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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Englische Eigenart

Art von Menschen. Solche gibt es wohl auch in England, aber sie sind nicht
typisch für die englische Nation. Jener salbungsvolle Schwadroneur ist ein
Pharisäer mindern Grades; er nimmt schlauerweise Rücksicht auf diejenigen seiner
Landsleute, die einen andern dogmatischen Glauben haben als er. Ein echter
Pharisäer wird er nur dein Ausländer gegenüber; das hält er für seine Pflicht;
er fühlt sich als Repräsentant der Nation.

Am meisten vielleicht wird das Wort "Heuchelei" in bezug auf unsre
sexuelle Moralität angewandt, doch auch hier in besonders ungerechter Weise.
Viele Engländer haben den offiziellen Kirchenglauben abgeschüttelt, doch sehr
wenige haben die Meinung aufgegeben, daß die in England allgemein geltenden
Moralprinzipien die besten der Welt seien. Dem kann man freilich ohne
weiteres entgegenhalten, daß das Leben der englischen Gesellschaft um kein
Haar fleckenloser ist als das in den meisten andern Ländern. Geben doch
Skandale der gemeinsten Art häufig genug Stoff zur Verhöhnung der ge¬
rühmten englischen Sittlichkeit. In den Straßen unsrer Großstädte entwickelt
sich zur Nachtzeit ein so scheußliches und schamloses Treiben, wie es sonst
nirgends angetroffen wird. Trotz alledem nimmt der Durchschnittsengländer
für ausgemacht an und posaunt es bei jeder Gelegenheit auf Kosten der übrigen
Völker aus, daß seinen? Lande, was die Moralität betrifft, die Krone gebühre.
Ihn deswegen aber einen Heuchler zu nennen, beweist, daß man ihn nicht
gründlich kennt. Er mag für seine Person grobsinnlich und lax von Sitten
sein, die Tugendhaftigkeit gilt ihm doch als ein sehr wertvolles Gut. Man
sage ihm, die englische Moralität existiere nur in schönen Redensarten, und
er wird aufs äußerste sittlich entrüstet sein. Seine Selbstgerechtigkeit ist gro߬
artig, aber nicht aus persönlicher, sondern aus nationaler Eitelkeit.

Die Feier des Jubiläumsjahrs lenkte meine Gedanken auf das Wesen und
die Geschichte des Puritcmismus. In der Freude über die endlich erlangte
Befreiung von allen Förmlichkeiten, die keinen Sinn mehr hatten, war es
natürlich, daß wir die Ereignisse jener Zeitperiode als Ausbrüche eines blind¬
wütigen Fanatismus ansahen; wir stimmten dem treffenden geflügelten Worte
bei, damals sei der englische Geist ins Gefängnis geworfen und der Schlüssel
abgezogen worden. Heute, wo wir wissen, daß die Freiheit ebenso gefährlich
werden kann wie eine gewaltsame Reaktion, sollten wir uns erinnern, wie viel
Heilsames in der strengen puritanischen Zucht enthalte" war, wie sie das geistige
Leben in unserm Volke neu angefacht und wie sie unsre staatsbürgerliche Freiheit
-- unser höchstes nationales Gut -- begründet hat. Ein Zeitalter voll von
Triumphen des Geistes muß entschädigen für den allgemeinen Niedergang, der
jenen folgt. Man denke an das bigotte England unter der Herrschaft der
Stuarts, wo kein andrer Glaube geduldet wurde als der Protestantismus der
Tudors; man denke an die englische Literatur unter der Führung eines Cooley,
da noch der Name Milton unbekannt war. Wahrlich! der Puritaner kam als
Arzt, er brachte ein erfrischendes Elixier mit, gerade zu der Zeit, wo unmittelbar


Englische Eigenart

Art von Menschen. Solche gibt es wohl auch in England, aber sie sind nicht
typisch für die englische Nation. Jener salbungsvolle Schwadroneur ist ein
Pharisäer mindern Grades; er nimmt schlauerweise Rücksicht auf diejenigen seiner
Landsleute, die einen andern dogmatischen Glauben haben als er. Ein echter
Pharisäer wird er nur dein Ausländer gegenüber; das hält er für seine Pflicht;
er fühlt sich als Repräsentant der Nation.

Am meisten vielleicht wird das Wort „Heuchelei" in bezug auf unsre
sexuelle Moralität angewandt, doch auch hier in besonders ungerechter Weise.
Viele Engländer haben den offiziellen Kirchenglauben abgeschüttelt, doch sehr
wenige haben die Meinung aufgegeben, daß die in England allgemein geltenden
Moralprinzipien die besten der Welt seien. Dem kann man freilich ohne
weiteres entgegenhalten, daß das Leben der englischen Gesellschaft um kein
Haar fleckenloser ist als das in den meisten andern Ländern. Geben doch
Skandale der gemeinsten Art häufig genug Stoff zur Verhöhnung der ge¬
rühmten englischen Sittlichkeit. In den Straßen unsrer Großstädte entwickelt
sich zur Nachtzeit ein so scheußliches und schamloses Treiben, wie es sonst
nirgends angetroffen wird. Trotz alledem nimmt der Durchschnittsengländer
für ausgemacht an und posaunt es bei jeder Gelegenheit auf Kosten der übrigen
Völker aus, daß seinen? Lande, was die Moralität betrifft, die Krone gebühre.
Ihn deswegen aber einen Heuchler zu nennen, beweist, daß man ihn nicht
gründlich kennt. Er mag für seine Person grobsinnlich und lax von Sitten
sein, die Tugendhaftigkeit gilt ihm doch als ein sehr wertvolles Gut. Man
sage ihm, die englische Moralität existiere nur in schönen Redensarten, und
er wird aufs äußerste sittlich entrüstet sein. Seine Selbstgerechtigkeit ist gro߬
artig, aber nicht aus persönlicher, sondern aus nationaler Eitelkeit.

Die Feier des Jubiläumsjahrs lenkte meine Gedanken auf das Wesen und
die Geschichte des Puritcmismus. In der Freude über die endlich erlangte
Befreiung von allen Förmlichkeiten, die keinen Sinn mehr hatten, war es
natürlich, daß wir die Ereignisse jener Zeitperiode als Ausbrüche eines blind¬
wütigen Fanatismus ansahen; wir stimmten dem treffenden geflügelten Worte
bei, damals sei der englische Geist ins Gefängnis geworfen und der Schlüssel
abgezogen worden. Heute, wo wir wissen, daß die Freiheit ebenso gefährlich
werden kann wie eine gewaltsame Reaktion, sollten wir uns erinnern, wie viel
Heilsames in der strengen puritanischen Zucht enthalte» war, wie sie das geistige
Leben in unserm Volke neu angefacht und wie sie unsre staatsbürgerliche Freiheit
— unser höchstes nationales Gut — begründet hat. Ein Zeitalter voll von
Triumphen des Geistes muß entschädigen für den allgemeinen Niedergang, der
jenen folgt. Man denke an das bigotte England unter der Herrschaft der
Stuarts, wo kein andrer Glaube geduldet wurde als der Protestantismus der
Tudors; man denke an die englische Literatur unter der Führung eines Cooley,
da noch der Name Milton unbekannt war. Wahrlich! der Puritaner kam als
Arzt, er brachte ein erfrischendes Elixier mit, gerade zu der Zeit, wo unmittelbar


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[0472] Englische Eigenart Art von Menschen. Solche gibt es wohl auch in England, aber sie sind nicht typisch für die englische Nation. Jener salbungsvolle Schwadroneur ist ein Pharisäer mindern Grades; er nimmt schlauerweise Rücksicht auf diejenigen seiner Landsleute, die einen andern dogmatischen Glauben haben als er. Ein echter Pharisäer wird er nur dein Ausländer gegenüber; das hält er für seine Pflicht; er fühlt sich als Repräsentant der Nation. Am meisten vielleicht wird das Wort „Heuchelei" in bezug auf unsre sexuelle Moralität angewandt, doch auch hier in besonders ungerechter Weise. Viele Engländer haben den offiziellen Kirchenglauben abgeschüttelt, doch sehr wenige haben die Meinung aufgegeben, daß die in England allgemein geltenden Moralprinzipien die besten der Welt seien. Dem kann man freilich ohne weiteres entgegenhalten, daß das Leben der englischen Gesellschaft um kein Haar fleckenloser ist als das in den meisten andern Ländern. Geben doch Skandale der gemeinsten Art häufig genug Stoff zur Verhöhnung der ge¬ rühmten englischen Sittlichkeit. In den Straßen unsrer Großstädte entwickelt sich zur Nachtzeit ein so scheußliches und schamloses Treiben, wie es sonst nirgends angetroffen wird. Trotz alledem nimmt der Durchschnittsengländer für ausgemacht an und posaunt es bei jeder Gelegenheit auf Kosten der übrigen Völker aus, daß seinen? Lande, was die Moralität betrifft, die Krone gebühre. Ihn deswegen aber einen Heuchler zu nennen, beweist, daß man ihn nicht gründlich kennt. Er mag für seine Person grobsinnlich und lax von Sitten sein, die Tugendhaftigkeit gilt ihm doch als ein sehr wertvolles Gut. Man sage ihm, die englische Moralität existiere nur in schönen Redensarten, und er wird aufs äußerste sittlich entrüstet sein. Seine Selbstgerechtigkeit ist gro߬ artig, aber nicht aus persönlicher, sondern aus nationaler Eitelkeit. Die Feier des Jubiläumsjahrs lenkte meine Gedanken auf das Wesen und die Geschichte des Puritcmismus. In der Freude über die endlich erlangte Befreiung von allen Förmlichkeiten, die keinen Sinn mehr hatten, war es natürlich, daß wir die Ereignisse jener Zeitperiode als Ausbrüche eines blind¬ wütigen Fanatismus ansahen; wir stimmten dem treffenden geflügelten Worte bei, damals sei der englische Geist ins Gefängnis geworfen und der Schlüssel abgezogen worden. Heute, wo wir wissen, daß die Freiheit ebenso gefährlich werden kann wie eine gewaltsame Reaktion, sollten wir uns erinnern, wie viel Heilsames in der strengen puritanischen Zucht enthalte» war, wie sie das geistige Leben in unserm Volke neu angefacht und wie sie unsre staatsbürgerliche Freiheit — unser höchstes nationales Gut — begründet hat. Ein Zeitalter voll von Triumphen des Geistes muß entschädigen für den allgemeinen Niedergang, der jenen folgt. Man denke an das bigotte England unter der Herrschaft der Stuarts, wo kein andrer Glaube geduldet wurde als der Protestantismus der Tudors; man denke an die englische Literatur unter der Führung eines Cooley, da noch der Name Milton unbekannt war. Wahrlich! der Puritaner kam als Arzt, er brachte ein erfrischendes Elixier mit, gerade zu der Zeit, wo unmittelbar

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/472>, abgerufen am 23.07.2024.