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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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tvihorg und Lholm

Ssewastopol verblutete. Um dieselbe Zeit weckte auch die Bewegung der
Ukrainophilen mit den Gelehrten Kulisch und KostoMarow und dem Dichter
Schewtschenko an der Spitze die Aufmerksamkeit der russischen Regierung.

Inzwischen war aber das politische Denken der Russen durch die Richtung
der Slawjanophilen bereichert worden^ Einzelne ihrer Vertreter waren dem
föderativem Staatsaufbau freundlich gesinnt, weil sie glaubten, Mit seiner Hilfe
den Anschluß aller slawischen Völker und Staaten an Rußland bewirken zu
können. Alexander der Zweite hat diese Ideen sehr eingehend erwogen und
einen Schritt in ihrem Sinne getan durch den Versuch mit dem Marquis
Wielopolski im Zartum Polen. Wäre der Versuch geglückt, das heißt hätten die
Polen, wie es der Marquis von ihnen forderte, der österreichischen Monarchie
den Rücken gekehrt, dann wäre Rußland von 1861 an zweifellos den Weg eines
föderativem Staates gegangen. Damals war sogar in Aussicht genommen,
Petersburg als. Reichshauptstadt wieder aufzugeben und den Kaiserpalast in
der Stadt Kijew zu errichten. Dieser Gedanke lebte in der russischen Gesell¬
schaft noch fort, als Alexander seine panslawistischen Ziele längst zurückgestellt
hatte. Im Jahre 1863 nahm ihn der Feldmarschall Barjatinski wieder auf,
als er aus Wilna an den Zaren schrieb,'die Polenfrage sei lediglich nach
allslawischen Gesichtspunkten zu regeln, infolgedessen müsse den Polen eine
gewisse Autonomie eingeräumt bleiben. Ähnlich dachten die Liberalen, wie
Kawelin, und zeitweilig sogar Katkow.

Der Polenaufstand von 1863/64 brachte die Föderalisten in Nußland,
obwohl Herzen und Bakunin zu ihnen zu rechnen waren, für ein halbes
Menschenalter in Mißkredit. Doch schon seit den 1870 er Jahren wurden dem
föderativem Gedanken in Rußland wieder neue Kräfte zugetragen. Von der
einen Seite durch die Vermittlung der österreichischen Panslawisten und von
der andern durch die wirtschaftlichen Verhältnisse in Rußland selbst. Die
volkswirtschaftlichen Theoretiker forderten den Ausbau der Selbstverwaltung,
Dezentralisation der Wirtschaft. Ihre schwerstwiegenden Argumente bilden die
zahlreichen wirtschaftlichen Krisen, die sowohl durch Hungersnöte wie durch die
fiskalische Eisenbahnpolitik bedingt wurden. Unter Alexander dem Dritten
waren aber diese Forderungen nur Gründe mehr für die Zentralisation und
für die Verfolgung der Nationalitäten. Unter Nikolaus dem Zweiten fand
das zentralistische Prinzip in der Wirtschaft eine neue Stütze in der Person
des Finanzministers Witte. Daneben verstärkte sich jedoch der Ruf nach
Dezentralisation und belebte die agitatorische Arbeit der Föderalisten. Zu ihnen
gehörten bald sämtliche Konstitutionalisten. Die liberale Sjemstwopartei, die sich
im Jahre 1894 unter der Leitung D. N. Schipows -- der übrigens kein Zentralist
ist -- in Moskau heimlich organisiert hatte, fand schließlich im Jahre 1902
einen Fürsprecher in der Person des spätern Ministerpräsidenten Goremykin.
Wie bekannt scheiterte dessen Fürsprache für einen Ausbau der Selbstverwaltung
an dem Widerstande Wildes, der dem Zaren bewies, daß die Erweiterung der
Selbstverwaltung zum Parlamentarismus und Föderalismus führen müsse.


tvihorg und Lholm

Ssewastopol verblutete. Um dieselbe Zeit weckte auch die Bewegung der
Ukrainophilen mit den Gelehrten Kulisch und KostoMarow und dem Dichter
Schewtschenko an der Spitze die Aufmerksamkeit der russischen Regierung.

Inzwischen war aber das politische Denken der Russen durch die Richtung
der Slawjanophilen bereichert worden^ Einzelne ihrer Vertreter waren dem
föderativem Staatsaufbau freundlich gesinnt, weil sie glaubten, Mit seiner Hilfe
den Anschluß aller slawischen Völker und Staaten an Rußland bewirken zu
können. Alexander der Zweite hat diese Ideen sehr eingehend erwogen und
einen Schritt in ihrem Sinne getan durch den Versuch mit dem Marquis
Wielopolski im Zartum Polen. Wäre der Versuch geglückt, das heißt hätten die
Polen, wie es der Marquis von ihnen forderte, der österreichischen Monarchie
den Rücken gekehrt, dann wäre Rußland von 1861 an zweifellos den Weg eines
föderativem Staates gegangen. Damals war sogar in Aussicht genommen,
Petersburg als. Reichshauptstadt wieder aufzugeben und den Kaiserpalast in
der Stadt Kijew zu errichten. Dieser Gedanke lebte in der russischen Gesell¬
schaft noch fort, als Alexander seine panslawistischen Ziele längst zurückgestellt
hatte. Im Jahre 1863 nahm ihn der Feldmarschall Barjatinski wieder auf,
als er aus Wilna an den Zaren schrieb,'die Polenfrage sei lediglich nach
allslawischen Gesichtspunkten zu regeln, infolgedessen müsse den Polen eine
gewisse Autonomie eingeräumt bleiben. Ähnlich dachten die Liberalen, wie
Kawelin, und zeitweilig sogar Katkow.

Der Polenaufstand von 1863/64 brachte die Föderalisten in Nußland,
obwohl Herzen und Bakunin zu ihnen zu rechnen waren, für ein halbes
Menschenalter in Mißkredit. Doch schon seit den 1870 er Jahren wurden dem
föderativem Gedanken in Rußland wieder neue Kräfte zugetragen. Von der
einen Seite durch die Vermittlung der österreichischen Panslawisten und von
der andern durch die wirtschaftlichen Verhältnisse in Rußland selbst. Die
volkswirtschaftlichen Theoretiker forderten den Ausbau der Selbstverwaltung,
Dezentralisation der Wirtschaft. Ihre schwerstwiegenden Argumente bilden die
zahlreichen wirtschaftlichen Krisen, die sowohl durch Hungersnöte wie durch die
fiskalische Eisenbahnpolitik bedingt wurden. Unter Alexander dem Dritten
waren aber diese Forderungen nur Gründe mehr für die Zentralisation und
für die Verfolgung der Nationalitäten. Unter Nikolaus dem Zweiten fand
das zentralistische Prinzip in der Wirtschaft eine neue Stütze in der Person
des Finanzministers Witte. Daneben verstärkte sich jedoch der Ruf nach
Dezentralisation und belebte die agitatorische Arbeit der Föderalisten. Zu ihnen
gehörten bald sämtliche Konstitutionalisten. Die liberale Sjemstwopartei, die sich
im Jahre 1894 unter der Leitung D. N. Schipows — der übrigens kein Zentralist
ist — in Moskau heimlich organisiert hatte, fand schließlich im Jahre 1902
einen Fürsprecher in der Person des spätern Ministerpräsidenten Goremykin.
Wie bekannt scheiterte dessen Fürsprache für einen Ausbau der Selbstverwaltung
an dem Widerstande Wildes, der dem Zaren bewies, daß die Erweiterung der
Selbstverwaltung zum Parlamentarismus und Föderalismus führen müsse.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/304>, abgerufen am 24.07.2024.