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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Geschichte des Leipziger Schulwesens

Kirchendienst genährten Thomana bei weitem nicht ebenbürtig. Mehrere Jahre
lag sie wüst und leer. Erst dem jungen Johann Muschler aus Ottingen in
Bayern, einem Schüler des Petrus Mosellauus, der 1525 das Rektorat antrat,
gelang es, die Schule in Gang zu bringen. Um den Fleiß der Schüler an¬
zuspornen, führte er ein ganzes System von Prämien ein. "Am Anfang jedes
Monats kündigte er sie mit einer gewissen Feierlichkeit an, am Ende, nach der
Generalrepetition, wurden sie in einem Aktus, dem in einem mit Blumen und
Laubwerk geschmückten Raum auch angesehene Männer aus der Stadt bei¬
wohnten, proklamiert und verteilt, schön gebundne Bücher für die obern Klassen,
Sachen aus Marmor und Elfenbein, Bilder, Spiegel, Federkasten, Backwerk
für die untern. Aber in dauernden Besitz des Empfängers ging eine Prämie
erst über, wenn er sie dreimal errungen hatte. Faulpelze wurden in verschiednen
Abstufungen getadelt, Unverbesserliche erhielten einen Strohkranz." Das alte
Prügelsystem war fast abgeschafft. Mnschlers Werk setzte, seitdem er 1535 nach
Italien gezogen war, der feinsinnige Erzgebirgler Wolfgang Meurer aus
Altenberg fort. "Auch er lehrte in ma^us, äisvipulorum lröausntiit; zu seinen
Füßen saßen auch Studenten der ^rtes, sogar graduierte Leute, und die ganze
Schuldisziplin trug ein mehr akademisches Gepräge." Es war der feine Geist
der berühmten oass. Aiooosg. des Jtalieners Vittorino da Feltre, der hier
lebendig war.

Es kam die zweite Periode: das Leipziger Schulwesen unter der
Herrschaft der lutherischen Landeskirche, eingeleitet durch die Einführung
der Reformation in Leipzig, die nicht eine Tat tiefreligiöser Begeisterung war,
sondern praktischer Erwägungen: "sobald die regierenden Kreise sahen, daß die
Institutionen der alten Kirche nicht mehr zu retten seien, faßten sie mit
nüchterner Berechnung ihr Ziel ins Auge: Erwerbung womöglich des ganzen
reichen Klosterbesitzes und des Patronats über das gesamte Kirchen- und
Schulwesen für die Stadt." Luther vermißte dabei die innere Begeisterung der
Ratsherren für die Sache des Evangeliums, er schrieb grollend: I.ip8i6N8ö8
ssenatores^ väl (vulg'us sanc satis xlg-ost) ut> riiliil suo fois oäsrim; tAuwin
oft ibi supöMiw, g,rroZ5mtig.s, rgMoitatis, usur^k. Nach Luthers und
Melanchthons Tode beginnt das öde, unfruchtbare Gezänk um die Recht¬
gläubigkeit, der Ton wird gröber, die Mächte des Gemüts treten auch in der
Schule vor der Verstandesdürre zurück, unter der steigenden Macht der Landes¬
herren und der Stadtgemeinden werden auch die öffentlichen Schulen zu dienenden
Gliedern der weltlich-geistlichen Oligarchie. "Mit dem freien Humanismus ging
es zu Ende, zu Ende auch mit der regen, befruchtenden, den Blick weidenden
Geistesgemeinschaft zwischen Deutschland und Italien, das sich mehr und mehr
den nordischen Ketzern verschloß." Die Lehrer, bisher als Humanisten Glieder
einer weltumspannenden Aristokratie des Geistes, verkümmerten zu schlecht be¬
zahlten, wenig geachteten, demütigen Dienern einer Stadtgemeinde oder eines
kleinen Territoriums. In Leipzig bewahrten wenigstens die Rektoren den


Geschichte des Leipziger Schulwesens

Kirchendienst genährten Thomana bei weitem nicht ebenbürtig. Mehrere Jahre
lag sie wüst und leer. Erst dem jungen Johann Muschler aus Ottingen in
Bayern, einem Schüler des Petrus Mosellauus, der 1525 das Rektorat antrat,
gelang es, die Schule in Gang zu bringen. Um den Fleiß der Schüler an¬
zuspornen, führte er ein ganzes System von Prämien ein. „Am Anfang jedes
Monats kündigte er sie mit einer gewissen Feierlichkeit an, am Ende, nach der
Generalrepetition, wurden sie in einem Aktus, dem in einem mit Blumen und
Laubwerk geschmückten Raum auch angesehene Männer aus der Stadt bei¬
wohnten, proklamiert und verteilt, schön gebundne Bücher für die obern Klassen,
Sachen aus Marmor und Elfenbein, Bilder, Spiegel, Federkasten, Backwerk
für die untern. Aber in dauernden Besitz des Empfängers ging eine Prämie
erst über, wenn er sie dreimal errungen hatte. Faulpelze wurden in verschiednen
Abstufungen getadelt, Unverbesserliche erhielten einen Strohkranz." Das alte
Prügelsystem war fast abgeschafft. Mnschlers Werk setzte, seitdem er 1535 nach
Italien gezogen war, der feinsinnige Erzgebirgler Wolfgang Meurer aus
Altenberg fort. „Auch er lehrte in ma^us, äisvipulorum lröausntiit; zu seinen
Füßen saßen auch Studenten der ^rtes, sogar graduierte Leute, und die ganze
Schuldisziplin trug ein mehr akademisches Gepräge." Es war der feine Geist
der berühmten oass. Aiooosg. des Jtalieners Vittorino da Feltre, der hier
lebendig war.

Es kam die zweite Periode: das Leipziger Schulwesen unter der
Herrschaft der lutherischen Landeskirche, eingeleitet durch die Einführung
der Reformation in Leipzig, die nicht eine Tat tiefreligiöser Begeisterung war,
sondern praktischer Erwägungen: „sobald die regierenden Kreise sahen, daß die
Institutionen der alten Kirche nicht mehr zu retten seien, faßten sie mit
nüchterner Berechnung ihr Ziel ins Auge: Erwerbung womöglich des ganzen
reichen Klosterbesitzes und des Patronats über das gesamte Kirchen- und
Schulwesen für die Stadt." Luther vermißte dabei die innere Begeisterung der
Ratsherren für die Sache des Evangeliums, er schrieb grollend: I.ip8i6N8ö8
ssenatores^ väl (vulg'us sanc satis xlg-ost) ut> riiliil suo fois oäsrim; tAuwin
oft ibi supöMiw, g,rroZ5mtig.s, rgMoitatis, usur^k. Nach Luthers und
Melanchthons Tode beginnt das öde, unfruchtbare Gezänk um die Recht¬
gläubigkeit, der Ton wird gröber, die Mächte des Gemüts treten auch in der
Schule vor der Verstandesdürre zurück, unter der steigenden Macht der Landes¬
herren und der Stadtgemeinden werden auch die öffentlichen Schulen zu dienenden
Gliedern der weltlich-geistlichen Oligarchie. „Mit dem freien Humanismus ging
es zu Ende, zu Ende auch mit der regen, befruchtenden, den Blick weidenden
Geistesgemeinschaft zwischen Deutschland und Italien, das sich mehr und mehr
den nordischen Ketzern verschloß." Die Lehrer, bisher als Humanisten Glieder
einer weltumspannenden Aristokratie des Geistes, verkümmerten zu schlecht be¬
zahlten, wenig geachteten, demütigen Dienern einer Stadtgemeinde oder eines
kleinen Territoriums. In Leipzig bewahrten wenigstens die Rektoren den


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[0419] Geschichte des Leipziger Schulwesens Kirchendienst genährten Thomana bei weitem nicht ebenbürtig. Mehrere Jahre lag sie wüst und leer. Erst dem jungen Johann Muschler aus Ottingen in Bayern, einem Schüler des Petrus Mosellauus, der 1525 das Rektorat antrat, gelang es, die Schule in Gang zu bringen. Um den Fleiß der Schüler an¬ zuspornen, führte er ein ganzes System von Prämien ein. „Am Anfang jedes Monats kündigte er sie mit einer gewissen Feierlichkeit an, am Ende, nach der Generalrepetition, wurden sie in einem Aktus, dem in einem mit Blumen und Laubwerk geschmückten Raum auch angesehene Männer aus der Stadt bei¬ wohnten, proklamiert und verteilt, schön gebundne Bücher für die obern Klassen, Sachen aus Marmor und Elfenbein, Bilder, Spiegel, Federkasten, Backwerk für die untern. Aber in dauernden Besitz des Empfängers ging eine Prämie erst über, wenn er sie dreimal errungen hatte. Faulpelze wurden in verschiednen Abstufungen getadelt, Unverbesserliche erhielten einen Strohkranz." Das alte Prügelsystem war fast abgeschafft. Mnschlers Werk setzte, seitdem er 1535 nach Italien gezogen war, der feinsinnige Erzgebirgler Wolfgang Meurer aus Altenberg fort. „Auch er lehrte in ma^us, äisvipulorum lröausntiit; zu seinen Füßen saßen auch Studenten der ^rtes, sogar graduierte Leute, und die ganze Schuldisziplin trug ein mehr akademisches Gepräge." Es war der feine Geist der berühmten oass. Aiooosg. des Jtalieners Vittorino da Feltre, der hier lebendig war. Es kam die zweite Periode: das Leipziger Schulwesen unter der Herrschaft der lutherischen Landeskirche, eingeleitet durch die Einführung der Reformation in Leipzig, die nicht eine Tat tiefreligiöser Begeisterung war, sondern praktischer Erwägungen: „sobald die regierenden Kreise sahen, daß die Institutionen der alten Kirche nicht mehr zu retten seien, faßten sie mit nüchterner Berechnung ihr Ziel ins Auge: Erwerbung womöglich des ganzen reichen Klosterbesitzes und des Patronats über das gesamte Kirchen- und Schulwesen für die Stadt." Luther vermißte dabei die innere Begeisterung der Ratsherren für die Sache des Evangeliums, er schrieb grollend: I.ip8i6N8ö8 ssenatores^ väl (vulg'us sanc satis xlg-ost) ut> riiliil suo fois oäsrim; tAuwin oft ibi supöMiw, g,rroZ5mtig.s, rgMoitatis, usur^k. Nach Luthers und Melanchthons Tode beginnt das öde, unfruchtbare Gezänk um die Recht¬ gläubigkeit, der Ton wird gröber, die Mächte des Gemüts treten auch in der Schule vor der Verstandesdürre zurück, unter der steigenden Macht der Landes¬ herren und der Stadtgemeinden werden auch die öffentlichen Schulen zu dienenden Gliedern der weltlich-geistlichen Oligarchie. „Mit dem freien Humanismus ging es zu Ende, zu Ende auch mit der regen, befruchtenden, den Blick weidenden Geistesgemeinschaft zwischen Deutschland und Italien, das sich mehr und mehr den nordischen Ketzern verschloß." Die Lehrer, bisher als Humanisten Glieder einer weltumspannenden Aristokratie des Geistes, verkümmerten zu schlecht be¬ zahlten, wenig geachteten, demütigen Dienern einer Stadtgemeinde oder eines kleinen Territoriums. In Leipzig bewahrten wenigstens die Rektoren den

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/419>, abgerufen am 24.07.2024.