisus deux lÄustum kortuiig,tum<in6 esse
iudöat, bey einer wichtigen und dringenden Ursache. Komm her, und mache
Schnrffenberger und die seinesgleichen sind, zu vernünftigen Menschen." In
der Behandlung der altsprachlichen Lektüre teilte er Gesners Standpunkt, er
schwärmte aber auch für die englische Literatur und für die deutsche Sprache
als Unterrichtsgegenstand, da sie "ein kostbares, edles Gut ist, so nötig als
das liebe Brot". Reiske hatte als Rektor die Unruhe und die Leiden des
siebenjährigen Krieges mit durchzumachen. Was er darüber sagt, zeigt nicht
den weltfremden Gelehrten, sondern den warm empfindenden, mitten im Leben
stehenden Menschen. Er tadelt im Hinblick auf den Kurfürsten Friedrich August
den Zweiten freimütig "die unmäßige Pracht und Üppigkeit eines Fürsten,
die die Einkünfte und die Kräfte eines Landes bei weitem übersteigt", aber
noch mehr tadelt er Friedrich den Großen, der ihm als rox inouistis wr-
darumaus se vÄöcZium ÄinML, als ein wacher, schlauer, herrschsüchtiger, begehr¬
licher Mann erscheint, der auf alle Gelegenheiten, seine Macht zu vergrößern,
lauert. "

Und doch kann er sich dem Eindruck der Größe nicht entziehen, als der
König den berühmten Gelehrten am 22. Dezember 1760 zur Audienz befiehlt
und mit ihm über arabische Literatur und über die Schrift des Alexandriners
Heron "vom Hebel" plaudert: Reiske meint, wenn ein so vielbeschäftigter
König solche Kenntnisse besitzt und seine Zeit darauf verwendet, "so muß das
den Gelehrten nicht nur in Bewunderung setzen, sondern auch mit Liebe und
Hochachtung gegen einen solchen Geist erfüllen, an dem er eine so seltne
Wackerheit und Standhaftigkeit wahrnimmt." Neiskes Schulamt war auch nach
Abschluß des ersehnten Friedens zu Hubertusburg nocht recht dornenvoll. Noch
im Jahre 1772 klagt er: "Mein Gott, was will doch noch aus unsrer Kinder¬
zucht werden, da weder Schärfe noch Gclindigkeit mehr was verfangen will
noch kann. Denn das Verderben der Sitten hat überall und in allen Ständen
überHand genommen, und unsre Leipziger sind so übermütig, so verwöhnt und
so unleidig geworden, daß auch der glimpflichste Verweis sie zur Rache
erbittert."

Reiske schrieb diese Worte unter dem Eindruck des auch in der Gymnasial¬
jugend hervortretenden zügellosen Subjektivismus, den die "Sturm- und
Drangperiode" eben entfesselte. Aber schon war die Medizin dagegen bereitet:


Geschichte des Leipziger Schulwesens

Friedrich Christian, die dessen ehemaliger Erzieher Graf Wackerbarth-Salmour
an den Leipziger Rat gelangen ließ, zum Rektor der Nikolaischule gewählt
wurde. Reiske übernahm die Schule in tiefer Verwahrlosung. Er klagt noch
im Jahre seines Amtsantritts: „Die unglaubliche und unbeschreibliche Boßheit,
Dummheit, Ungezogenheit und Unart der jungen wilden Bruks macht einem
Schulmanne den Kopf so wüste, erreget, durchhitzt und vergället ihm sein ganzes
Geblüthe", und im folgenden Jahre schließt er eine längere Aussprache vor dem
Cötus mit folgenden beweglichen Worten: „Komm her, du lieber Stecken, ich
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iudöat, bey einer wichtigen und dringenden Ursache. Komm her, und mache
Schnrffenberger und die seinesgleichen sind, zu vernünftigen Menschen." In
der Behandlung der altsprachlichen Lektüre teilte er Gesners Standpunkt, er
schwärmte aber auch für die englische Literatur und für die deutsche Sprache
als Unterrichtsgegenstand, da sie „ein kostbares, edles Gut ist, so nötig als
das liebe Brot". Reiske hatte als Rektor die Unruhe und die Leiden des
siebenjährigen Krieges mit durchzumachen. Was er darüber sagt, zeigt nicht
den weltfremden Gelehrten, sondern den warm empfindenden, mitten im Leben
stehenden Menschen. Er tadelt im Hinblick auf den Kurfürsten Friedrich August
den Zweiten freimütig „die unmäßige Pracht und Üppigkeit eines Fürsten,
die die Einkünfte und die Kräfte eines Landes bei weitem übersteigt", aber
noch mehr tadelt er Friedrich den Großen, der ihm als rox inouistis wr-
darumaus se vÄöcZium ÄinML, als ein wacher, schlauer, herrschsüchtiger, begehr¬
licher Mann erscheint, der auf alle Gelegenheiten, seine Macht zu vergrößern,
lauert. "

Und doch kann er sich dem Eindruck der Größe nicht entziehen, als der
König den berühmten Gelehrten am 22. Dezember 1760 zur Audienz befiehlt
und mit ihm über arabische Literatur und über die Schrift des Alexandriners
Heron „vom Hebel" plaudert: Reiske meint, wenn ein so vielbeschäftigter
König solche Kenntnisse besitzt und seine Zeit darauf verwendet, „so muß das
den Gelehrten nicht nur in Bewunderung setzen, sondern auch mit Liebe und
Hochachtung gegen einen solchen Geist erfüllen, an dem er eine so seltne
Wackerheit und Standhaftigkeit wahrnimmt." Neiskes Schulamt war auch nach
Abschluß des ersehnten Friedens zu Hubertusburg nocht recht dornenvoll. Noch
im Jahre 1772 klagt er: „Mein Gott, was will doch noch aus unsrer Kinder¬
zucht werden, da weder Schärfe noch Gclindigkeit mehr was verfangen will
noch kann. Denn das Verderben der Sitten hat überall und in allen Ständen
überHand genommen, und unsre Leipziger sind so übermütig, so verwöhnt und
so unleidig geworden, daß auch der glimpflichste Verweis sie zur Rache
erbittert."

Reiske schrieb diese Worte unter dem Eindruck des auch in der Gymnasial¬
jugend hervortretenden zügellosen Subjektivismus, den die „Sturm- und
Drangperiode" eben entfesselte. Aber schon war die Medizin dagegen bereitet:


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/422>, abgerufen am 24.07.2024.