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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

Jugend schreiben nur Dichter und Frauen, so klagte der Berichterstatter, und
die schreiben nicht für uns." Er hatte auch sagen können: Für die Jugend zu
schreiben, dazu gehört Phantasie und Gemüt, und darüber verfügen wir nicht.
Diese jüngste Partei ist eben trotz ihrem Siegeszug unter den Massen eine greisen¬
hafte, nach ihrem innersten Wesen unfruchtbare Erscheinung, darum ist sie keine
Partei der Jugend, wenn sie auch durch die künstliche Beherrschung des Milieus
die Jugend des Proletariats bei sich gefangen hält. Denn die Jugend braucht
Hoffnung, keine Verneinung. Aus dem, was über das Thema "Arbeit an der
Jugend" gesagt wurde, können die bürgerlichen Parteien viel lernen.

Jetzt will sich auch die Sozialdemokratie zur Bekämpfung des Alkoholmi߬
brauchs aufschwingen. Bis jetzt ging es nicht, weil man doch die mächtigsten
Helfer der Agitation, die sozialdemokratischen Schankwirte, nicht verstimmen durfte.
Die Erwägung, daß aus moralischen Gründen das Proletariat aus der Gewalt
des Schnapsteufels befreit werden müsse, drang in dieser Partei nicht durch, der
der nüchterne, vernünftig für seine Familie lebende Arbeiter ein Greuel ist; man
kann nur den unzufriednen Proletarier gebrauchen, der nicht daheim, sondern im
Wirtshause gezüchtet wird. Moralische Erwägungen würden auch jetzt die Sozial¬
demokratie nicht veranlassen, ein Bestreben zu unterstützen, das nur zum Heil der
Arbeiterklasse dienen könnte. Der Hebel, der diesen vernünftigen Beschluß endlich
ans Tageslicht gebracht hat, ist auch diesmal uur der Klassenhaß gewesen. Der
Schnapsboykott soll eine Art von Steuerverweigerung darstellen, weil das Schnäpschen
des armen Mannes von den Junkern ungebührlich belastet worden ist. Die Auf¬
fassung ist nebenbei unendlich naiv. Die Kreise, die dort als "Schnapsjunker" ver¬
schrien wurden, haben für die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs schon bisher viel
mehr getan, als die Sozialdemokratie jemals tun wird. Bei der heute so mannig¬
faltigen industriellen Verwertung des Spiritus wird eine Einschränkung des Ge¬
nusses von Trinkbranntwein -- wenn dieser Boykott wirklich durchgeführt werden
sollte -- gerade die Kreise, die der Sozialdemokratie am meisten verhaßt und nach
ihrer Meinung für die Mehrbelastung des Alkohols hauptsächlich verantwortlich
sind, am allerwenigsten treffen. Gerade beim Branntwein bleibt übrigens die
Hauptbelastung durch die neue Steuererhöhung auf den Schultern der Produzenten
haften, und es wird sich wahrscheinlich über kurz oder lang auch ohne Mitwirkung
der Sozialdemokratie eine Einschränkung der Branntweinerzeugung vollziehen, weil
der Betrieb kleiner Brennereien kaum noch lohnend ist.

Interessant war bei den Leipziger Verhandlungen auch die Erörterung der
Haltung der Sozialdemokratie bei der Beratung der Erbschaftssteuer. Die beinahe
komisch wirkenden Verlegenheiten, die gerade hierbei aus dem Widerspruch zwischen
Parteiprogramm und Taktik erwuchsen, gaben diesem Streit ein sehr eigenartiges
Gepräge und drängten geradezu auf die Lösung hin, die sich unter diesen Um¬
ständen als Triumph des Revisionismus darstellen mußte. Den Knoten dieses
Widerspruchs konnte auch Bebel, selbst wenn er an Temperament noch der alte ge¬
wesen wäre, nicht mit dem Schwerte seiner leidenschaftlichen Beredsamkeit durchhauen;
man konnte nur ein Tuch darüber decken, und das gab der Revisionismus her.

Endlich hat sich die Partei auch in ihrer Art mit einer Finanzreform befaßt;
man beriet über die Beschaffung geregelter Einnahmen für die Parteikasse. Gern
hätte man eine regelrechte Einkommensteuer eingeführt, wenn man nicht die Steuer¬
hinterziehungen gefürchtet hätte. Der Bourgeoisstaat muß doch auf den Partei¬
organismus schon ganz bedenklich abgefärbt haben. Aber die Seelenruhe, mit der
über Parteisteuern verhandelt wurde, stach sonderbar ab von der wilden Aufregung
mit der die sehr viel bescheidnern, den Proletarier viel weniger drückenden Forderungen


Grenzboten III 1909
Maßgebliches und Unmaßgebliches

Jugend schreiben nur Dichter und Frauen, so klagte der Berichterstatter, und
die schreiben nicht für uns." Er hatte auch sagen können: Für die Jugend zu
schreiben, dazu gehört Phantasie und Gemüt, und darüber verfügen wir nicht.
Diese jüngste Partei ist eben trotz ihrem Siegeszug unter den Massen eine greisen¬
hafte, nach ihrem innersten Wesen unfruchtbare Erscheinung, darum ist sie keine
Partei der Jugend, wenn sie auch durch die künstliche Beherrschung des Milieus
die Jugend des Proletariats bei sich gefangen hält. Denn die Jugend braucht
Hoffnung, keine Verneinung. Aus dem, was über das Thema „Arbeit an der
Jugend" gesagt wurde, können die bürgerlichen Parteien viel lernen.

Jetzt will sich auch die Sozialdemokratie zur Bekämpfung des Alkoholmi߬
brauchs aufschwingen. Bis jetzt ging es nicht, weil man doch die mächtigsten
Helfer der Agitation, die sozialdemokratischen Schankwirte, nicht verstimmen durfte.
Die Erwägung, daß aus moralischen Gründen das Proletariat aus der Gewalt
des Schnapsteufels befreit werden müsse, drang in dieser Partei nicht durch, der
der nüchterne, vernünftig für seine Familie lebende Arbeiter ein Greuel ist; man
kann nur den unzufriednen Proletarier gebrauchen, der nicht daheim, sondern im
Wirtshause gezüchtet wird. Moralische Erwägungen würden auch jetzt die Sozial¬
demokratie nicht veranlassen, ein Bestreben zu unterstützen, das nur zum Heil der
Arbeiterklasse dienen könnte. Der Hebel, der diesen vernünftigen Beschluß endlich
ans Tageslicht gebracht hat, ist auch diesmal uur der Klassenhaß gewesen. Der
Schnapsboykott soll eine Art von Steuerverweigerung darstellen, weil das Schnäpschen
des armen Mannes von den Junkern ungebührlich belastet worden ist. Die Auf¬
fassung ist nebenbei unendlich naiv. Die Kreise, die dort als „Schnapsjunker" ver¬
schrien wurden, haben für die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs schon bisher viel
mehr getan, als die Sozialdemokratie jemals tun wird. Bei der heute so mannig¬
faltigen industriellen Verwertung des Spiritus wird eine Einschränkung des Ge¬
nusses von Trinkbranntwein — wenn dieser Boykott wirklich durchgeführt werden
sollte — gerade die Kreise, die der Sozialdemokratie am meisten verhaßt und nach
ihrer Meinung für die Mehrbelastung des Alkohols hauptsächlich verantwortlich
sind, am allerwenigsten treffen. Gerade beim Branntwein bleibt übrigens die
Hauptbelastung durch die neue Steuererhöhung auf den Schultern der Produzenten
haften, und es wird sich wahrscheinlich über kurz oder lang auch ohne Mitwirkung
der Sozialdemokratie eine Einschränkung der Branntweinerzeugung vollziehen, weil
der Betrieb kleiner Brennereien kaum noch lohnend ist.

Interessant war bei den Leipziger Verhandlungen auch die Erörterung der
Haltung der Sozialdemokratie bei der Beratung der Erbschaftssteuer. Die beinahe
komisch wirkenden Verlegenheiten, die gerade hierbei aus dem Widerspruch zwischen
Parteiprogramm und Taktik erwuchsen, gaben diesem Streit ein sehr eigenartiges
Gepräge und drängten geradezu auf die Lösung hin, die sich unter diesen Um¬
ständen als Triumph des Revisionismus darstellen mußte. Den Knoten dieses
Widerspruchs konnte auch Bebel, selbst wenn er an Temperament noch der alte ge¬
wesen wäre, nicht mit dem Schwerte seiner leidenschaftlichen Beredsamkeit durchhauen;
man konnte nur ein Tuch darüber decken, und das gab der Revisionismus her.

Endlich hat sich die Partei auch in ihrer Art mit einer Finanzreform befaßt;
man beriet über die Beschaffung geregelter Einnahmen für die Parteikasse. Gern
hätte man eine regelrechte Einkommensteuer eingeführt, wenn man nicht die Steuer¬
hinterziehungen gefürchtet hätte. Der Bourgeoisstaat muß doch auf den Partei¬
organismus schon ganz bedenklich abgefärbt haben. Aber die Seelenruhe, mit der
über Parteisteuern verhandelt wurde, stach sonderbar ab von der wilden Aufregung
mit der die sehr viel bescheidnern, den Proletarier viel weniger drückenden Forderungen


Grenzboten III 1909
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[0631] Maßgebliches und Unmaßgebliches Jugend schreiben nur Dichter und Frauen, so klagte der Berichterstatter, und die schreiben nicht für uns." Er hatte auch sagen können: Für die Jugend zu schreiben, dazu gehört Phantasie und Gemüt, und darüber verfügen wir nicht. Diese jüngste Partei ist eben trotz ihrem Siegeszug unter den Massen eine greisen¬ hafte, nach ihrem innersten Wesen unfruchtbare Erscheinung, darum ist sie keine Partei der Jugend, wenn sie auch durch die künstliche Beherrschung des Milieus die Jugend des Proletariats bei sich gefangen hält. Denn die Jugend braucht Hoffnung, keine Verneinung. Aus dem, was über das Thema „Arbeit an der Jugend" gesagt wurde, können die bürgerlichen Parteien viel lernen. Jetzt will sich auch die Sozialdemokratie zur Bekämpfung des Alkoholmi߬ brauchs aufschwingen. Bis jetzt ging es nicht, weil man doch die mächtigsten Helfer der Agitation, die sozialdemokratischen Schankwirte, nicht verstimmen durfte. Die Erwägung, daß aus moralischen Gründen das Proletariat aus der Gewalt des Schnapsteufels befreit werden müsse, drang in dieser Partei nicht durch, der der nüchterne, vernünftig für seine Familie lebende Arbeiter ein Greuel ist; man kann nur den unzufriednen Proletarier gebrauchen, der nicht daheim, sondern im Wirtshause gezüchtet wird. Moralische Erwägungen würden auch jetzt die Sozial¬ demokratie nicht veranlassen, ein Bestreben zu unterstützen, das nur zum Heil der Arbeiterklasse dienen könnte. Der Hebel, der diesen vernünftigen Beschluß endlich ans Tageslicht gebracht hat, ist auch diesmal uur der Klassenhaß gewesen. Der Schnapsboykott soll eine Art von Steuerverweigerung darstellen, weil das Schnäpschen des armen Mannes von den Junkern ungebührlich belastet worden ist. Die Auf¬ fassung ist nebenbei unendlich naiv. Die Kreise, die dort als „Schnapsjunker" ver¬ schrien wurden, haben für die Bekämpfung des Alkoholmißbrauchs schon bisher viel mehr getan, als die Sozialdemokratie jemals tun wird. Bei der heute so mannig¬ faltigen industriellen Verwertung des Spiritus wird eine Einschränkung des Ge¬ nusses von Trinkbranntwein — wenn dieser Boykott wirklich durchgeführt werden sollte — gerade die Kreise, die der Sozialdemokratie am meisten verhaßt und nach ihrer Meinung für die Mehrbelastung des Alkohols hauptsächlich verantwortlich sind, am allerwenigsten treffen. Gerade beim Branntwein bleibt übrigens die Hauptbelastung durch die neue Steuererhöhung auf den Schultern der Produzenten haften, und es wird sich wahrscheinlich über kurz oder lang auch ohne Mitwirkung der Sozialdemokratie eine Einschränkung der Branntweinerzeugung vollziehen, weil der Betrieb kleiner Brennereien kaum noch lohnend ist. Interessant war bei den Leipziger Verhandlungen auch die Erörterung der Haltung der Sozialdemokratie bei der Beratung der Erbschaftssteuer. Die beinahe komisch wirkenden Verlegenheiten, die gerade hierbei aus dem Widerspruch zwischen Parteiprogramm und Taktik erwuchsen, gaben diesem Streit ein sehr eigenartiges Gepräge und drängten geradezu auf die Lösung hin, die sich unter diesen Um¬ ständen als Triumph des Revisionismus darstellen mußte. Den Knoten dieses Widerspruchs konnte auch Bebel, selbst wenn er an Temperament noch der alte ge¬ wesen wäre, nicht mit dem Schwerte seiner leidenschaftlichen Beredsamkeit durchhauen; man konnte nur ein Tuch darüber decken, und das gab der Revisionismus her. Endlich hat sich die Partei auch in ihrer Art mit einer Finanzreform befaßt; man beriet über die Beschaffung geregelter Einnahmen für die Parteikasse. Gern hätte man eine regelrechte Einkommensteuer eingeführt, wenn man nicht die Steuer¬ hinterziehungen gefürchtet hätte. Der Bourgeoisstaat muß doch auf den Partei¬ organismus schon ganz bedenklich abgefärbt haben. Aber die Seelenruhe, mit der über Parteisteuern verhandelt wurde, stach sonderbar ab von der wilden Aufregung mit der die sehr viel bescheidnern, den Proletarier viel weniger drückenden Forderungen Grenzboten III 1909

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/631>, abgerufen am 22.12.2024.