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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr.

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Scholastentum

Denn die Schulmeinung, wo nicht gar das Privatinteresse stand den Be¬
treffenden höher als die unwidersprechliche Erfahrung.

Interessant ist auch der Fall, wie der alte Mo si. der Vater der vier
berühmten Söhne, der diese immer zum Schreiben von Büchern drängte, nicht
begreifen konnte, daß sein jüngster, der Botaniker Hugo, mit einigen Seiten
veröffentlichter Entdeckungen mehr Ruhm erntete als andre mit dicken Büchern.
Die Söhne waren durch glückliche Begabung und eine straffe Erziehung auf
dem richtigen Wege. Der Alte aber steckte noch halb im Scholastentum, das
Bücherschreiben mit wissenschaftlicher Tätigkeit identifizierte. (Vgl. Robert
von Mohl. Lebenserinnerungen.) Der krasse, aber nun wieder ins über¬
triebne umkippende Gegensatz ist Nietzsche, der die "Erlösung vom Buche"
predigt. Die richtige Mitte halten die Menschen, die Herman Grimm mit
dem Attribute "an freier Luft" gestempelt hat: Goethe, Bismarck,
Helmholtz.

Dieselbe Rolle des vorurteilsloser Denkers spielte auch Boyle im sieb¬
zehnten Jahrhundert. Deshalb ist er der Vorläufer Lavoisiers. Aber er
wurde majorisiert durch den Dogmatismus seiner Zeitgenossen, die noch ganz
den alchimistischen Phantasmen unterworfen waren.

Freilich kann man in der Furcht vor Dogmatismus wieder zu weit gehn.
Aber dann sind es meist persönliche Interessen, die hierzu verführen.

Ein interessanter Fall, zu welcher Resistenz die Furcht vor Dogmatismus
einen Forscher treiben kann, ist der von Bertholet, der sich der Atomthcorie
widersetzte mit den Worten: "Ich will nicht, daß die Chemie zu einer Religion
degeneriere." Siehe den Nachruf Grabes S. 51. Auch war B. bange, daß durch
die Annahme von Radikalen Scholastik in die Wissenschaft kommen würde.

Wenn daher die große Mehrzahl der Probleme, die den Fortschritt der
Menschheit hervorrufen, spezifisch geschulte und erfahrne Fachkräfte fordert, so
sind es gerade die allergrößten Probleme, die von umwälzender Bedeutung,
die hiervon eine Ausnahme machen. Für sie sind gerade frische, vom Sche¬
matismus nicht angehauchte, durch übermäßigen Autoritätsglauben nicht be¬
engte die eigentlichsten Pioniere. Faraday: Induktion, Fraunhofer: Spek¬
trallinien, Robert Mayer: Erhaltung der Kraft (vgl. Felix Auerbach in
seiner höchst lesenswerten Darstellung: Das Zeißwerk usw. Jena, 1903).

"Weder William Jones noch Colebrooke, die beiden Entdecker der
Sanskritsprache, waren Philologen von Fach." "Der Begründer der Pflanzen-
Physiologie, Stephen Hales, war ein Landgeistlicher" (Chamberlain).




Scholastentum

Denn die Schulmeinung, wo nicht gar das Privatinteresse stand den Be¬
treffenden höher als die unwidersprechliche Erfahrung.

Interessant ist auch der Fall, wie der alte Mo si. der Vater der vier
berühmten Söhne, der diese immer zum Schreiben von Büchern drängte, nicht
begreifen konnte, daß sein jüngster, der Botaniker Hugo, mit einigen Seiten
veröffentlichter Entdeckungen mehr Ruhm erntete als andre mit dicken Büchern.
Die Söhne waren durch glückliche Begabung und eine straffe Erziehung auf
dem richtigen Wege. Der Alte aber steckte noch halb im Scholastentum, das
Bücherschreiben mit wissenschaftlicher Tätigkeit identifizierte. (Vgl. Robert
von Mohl. Lebenserinnerungen.) Der krasse, aber nun wieder ins über¬
triebne umkippende Gegensatz ist Nietzsche, der die „Erlösung vom Buche"
predigt. Die richtige Mitte halten die Menschen, die Herman Grimm mit
dem Attribute „an freier Luft" gestempelt hat: Goethe, Bismarck,
Helmholtz.

Dieselbe Rolle des vorurteilsloser Denkers spielte auch Boyle im sieb¬
zehnten Jahrhundert. Deshalb ist er der Vorläufer Lavoisiers. Aber er
wurde majorisiert durch den Dogmatismus seiner Zeitgenossen, die noch ganz
den alchimistischen Phantasmen unterworfen waren.

Freilich kann man in der Furcht vor Dogmatismus wieder zu weit gehn.
Aber dann sind es meist persönliche Interessen, die hierzu verführen.

Ein interessanter Fall, zu welcher Resistenz die Furcht vor Dogmatismus
einen Forscher treiben kann, ist der von Bertholet, der sich der Atomthcorie
widersetzte mit den Worten: „Ich will nicht, daß die Chemie zu einer Religion
degeneriere." Siehe den Nachruf Grabes S. 51. Auch war B. bange, daß durch
die Annahme von Radikalen Scholastik in die Wissenschaft kommen würde.

Wenn daher die große Mehrzahl der Probleme, die den Fortschritt der
Menschheit hervorrufen, spezifisch geschulte und erfahrne Fachkräfte fordert, so
sind es gerade die allergrößten Probleme, die von umwälzender Bedeutung,
die hiervon eine Ausnahme machen. Für sie sind gerade frische, vom Sche¬
matismus nicht angehauchte, durch übermäßigen Autoritätsglauben nicht be¬
engte die eigentlichsten Pioniere. Faraday: Induktion, Fraunhofer: Spek¬
trallinien, Robert Mayer: Erhaltung der Kraft (vgl. Felix Auerbach in
seiner höchst lesenswerten Darstellung: Das Zeißwerk usw. Jena, 1903).

„Weder William Jones noch Colebrooke, die beiden Entdecker der
Sanskritsprache, waren Philologen von Fach." „Der Begründer der Pflanzen-
Physiologie, Stephen Hales, war ein Landgeistlicher" (Chamberlain).




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[0171] Scholastentum Denn die Schulmeinung, wo nicht gar das Privatinteresse stand den Be¬ treffenden höher als die unwidersprechliche Erfahrung. Interessant ist auch der Fall, wie der alte Mo si. der Vater der vier berühmten Söhne, der diese immer zum Schreiben von Büchern drängte, nicht begreifen konnte, daß sein jüngster, der Botaniker Hugo, mit einigen Seiten veröffentlichter Entdeckungen mehr Ruhm erntete als andre mit dicken Büchern. Die Söhne waren durch glückliche Begabung und eine straffe Erziehung auf dem richtigen Wege. Der Alte aber steckte noch halb im Scholastentum, das Bücherschreiben mit wissenschaftlicher Tätigkeit identifizierte. (Vgl. Robert von Mohl. Lebenserinnerungen.) Der krasse, aber nun wieder ins über¬ triebne umkippende Gegensatz ist Nietzsche, der die „Erlösung vom Buche" predigt. Die richtige Mitte halten die Menschen, die Herman Grimm mit dem Attribute „an freier Luft" gestempelt hat: Goethe, Bismarck, Helmholtz. Dieselbe Rolle des vorurteilsloser Denkers spielte auch Boyle im sieb¬ zehnten Jahrhundert. Deshalb ist er der Vorläufer Lavoisiers. Aber er wurde majorisiert durch den Dogmatismus seiner Zeitgenossen, die noch ganz den alchimistischen Phantasmen unterworfen waren. Freilich kann man in der Furcht vor Dogmatismus wieder zu weit gehn. Aber dann sind es meist persönliche Interessen, die hierzu verführen. Ein interessanter Fall, zu welcher Resistenz die Furcht vor Dogmatismus einen Forscher treiben kann, ist der von Bertholet, der sich der Atomthcorie widersetzte mit den Worten: „Ich will nicht, daß die Chemie zu einer Religion degeneriere." Siehe den Nachruf Grabes S. 51. Auch war B. bange, daß durch die Annahme von Radikalen Scholastik in die Wissenschaft kommen würde. Wenn daher die große Mehrzahl der Probleme, die den Fortschritt der Menschheit hervorrufen, spezifisch geschulte und erfahrne Fachkräfte fordert, so sind es gerade die allergrößten Probleme, die von umwälzender Bedeutung, die hiervon eine Ausnahme machen. Für sie sind gerade frische, vom Sche¬ matismus nicht angehauchte, durch übermäßigen Autoritätsglauben nicht be¬ engte die eigentlichsten Pioniere. Faraday: Induktion, Fraunhofer: Spek¬ trallinien, Robert Mayer: Erhaltung der Kraft (vgl. Felix Auerbach in seiner höchst lesenswerten Darstellung: Das Zeißwerk usw. Jena, 1903). „Weder William Jones noch Colebrooke, die beiden Entdecker der Sanskritsprache, waren Philologen von Fach." „Der Begründer der Pflanzen- Physiologie, Stephen Hales, war ein Landgeistlicher" (Chamberlain).

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Viertes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_314346/171>, abgerufen am 24.07.2024.