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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Rein vom staatspolitischen Standpunkt aus ließe sich vielleicht gegen dieses
Streben nichts einwenden, wenn die natürlichen Voraussetzungen dafür vor¬
handen wären, und wenn mit dem Ausgleich bezüglich der Verwaltungstechnik
und Rechtsprechung eine weise Entwicklung der Selbstverwaltungsorgane Hand
in Hand ginge. Für Nußland treffen beide Voraussetzungen nicht zu: die Selbst¬
verwaltung wird auch nach ihrer Anerkennung im Jahre 1864 hintangehalten,
und die natürlichen Voraussetzungen fehlen überhaupt, weil Rußland nicht
von einer einzelnen Nation bewohnt wird, sondern von einem halben hundert
verschiedner Volksstämme, die zu sechs großen religiösen Bekenntnissen schwören.*)
Von der Gesamtbevölkerung Rußlands ohne Finnland gehören nur 43,5 Prozent
dem herrschenden, großrussischen Stamme, die andern 56,5 Prozent sonstigen
Stämmen an.

Nun wird man einwenden können, daß das Gros der nicht russischen
Stämme von niederer Kultur ist als die Moskowiter. Für unsre Frage wäre
der Einwand nur teilweise von Relang. Denn durch die Äußerungen des
zentralistischen Prinzips werden nicht in erster Linie die am niedrigsten stehenden
Völkerschaften getroffen, sondern gerade die am höchsten kultivierten, Und diese
auch wieder dort, wo sie in kleinen Gebieten zusammen wohnen, und wo sie
gegenüber den Großrussen die erdrückende Mehrheit bilden. In Kleinrußland,
im Weichselgebiet, in Litauen, in den Ostseeprovinzen bilden die Großrussen
kaum 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung, in Finnland kaum 3 Prozent.
Russen, denen man von diesen Dingen als von Ungerechtigkeiten spricht, ant¬
worten, der Kampf richte sich weder gegen Sprache noch gegen Religion, sondern
lediglich gegen die alten Einrichtungen und Gebräuche, die mit dem modernen
russischen Staat nicht in Einklang zu bringen seien. Bis zu einer gewissen
Grenze ist das richtig. Aber die Russen begnügen sich mit der Beseitigung
der alten Einrichtungen nicht. Sind erst historisch gewordne Eigenheiten ge¬
fallen, dann beginnt auch der rücksichtslose Kampf gegen Sprache und Religion.
Wir sehen das in Kleinrußland. Im achtzehnten Jahrhundert wurde die Ver¬
waltung nach russischem Muster eingeführt; bis 1853 wurde nach und nach
die Union aufgehoben; seit 1863 gilt, wenn wir von der Sektcnverfolgung
absehen, der Kampf ausschließlich der kleinrussischeu Sprache. Man ging in
der Verfolgung dieses Dialekts so weit, daß er von 1873 bis 1905 Nicht in
gedruckten Schriften angewandt werden durfte. In den Ostseeprovinzen ist der
Kampf noch im ersten Stadium. Dort müssen erst die Rechte der Ritterschaft
beseitigt werden, ehe man es wagen kann, die deutsche Schule und die evangelische
Kirche auszurotten. In den ehemals polnischen Gebieten ist man dagegen
durch die Uniatenfrage gebunden. Während im Baltikum soziale Verhältnisse
vorgeschoben werden, müssen in Polen ethnographische herhalten, um das Vor¬
gehn der Regierung zu rechtfertigen.



*) Orthodoxe, Katholiken, Mohammedaner, Evangelische, Juden, Buddhisten, die ver-
schiednen kleinern Bekenntnisse und Sekten nicht gerechnet.
wibsrg und Lholm

Rein vom staatspolitischen Standpunkt aus ließe sich vielleicht gegen dieses
Streben nichts einwenden, wenn die natürlichen Voraussetzungen dafür vor¬
handen wären, und wenn mit dem Ausgleich bezüglich der Verwaltungstechnik
und Rechtsprechung eine weise Entwicklung der Selbstverwaltungsorgane Hand
in Hand ginge. Für Nußland treffen beide Voraussetzungen nicht zu: die Selbst¬
verwaltung wird auch nach ihrer Anerkennung im Jahre 1864 hintangehalten,
und die natürlichen Voraussetzungen fehlen überhaupt, weil Rußland nicht
von einer einzelnen Nation bewohnt wird, sondern von einem halben hundert
verschiedner Volksstämme, die zu sechs großen religiösen Bekenntnissen schwören.*)
Von der Gesamtbevölkerung Rußlands ohne Finnland gehören nur 43,5 Prozent
dem herrschenden, großrussischen Stamme, die andern 56,5 Prozent sonstigen
Stämmen an.

Nun wird man einwenden können, daß das Gros der nicht russischen
Stämme von niederer Kultur ist als die Moskowiter. Für unsre Frage wäre
der Einwand nur teilweise von Relang. Denn durch die Äußerungen des
zentralistischen Prinzips werden nicht in erster Linie die am niedrigsten stehenden
Völkerschaften getroffen, sondern gerade die am höchsten kultivierten, Und diese
auch wieder dort, wo sie in kleinen Gebieten zusammen wohnen, und wo sie
gegenüber den Großrussen die erdrückende Mehrheit bilden. In Kleinrußland,
im Weichselgebiet, in Litauen, in den Ostseeprovinzen bilden die Großrussen
kaum 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung, in Finnland kaum 3 Prozent.
Russen, denen man von diesen Dingen als von Ungerechtigkeiten spricht, ant¬
worten, der Kampf richte sich weder gegen Sprache noch gegen Religion, sondern
lediglich gegen die alten Einrichtungen und Gebräuche, die mit dem modernen
russischen Staat nicht in Einklang zu bringen seien. Bis zu einer gewissen
Grenze ist das richtig. Aber die Russen begnügen sich mit der Beseitigung
der alten Einrichtungen nicht. Sind erst historisch gewordne Eigenheiten ge¬
fallen, dann beginnt auch der rücksichtslose Kampf gegen Sprache und Religion.
Wir sehen das in Kleinrußland. Im achtzehnten Jahrhundert wurde die Ver¬
waltung nach russischem Muster eingeführt; bis 1853 wurde nach und nach
die Union aufgehoben; seit 1863 gilt, wenn wir von der Sektcnverfolgung
absehen, der Kampf ausschließlich der kleinrussischeu Sprache. Man ging in
der Verfolgung dieses Dialekts so weit, daß er von 1873 bis 1905 Nicht in
gedruckten Schriften angewandt werden durfte. In den Ostseeprovinzen ist der
Kampf noch im ersten Stadium. Dort müssen erst die Rechte der Ritterschaft
beseitigt werden, ehe man es wagen kann, die deutsche Schule und die evangelische
Kirche auszurotten. In den ehemals polnischen Gebieten ist man dagegen
durch die Uniatenfrage gebunden. Während im Baltikum soziale Verhältnisse
vorgeschoben werden, müssen in Polen ethnographische herhalten, um das Vor¬
gehn der Regierung zu rechtfertigen.



*) Orthodoxe, Katholiken, Mohammedaner, Evangelische, Juden, Buddhisten, die ver-
schiednen kleinern Bekenntnisse und Sekten nicht gerechnet.
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[0302] wibsrg und Lholm Rein vom staatspolitischen Standpunkt aus ließe sich vielleicht gegen dieses Streben nichts einwenden, wenn die natürlichen Voraussetzungen dafür vor¬ handen wären, und wenn mit dem Ausgleich bezüglich der Verwaltungstechnik und Rechtsprechung eine weise Entwicklung der Selbstverwaltungsorgane Hand in Hand ginge. Für Nußland treffen beide Voraussetzungen nicht zu: die Selbst¬ verwaltung wird auch nach ihrer Anerkennung im Jahre 1864 hintangehalten, und die natürlichen Voraussetzungen fehlen überhaupt, weil Rußland nicht von einer einzelnen Nation bewohnt wird, sondern von einem halben hundert verschiedner Volksstämme, die zu sechs großen religiösen Bekenntnissen schwören.*) Von der Gesamtbevölkerung Rußlands ohne Finnland gehören nur 43,5 Prozent dem herrschenden, großrussischen Stamme, die andern 56,5 Prozent sonstigen Stämmen an. Nun wird man einwenden können, daß das Gros der nicht russischen Stämme von niederer Kultur ist als die Moskowiter. Für unsre Frage wäre der Einwand nur teilweise von Relang. Denn durch die Äußerungen des zentralistischen Prinzips werden nicht in erster Linie die am niedrigsten stehenden Völkerschaften getroffen, sondern gerade die am höchsten kultivierten, Und diese auch wieder dort, wo sie in kleinen Gebieten zusammen wohnen, und wo sie gegenüber den Großrussen die erdrückende Mehrheit bilden. In Kleinrußland, im Weichselgebiet, in Litauen, in den Ostseeprovinzen bilden die Großrussen kaum 5 bis 6 Prozent der Bevölkerung, in Finnland kaum 3 Prozent. Russen, denen man von diesen Dingen als von Ungerechtigkeiten spricht, ant¬ worten, der Kampf richte sich weder gegen Sprache noch gegen Religion, sondern lediglich gegen die alten Einrichtungen und Gebräuche, die mit dem modernen russischen Staat nicht in Einklang zu bringen seien. Bis zu einer gewissen Grenze ist das richtig. Aber die Russen begnügen sich mit der Beseitigung der alten Einrichtungen nicht. Sind erst historisch gewordne Eigenheiten ge¬ fallen, dann beginnt auch der rücksichtslose Kampf gegen Sprache und Religion. Wir sehen das in Kleinrußland. Im achtzehnten Jahrhundert wurde die Ver¬ waltung nach russischem Muster eingeführt; bis 1853 wurde nach und nach die Union aufgehoben; seit 1863 gilt, wenn wir von der Sektcnverfolgung absehen, der Kampf ausschließlich der kleinrussischeu Sprache. Man ging in der Verfolgung dieses Dialekts so weit, daß er von 1873 bis 1905 Nicht in gedruckten Schriften angewandt werden durfte. In den Ostseeprovinzen ist der Kampf noch im ersten Stadium. Dort müssen erst die Rechte der Ritterschaft beseitigt werden, ehe man es wagen kann, die deutsche Schule und die evangelische Kirche auszurotten. In den ehemals polnischen Gebieten ist man dagegen durch die Uniatenfrage gebunden. Während im Baltikum soziale Verhältnisse vorgeschoben werden, müssen in Polen ethnographische herhalten, um das Vor¬ gehn der Regierung zu rechtfertigen. *) Orthodoxe, Katholiken, Mohammedaner, Evangelische, Juden, Buddhisten, die ver- schiednen kleinern Bekenntnisse und Sekten nicht gerechnet.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/302>, abgerufen am 04.07.2024.