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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Der englische Staat von heute

werden kann, der nicht im Unterhause sitzt, und daß jeder Minister einem der
beiden Häuser des Parlaments als Mitglied angehören muß. Und das zufällig
gewordne hat sich, so unlogisch es aussieht, bewährt. Es ist dadurch dafür
gesorgt, daß Gesetzgebung und Verwaltung im großen und ganzen in Über¬
einstimmung bleiben mit dem Willen, den Wünschen, den Bedürfnissen der über¬
wiegenden Mehrheit der Wähler, die seit der letzten Parlamentsreform beinahe
die Mehrheit der Nation bedeutet. Jedes Kabinett erzeugt durch seine Parlaments-
tütigkeit Unzufriedenheit, und hat sich eine genügende Menge von Unzufrieden¬
heit angesammelt, so wird es dnrch ein aus der bisherigen Opposition hervor¬
gehendes Kabinett ersetzt. So schwankt der Staatskarren im Zickzackkurs vor¬
wärts; biegt er zu weit rechts ab, dann bringt ihn ein Stoß von der Linken,
im entgegengesetzten Fall einer von der Rechten wieder der Mittellinie nahe.
Wobei links und rechts rein geometrisch zu nehmen sind, sodaß man unter
links nicht unbedingt soviel wie liberal, demokratisch oder volksfreundlich zu ver¬
stehen hat, denn manchmal, wie im Anfange der Arbeiterschutzgesetzgebung, sind
es die Tories, die den armern Volksklassen größere Zugeständnisse machen, und
für Schutzzoll hat der Bourgeois Chcimberlain agitiert. Solange der englische
Premier der Mehrheit des Unterhauses sicher ist, und diese das Vertrauen der
Mehrheit der Wähler behält, ist er mächtiger als der deutsche Kaiser; "denn er
kann Gesetze ändern, er kann Steuern auferlegen und aufheben, und er kann
alle Staatsgewalten dirigieren." Die Trennung der Gesetzgebung von der Ver¬
waltung, die seit Montesquieu als das wichtigste aller konstitutionellen Dogmen
gilt, hat im modernen England der innigsten Verschmelzung Platz gemacht.
Die Minister gehen aus der gesetzgebenden Versammlung hervor und gehören
ihr an -- gegen die alten Grundsätze, die auch heute immer noch Verteidiger
finden --, und das Parlament greift selbst vielfach in die Verwaltung ein.
Wenn die große Veränderung seit 1688 darin besteht, daß (infolge der Unfähig¬
keit einiger, der Landfremdheit andrer, aus Holland und Deutschland stammender
Monarchen und im Grunde genommen gegen den Willen der Nation und des
Parlaments selbst) die Staatsgewalt von der Krone auf das Unterhaus über¬
gegangen ist, so waltet seit 1332 die Tendenz vor, die Staatsgewalt vom
Unterhause auf das Kabinett zu übertragen.

Wie sich diese Tendenz durchgesetzt hat -- wiederum durch einen Zufall --,
haben wir schon von Redlich erfahren. Die Obstruktion der Iren hat das
Unterhaus gezwungen, sich eine Geschäftsordnung zu geben, die dem speaker
diktatorische Gewalt verleiht und dem Kabinett das Monopol der Initiative
in der Gesetzgebung sichert. Nicht Herrschsucht der Minister, schreibt Low, hat
diesen Wandel bewirkt. "Unsre Staatsmänner haben nicht im geringsten Neigung,
die Rolle eines Strafford zu spielen oder ihre Verantwortlichkeit auszudehnen.
Aber "die Geschäfte des Königs müssen besorgt werden", und jede Session be¬
weist aufs neue, daß sie nicht besorgt werden können ohne drastische Disziplinar-
mittel." Um 1700 war das Unterhaus vollkommen führerlos, wurde bei der
Schwäche der Krone weder durch deren Beamte noch durch Minister eigner


Der englische Staat von heute

werden kann, der nicht im Unterhause sitzt, und daß jeder Minister einem der
beiden Häuser des Parlaments als Mitglied angehören muß. Und das zufällig
gewordne hat sich, so unlogisch es aussieht, bewährt. Es ist dadurch dafür
gesorgt, daß Gesetzgebung und Verwaltung im großen und ganzen in Über¬
einstimmung bleiben mit dem Willen, den Wünschen, den Bedürfnissen der über¬
wiegenden Mehrheit der Wähler, die seit der letzten Parlamentsreform beinahe
die Mehrheit der Nation bedeutet. Jedes Kabinett erzeugt durch seine Parlaments-
tütigkeit Unzufriedenheit, und hat sich eine genügende Menge von Unzufrieden¬
heit angesammelt, so wird es dnrch ein aus der bisherigen Opposition hervor¬
gehendes Kabinett ersetzt. So schwankt der Staatskarren im Zickzackkurs vor¬
wärts; biegt er zu weit rechts ab, dann bringt ihn ein Stoß von der Linken,
im entgegengesetzten Fall einer von der Rechten wieder der Mittellinie nahe.
Wobei links und rechts rein geometrisch zu nehmen sind, sodaß man unter
links nicht unbedingt soviel wie liberal, demokratisch oder volksfreundlich zu ver¬
stehen hat, denn manchmal, wie im Anfange der Arbeiterschutzgesetzgebung, sind
es die Tories, die den armern Volksklassen größere Zugeständnisse machen, und
für Schutzzoll hat der Bourgeois Chcimberlain agitiert. Solange der englische
Premier der Mehrheit des Unterhauses sicher ist, und diese das Vertrauen der
Mehrheit der Wähler behält, ist er mächtiger als der deutsche Kaiser; „denn er
kann Gesetze ändern, er kann Steuern auferlegen und aufheben, und er kann
alle Staatsgewalten dirigieren." Die Trennung der Gesetzgebung von der Ver¬
waltung, die seit Montesquieu als das wichtigste aller konstitutionellen Dogmen
gilt, hat im modernen England der innigsten Verschmelzung Platz gemacht.
Die Minister gehen aus der gesetzgebenden Versammlung hervor und gehören
ihr an — gegen die alten Grundsätze, die auch heute immer noch Verteidiger
finden —, und das Parlament greift selbst vielfach in die Verwaltung ein.
Wenn die große Veränderung seit 1688 darin besteht, daß (infolge der Unfähig¬
keit einiger, der Landfremdheit andrer, aus Holland und Deutschland stammender
Monarchen und im Grunde genommen gegen den Willen der Nation und des
Parlaments selbst) die Staatsgewalt von der Krone auf das Unterhaus über¬
gegangen ist, so waltet seit 1332 die Tendenz vor, die Staatsgewalt vom
Unterhause auf das Kabinett zu übertragen.

Wie sich diese Tendenz durchgesetzt hat — wiederum durch einen Zufall —,
haben wir schon von Redlich erfahren. Die Obstruktion der Iren hat das
Unterhaus gezwungen, sich eine Geschäftsordnung zu geben, die dem speaker
diktatorische Gewalt verleiht und dem Kabinett das Monopol der Initiative
in der Gesetzgebung sichert. Nicht Herrschsucht der Minister, schreibt Low, hat
diesen Wandel bewirkt. „Unsre Staatsmänner haben nicht im geringsten Neigung,
die Rolle eines Strafford zu spielen oder ihre Verantwortlichkeit auszudehnen.
Aber »die Geschäfte des Königs müssen besorgt werden«, und jede Session be¬
weist aufs neue, daß sie nicht besorgt werden können ohne drastische Disziplinar-
mittel." Um 1700 war das Unterhaus vollkommen führerlos, wurde bei der
Schwäche der Krone weder durch deren Beamte noch durch Minister eigner


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[0073] Der englische Staat von heute werden kann, der nicht im Unterhause sitzt, und daß jeder Minister einem der beiden Häuser des Parlaments als Mitglied angehören muß. Und das zufällig gewordne hat sich, so unlogisch es aussieht, bewährt. Es ist dadurch dafür gesorgt, daß Gesetzgebung und Verwaltung im großen und ganzen in Über¬ einstimmung bleiben mit dem Willen, den Wünschen, den Bedürfnissen der über¬ wiegenden Mehrheit der Wähler, die seit der letzten Parlamentsreform beinahe die Mehrheit der Nation bedeutet. Jedes Kabinett erzeugt durch seine Parlaments- tütigkeit Unzufriedenheit, und hat sich eine genügende Menge von Unzufrieden¬ heit angesammelt, so wird es dnrch ein aus der bisherigen Opposition hervor¬ gehendes Kabinett ersetzt. So schwankt der Staatskarren im Zickzackkurs vor¬ wärts; biegt er zu weit rechts ab, dann bringt ihn ein Stoß von der Linken, im entgegengesetzten Fall einer von der Rechten wieder der Mittellinie nahe. Wobei links und rechts rein geometrisch zu nehmen sind, sodaß man unter links nicht unbedingt soviel wie liberal, demokratisch oder volksfreundlich zu ver¬ stehen hat, denn manchmal, wie im Anfange der Arbeiterschutzgesetzgebung, sind es die Tories, die den armern Volksklassen größere Zugeständnisse machen, und für Schutzzoll hat der Bourgeois Chcimberlain agitiert. Solange der englische Premier der Mehrheit des Unterhauses sicher ist, und diese das Vertrauen der Mehrheit der Wähler behält, ist er mächtiger als der deutsche Kaiser; „denn er kann Gesetze ändern, er kann Steuern auferlegen und aufheben, und er kann alle Staatsgewalten dirigieren." Die Trennung der Gesetzgebung von der Ver¬ waltung, die seit Montesquieu als das wichtigste aller konstitutionellen Dogmen gilt, hat im modernen England der innigsten Verschmelzung Platz gemacht. Die Minister gehen aus der gesetzgebenden Versammlung hervor und gehören ihr an — gegen die alten Grundsätze, die auch heute immer noch Verteidiger finden —, und das Parlament greift selbst vielfach in die Verwaltung ein. Wenn die große Veränderung seit 1688 darin besteht, daß (infolge der Unfähig¬ keit einiger, der Landfremdheit andrer, aus Holland und Deutschland stammender Monarchen und im Grunde genommen gegen den Willen der Nation und des Parlaments selbst) die Staatsgewalt von der Krone auf das Unterhaus über¬ gegangen ist, so waltet seit 1332 die Tendenz vor, die Staatsgewalt vom Unterhause auf das Kabinett zu übertragen. Wie sich diese Tendenz durchgesetzt hat — wiederum durch einen Zufall —, haben wir schon von Redlich erfahren. Die Obstruktion der Iren hat das Unterhaus gezwungen, sich eine Geschäftsordnung zu geben, die dem speaker diktatorische Gewalt verleiht und dem Kabinett das Monopol der Initiative in der Gesetzgebung sichert. Nicht Herrschsucht der Minister, schreibt Low, hat diesen Wandel bewirkt. „Unsre Staatsmänner haben nicht im geringsten Neigung, die Rolle eines Strafford zu spielen oder ihre Verantwortlichkeit auszudehnen. Aber »die Geschäfte des Königs müssen besorgt werden«, und jede Session be¬ weist aufs neue, daß sie nicht besorgt werden können ohne drastische Disziplinar- mittel." Um 1700 war das Unterhaus vollkommen führerlos, wurde bei der Schwäche der Krone weder durch deren Beamte noch durch Minister eigner

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/73>, abgerufen am 22.12.2024.