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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Vie Weltbewegung in England

Bündnisparagraphen überflüssig machen würde; und es richtet sich darauf ein,
aber unter einem andern Vorwande, denn von dem wahren spricht ein kluger
Politiker nicht.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Umwandlung der Weltlage. Bis
vor wenigen Jahren war die englische Herrschaft über die Weltmeere unbestritten,
sie galt selbst während des argen Verfalls der englischen Flotte unter Gladstones
langjähriger Regierung, bis er selbst Ende 1893 durch die aller Welt offen¬
baren Mißstände genötigt wurde, zu einer großen Reform zu schreiten, die
von seinen Nachfolgern energisch fortgesetzt wurde und die britischen Seestreit¬
kräfte auf ihre anerkannte Vorzüglichkeit gehoben hat. Die bis heute über ihre
angebliche Untauglichkeit hier und da noch geglaubten Überlieferungen stammen
sämtlich aus jener Gladstoneschen Zeit und sind in der Gegenwart nicht mehr
richtig. Die englische Flotte würde noch heute imstande sein, die Seeherrschaft
Albions aufrecht zu erhalten, wenn sich nicht inzwischen die gesamte Weltlage
geändert Hütte. Wenn England, statt eigensüchtige Interessen zu verfolgen,
europäische Politik getrieben Hütte, wären ihm die heutigen Schwierigkeiten
mit ihren ungeheuern Geldkosten erspart geblieben. Die Vereinigten Staaten
würden sich gehütet haben, unter Mac Kiuley die alten Gelüste auf Kuba zu
befriedigen, wenn ihnen ein allgemeines Veto der europäischen Mächte entgegen¬
gestellt worden würe. Sie Hütten sich dann auch nicht in zunächst ungewollter
Weise im Großen Ozean festsetzen können, und selbst die vielberufne Monroe-
doktrin würde ein viel harmloseres Gesicht zeigen als heute. Selbstverständlich
wäre auch die große Demonstrationsfahrt im vorigen Jahre unterblieben, auf
der die Vereinigten Staaten allen in Betracht kommenden pazifischen Küsten
eine so gewaltige Flottenmacht vorführten, wie sie England dort niemals gezeigt
hat, weil es früher nicht nötig war. Man hatte bisher mit kleinen Geschwadern,
hinter denen jedermann die gewaltige britische Flotte wußte, die Seeherrschaft
aufrecht erhalten; nach der großen Demonstration der Union geht das nicht
mehr an, man muß mächtige Geschwader in Bewegung setzen, wenn man jenen
Eindruck verwischen will. Die Engländer haben diesen Schlag gegen ihr Ansehn
auf den Weltmeeren tief empfunden, aber sie sprechen auch davon nicht. Sie
lenken vielmehr, um einen plausibeln Vorwand für ihre vermehrte Seerüstung
vor der Welt zu haben, die Aufmerksamkeit auf das ihnen gar nicht gefährliche
Deutschland mit seinen bescheidnen Seegeltungsbestrebungen hin, das sie selbst
nicht angreifen wollen, und von dem sie auch gar keinen Angriff zu befürchten
haben. Die Lächerlichkeit einer solchen Befürchtung liegt so offenbar zutage,
daß ein ganz andrer Beweggrund dahinter verborgen sein muß. Auch das viel¬
deutige Gerede vom Zweimächtestandard kann sich gar nicht auf die europäischen
Gewässer beziehen, denn das Ausscheiden der russischen Flotte und der auf
Jahrzehnte hinaus nicht zu bescherte Verfall der französischen Marine haben
die Lage zum Vorteil Englands in einer Weise verschoben, daß die aufstrebende
deutsche Flotte, mit jener doppelten Verminderung gemessen, gar nicht das


Vie Weltbewegung in England

Bündnisparagraphen überflüssig machen würde; und es richtet sich darauf ein,
aber unter einem andern Vorwande, denn von dem wahren spricht ein kluger
Politiker nicht.

Das ist jedoch nur die eine Seite der Umwandlung der Weltlage. Bis
vor wenigen Jahren war die englische Herrschaft über die Weltmeere unbestritten,
sie galt selbst während des argen Verfalls der englischen Flotte unter Gladstones
langjähriger Regierung, bis er selbst Ende 1893 durch die aller Welt offen¬
baren Mißstände genötigt wurde, zu einer großen Reform zu schreiten, die
von seinen Nachfolgern energisch fortgesetzt wurde und die britischen Seestreit¬
kräfte auf ihre anerkannte Vorzüglichkeit gehoben hat. Die bis heute über ihre
angebliche Untauglichkeit hier und da noch geglaubten Überlieferungen stammen
sämtlich aus jener Gladstoneschen Zeit und sind in der Gegenwart nicht mehr
richtig. Die englische Flotte würde noch heute imstande sein, die Seeherrschaft
Albions aufrecht zu erhalten, wenn sich nicht inzwischen die gesamte Weltlage
geändert Hütte. Wenn England, statt eigensüchtige Interessen zu verfolgen,
europäische Politik getrieben Hütte, wären ihm die heutigen Schwierigkeiten
mit ihren ungeheuern Geldkosten erspart geblieben. Die Vereinigten Staaten
würden sich gehütet haben, unter Mac Kiuley die alten Gelüste auf Kuba zu
befriedigen, wenn ihnen ein allgemeines Veto der europäischen Mächte entgegen¬
gestellt worden würe. Sie Hütten sich dann auch nicht in zunächst ungewollter
Weise im Großen Ozean festsetzen können, und selbst die vielberufne Monroe-
doktrin würde ein viel harmloseres Gesicht zeigen als heute. Selbstverständlich
wäre auch die große Demonstrationsfahrt im vorigen Jahre unterblieben, auf
der die Vereinigten Staaten allen in Betracht kommenden pazifischen Küsten
eine so gewaltige Flottenmacht vorführten, wie sie England dort niemals gezeigt
hat, weil es früher nicht nötig war. Man hatte bisher mit kleinen Geschwadern,
hinter denen jedermann die gewaltige britische Flotte wußte, die Seeherrschaft
aufrecht erhalten; nach der großen Demonstration der Union geht das nicht
mehr an, man muß mächtige Geschwader in Bewegung setzen, wenn man jenen
Eindruck verwischen will. Die Engländer haben diesen Schlag gegen ihr Ansehn
auf den Weltmeeren tief empfunden, aber sie sprechen auch davon nicht. Sie
lenken vielmehr, um einen plausibeln Vorwand für ihre vermehrte Seerüstung
vor der Welt zu haben, die Aufmerksamkeit auf das ihnen gar nicht gefährliche
Deutschland mit seinen bescheidnen Seegeltungsbestrebungen hin, das sie selbst
nicht angreifen wollen, und von dem sie auch gar keinen Angriff zu befürchten
haben. Die Lächerlichkeit einer solchen Befürchtung liegt so offenbar zutage,
daß ein ganz andrer Beweggrund dahinter verborgen sein muß. Auch das viel¬
deutige Gerede vom Zweimächtestandard kann sich gar nicht auf die europäischen
Gewässer beziehen, denn das Ausscheiden der russischen Flotte und der auf
Jahrzehnte hinaus nicht zu bescherte Verfall der französischen Marine haben
die Lage zum Vorteil Englands in einer Weise verschoben, daß die aufstrebende
deutsche Flotte, mit jener doppelten Verminderung gemessen, gar nicht das


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[0499] Vie Weltbewegung in England Bündnisparagraphen überflüssig machen würde; und es richtet sich darauf ein, aber unter einem andern Vorwande, denn von dem wahren spricht ein kluger Politiker nicht. Das ist jedoch nur die eine Seite der Umwandlung der Weltlage. Bis vor wenigen Jahren war die englische Herrschaft über die Weltmeere unbestritten, sie galt selbst während des argen Verfalls der englischen Flotte unter Gladstones langjähriger Regierung, bis er selbst Ende 1893 durch die aller Welt offen¬ baren Mißstände genötigt wurde, zu einer großen Reform zu schreiten, die von seinen Nachfolgern energisch fortgesetzt wurde und die britischen Seestreit¬ kräfte auf ihre anerkannte Vorzüglichkeit gehoben hat. Die bis heute über ihre angebliche Untauglichkeit hier und da noch geglaubten Überlieferungen stammen sämtlich aus jener Gladstoneschen Zeit und sind in der Gegenwart nicht mehr richtig. Die englische Flotte würde noch heute imstande sein, die Seeherrschaft Albions aufrecht zu erhalten, wenn sich nicht inzwischen die gesamte Weltlage geändert Hütte. Wenn England, statt eigensüchtige Interessen zu verfolgen, europäische Politik getrieben Hütte, wären ihm die heutigen Schwierigkeiten mit ihren ungeheuern Geldkosten erspart geblieben. Die Vereinigten Staaten würden sich gehütet haben, unter Mac Kiuley die alten Gelüste auf Kuba zu befriedigen, wenn ihnen ein allgemeines Veto der europäischen Mächte entgegen¬ gestellt worden würe. Sie Hütten sich dann auch nicht in zunächst ungewollter Weise im Großen Ozean festsetzen können, und selbst die vielberufne Monroe- doktrin würde ein viel harmloseres Gesicht zeigen als heute. Selbstverständlich wäre auch die große Demonstrationsfahrt im vorigen Jahre unterblieben, auf der die Vereinigten Staaten allen in Betracht kommenden pazifischen Küsten eine so gewaltige Flottenmacht vorführten, wie sie England dort niemals gezeigt hat, weil es früher nicht nötig war. Man hatte bisher mit kleinen Geschwadern, hinter denen jedermann die gewaltige britische Flotte wußte, die Seeherrschaft aufrecht erhalten; nach der großen Demonstration der Union geht das nicht mehr an, man muß mächtige Geschwader in Bewegung setzen, wenn man jenen Eindruck verwischen will. Die Engländer haben diesen Schlag gegen ihr Ansehn auf den Weltmeeren tief empfunden, aber sie sprechen auch davon nicht. Sie lenken vielmehr, um einen plausibeln Vorwand für ihre vermehrte Seerüstung vor der Welt zu haben, die Aufmerksamkeit auf das ihnen gar nicht gefährliche Deutschland mit seinen bescheidnen Seegeltungsbestrebungen hin, das sie selbst nicht angreifen wollen, und von dem sie auch gar keinen Angriff zu befürchten haben. Die Lächerlichkeit einer solchen Befürchtung liegt so offenbar zutage, daß ein ganz andrer Beweggrund dahinter verborgen sein muß. Auch das viel¬ deutige Gerede vom Zweimächtestandard kann sich gar nicht auf die europäischen Gewässer beziehen, denn das Ausscheiden der russischen Flotte und der auf Jahrzehnte hinaus nicht zu bescherte Verfall der französischen Marine haben die Lage zum Vorteil Englands in einer Weise verschoben, daß die aufstrebende deutsche Flotte, mit jener doppelten Verminderung gemessen, gar nicht das

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/499>, abgerufen am 23.07.2024.