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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Goethe und Pestalozzi

Pestalozzis, stand ans Pestalozzis Schultern. "Er war der mit einem gro߬
artigen Organisationstalent begabte, mit energischer Tatkraft ausgerüstete, zur
Welt in einem gesunden Wirklichkeitsverhältnis stehende Ausführer Pestalozzischer
Ideen. Was dem unpraktischen, ja träumerisch veranlagten Pestalozzi fehlte, das
besaß Fellenberg, er war gewissermaßen die Ergänzung seines Wesens." Sogar
der Gedanke, die Schüler erst mit ihrer wachsenden Reife in die Evangelien ein¬
zuführen und auch dann erst zu einer lebendigen Erfassung des Lebens Jesu
anzuleiten, findet sich bei Fellenberg. Goethe hat ihn vertieft und erweitert zu
seinen herrlichen Gedanken über die "Religion der Ehrfurchteu". Auf der untersten
Stufe lernt der Schüler die heidnischen Religionen kennen, deren höchste die
jüdische ist; sie beruht auf der Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Es folgt
die philosophische Religion, beruhend auf der Ehrfurcht vor dem, was uus gleich
ist; denn der Philosoph zieht alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich
hinauf. Danach erst lernen die Schüler die christliche Religion kennen, die auf
der Ehrfurcht vor dem beruht, was unter uns ist: Armut, Schande, Leiden, Tod.
Auf diesen drei Ehrfurchten beruht die oberste, die der Mensch haben kann, die
Ehrfurcht vor sich selbst, vor dem Göttlichen im Menschen. Mangel an Respekt,
an Ehrfurcht, den er bei den Schülern de l'Aspees fand, war es, was den Dichter
hauptsächlich von Pestalozzis Erziehungssystem wegführte. Was Goethe aber
selbst in der "Pädagogischen Provinz" als sein Erziehungsidcal aufstellt, beruht
trotzdem teilweise auf Anregungen, die Pestalozzi gegeben hatte, leider aber nicht
selbst klar darzustellen oder in die Tat umzusetzen vermochte. Goethe war sich
dieser halben Abhängigkeit um so weniger bewußt, weil er seine erzieherischen
Ideen in bewußtem Gegensatze zu Pestalozzis Person und der Mehrzahl seiner
Nachahmer ausgebildet hatte, weil er das sozial-altruistische Bildungsideal, wenn
auch nicht zum System gebildet, so doch in dichterischer Kraft und Anschaulichkeit
vou jeher in seinem warmen Herzen hegte. Es ist ja die wichtigste Idee seiner
Faustdichtung. Schon im ersten Teil, am Abend des Ostertags, als Faust
darangeht, heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen,

findet er nach langem Suchen für den Anfang des Johannesevangelinms die
Übersetzung: ^ ^S, war die Tat!

Und diesem Wort gesellt sich dann im vierten Akt des zweiten Teils das andre:


Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.

Endlich wird Fausts an Irrtum und Sünde so reiches Leben würdig und ver¬
söhnend abgeschlossen durch seine Tätigkeit im Sinne des Gemeinwohls:


Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.

Goethe und Pestalozzi

Pestalozzis, stand ans Pestalozzis Schultern. „Er war der mit einem gro߬
artigen Organisationstalent begabte, mit energischer Tatkraft ausgerüstete, zur
Welt in einem gesunden Wirklichkeitsverhältnis stehende Ausführer Pestalozzischer
Ideen. Was dem unpraktischen, ja träumerisch veranlagten Pestalozzi fehlte, das
besaß Fellenberg, er war gewissermaßen die Ergänzung seines Wesens." Sogar
der Gedanke, die Schüler erst mit ihrer wachsenden Reife in die Evangelien ein¬
zuführen und auch dann erst zu einer lebendigen Erfassung des Lebens Jesu
anzuleiten, findet sich bei Fellenberg. Goethe hat ihn vertieft und erweitert zu
seinen herrlichen Gedanken über die „Religion der Ehrfurchteu". Auf der untersten
Stufe lernt der Schüler die heidnischen Religionen kennen, deren höchste die
jüdische ist; sie beruht auf der Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Es folgt
die philosophische Religion, beruhend auf der Ehrfurcht vor dem, was uus gleich
ist; denn der Philosoph zieht alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich
hinauf. Danach erst lernen die Schüler die christliche Religion kennen, die auf
der Ehrfurcht vor dem beruht, was unter uns ist: Armut, Schande, Leiden, Tod.
Auf diesen drei Ehrfurchten beruht die oberste, die der Mensch haben kann, die
Ehrfurcht vor sich selbst, vor dem Göttlichen im Menschen. Mangel an Respekt,
an Ehrfurcht, den er bei den Schülern de l'Aspees fand, war es, was den Dichter
hauptsächlich von Pestalozzis Erziehungssystem wegführte. Was Goethe aber
selbst in der „Pädagogischen Provinz" als sein Erziehungsidcal aufstellt, beruht
trotzdem teilweise auf Anregungen, die Pestalozzi gegeben hatte, leider aber nicht
selbst klar darzustellen oder in die Tat umzusetzen vermochte. Goethe war sich
dieser halben Abhängigkeit um so weniger bewußt, weil er seine erzieherischen
Ideen in bewußtem Gegensatze zu Pestalozzis Person und der Mehrzahl seiner
Nachahmer ausgebildet hatte, weil er das sozial-altruistische Bildungsideal, wenn
auch nicht zum System gebildet, so doch in dichterischer Kraft und Anschaulichkeit
vou jeher in seinem warmen Herzen hegte. Es ist ja die wichtigste Idee seiner
Faustdichtung. Schon im ersten Teil, am Abend des Ostertags, als Faust
darangeht, heilige Original
In mein geliebtes Deutsch zu übertragen,

findet er nach langem Suchen für den Anfang des Johannesevangelinms die
Übersetzung: ^ ^S, war die Tat!

Und diesem Wort gesellt sich dann im vierten Akt des zweiten Teils das andre:


Die Tat ist alles, nichts der Ruhm.

Endlich wird Fausts an Irrtum und Sünde so reiches Leben würdig und ver¬
söhnend abgeschlossen durch seine Tätigkeit im Sinne des Gemeinwohls:


Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben,
Das ist der Weisheit letzter Schluß:
Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben,
Der täglich sie erobern muß.

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[0574] Goethe und Pestalozzi Pestalozzis, stand ans Pestalozzis Schultern. „Er war der mit einem gro߬ artigen Organisationstalent begabte, mit energischer Tatkraft ausgerüstete, zur Welt in einem gesunden Wirklichkeitsverhältnis stehende Ausführer Pestalozzischer Ideen. Was dem unpraktischen, ja träumerisch veranlagten Pestalozzi fehlte, das besaß Fellenberg, er war gewissermaßen die Ergänzung seines Wesens." Sogar der Gedanke, die Schüler erst mit ihrer wachsenden Reife in die Evangelien ein¬ zuführen und auch dann erst zu einer lebendigen Erfassung des Lebens Jesu anzuleiten, findet sich bei Fellenberg. Goethe hat ihn vertieft und erweitert zu seinen herrlichen Gedanken über die „Religion der Ehrfurchteu". Auf der untersten Stufe lernt der Schüler die heidnischen Religionen kennen, deren höchste die jüdische ist; sie beruht auf der Ehrfurcht vor dem, was über uns ist. Es folgt die philosophische Religion, beruhend auf der Ehrfurcht vor dem, was uus gleich ist; denn der Philosoph zieht alles Höhere zu sich herab, alles Niedere zu sich hinauf. Danach erst lernen die Schüler die christliche Religion kennen, die auf der Ehrfurcht vor dem beruht, was unter uns ist: Armut, Schande, Leiden, Tod. Auf diesen drei Ehrfurchten beruht die oberste, die der Mensch haben kann, die Ehrfurcht vor sich selbst, vor dem Göttlichen im Menschen. Mangel an Respekt, an Ehrfurcht, den er bei den Schülern de l'Aspees fand, war es, was den Dichter hauptsächlich von Pestalozzis Erziehungssystem wegführte. Was Goethe aber selbst in der „Pädagogischen Provinz" als sein Erziehungsidcal aufstellt, beruht trotzdem teilweise auf Anregungen, die Pestalozzi gegeben hatte, leider aber nicht selbst klar darzustellen oder in die Tat umzusetzen vermochte. Goethe war sich dieser halben Abhängigkeit um so weniger bewußt, weil er seine erzieherischen Ideen in bewußtem Gegensatze zu Pestalozzis Person und der Mehrzahl seiner Nachahmer ausgebildet hatte, weil er das sozial-altruistische Bildungsideal, wenn auch nicht zum System gebildet, so doch in dichterischer Kraft und Anschaulichkeit vou jeher in seinem warmen Herzen hegte. Es ist ja die wichtigste Idee seiner Faustdichtung. Schon im ersten Teil, am Abend des Ostertags, als Faust darangeht, heilige Original In mein geliebtes Deutsch zu übertragen, findet er nach langem Suchen für den Anfang des Johannesevangelinms die Übersetzung: ^ ^S, war die Tat! Und diesem Wort gesellt sich dann im vierten Akt des zweiten Teils das andre: Die Tat ist alles, nichts der Ruhm. Endlich wird Fausts an Irrtum und Sünde so reiches Leben würdig und ver¬ söhnend abgeschlossen durch seine Tätigkeit im Sinne des Gemeinwohls: Ja! diesem Sinne bin ich ganz ergeben, Das ist der Weisheit letzter Schluß: Nur der verdient sich Freiheit wie das Leben, Der täglich sie erobern muß.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/574>, abgerufen am 22.07.2024.