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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Die Entstehung des chinesischen Staates

zu Mehl und scheidet die Spreu durch Siebe aus. In Wagen oder Kähnen
führt der Bauer in den benachbarten Marktflecken, wo er die Erzeugnisse des
Landes gegen Muschelgeld absetzt. Ein gewisser Luxus der Kultur fehlt nicht
mehr; uralt ist die Seidenzucht, die zu buntgestickter Gewändern den Stoff
liefert. Wein wird aus Reis hergestellt. Die Volksnahrung Chinas war
schon in ältester Zeit -- wie heute -- Schweinefleisch; den Göttern setzte man
als Opferspeise den gebratnen Schweinskopf vor.

Das alles verkünden die ältesten Zeichen, die Bilder der Schrift. Sie zeigen
uns auch die Organisation der Bauerngemeinde. Wie das uralte Schriftzeichen
für "Feld" beweist, war das Ackerland einer Gemeinde durch sich rechtwinklig
kreuzende Wege genau in Quadrate geteilt; durch Wall und Graben war das
Grundstück in verteidigungsfähigen Zustand gebracht. Ein solches Grundstück
bestand gewöhnlich aus neunhundert Morgen Land, von denen die äußern acht
Felderquadrate verpachtet waren, während das innere neunte die Domäne des
Grundherrn bildete und von den Bauern in Frondienst bestellt wurde. Das
mittlere Grundstück war wiederum befestigt und bildete so ein Kastell.

Dieses neunteiligc Ackergut ist gewissermaßen die Urzelle des chinesischen
Staates, die Grundlage seiner äußern und innern Organisation. Die Neigung
des Chinesen zu streng schematicher Ordnung hat das Prinzip der uralten
Bauerngemeinde auf den Ausbau von Stadt und Staat übertragen und in der
Theorie das neunteilige Schema auch noch festgehalten, als die geschichtliche
Entwicklung längst darüber hinausgeführt hatte. Die altchinesische Stadt
^- noch heute zeigt der Plan von Peking diese Anlage -- ist ein mit Wall
oder Mauer und Graben umgebnes Quadrat, das durch vier oder neun gerade
Straßen wiederum in gleichmäßige Quadrate zerlegt wird. In der Mitte erhebt
sich die abermals befestigte Fürstenburg als Zitadelle. Die Stadt ihrerseits
bildete den Mittelpunkt des Einzelstaates, der sich in mindestens fünf Qua¬
draten um sie legte. Dieses Schema ist dann auf das ganze Reich übertragen
worden. Das Zentrum bildet die Provinz des Herrscherhauses als königliche
Domäne, um sie lagern sich die in fünf, später neun Quadrate geordneten
Einzelprovinzen des Reiches. Das ist freilich immer nur ein Schema ge¬
wesen. Der Ausgangspunkt ist aber die Bauerngemeinde, ihre erweiterte Gestalt
ist der Staat. Auch die Bedingungen seines Wachsens liegen in der Tat in dem
System der zentralen Königsdomäne und der umliegenden Lehnsländer.

Wie das Bauerntum die Grundlage der chinesischen Kultur bildet, so ist das
Feudalsystem die Urform des Staates. Aus dem Grundherrn, zu dem die um¬
wohnenden Bauern im Lchnsveryältnis standen und dem sie Frondienste leisteten,
entwickelte sich das Königtum. Es ist wesentlich, daß der chinesische Herrscher
der oberste Herr einer Bauerngemeinde ist; noch heute führt er am Neujahrstage
den Pflug übers Feld. Und wie das Besitztum des Lehnsherrn in der Mitte der
Bauerngüter lag, so ist die Provinz, in der die kaiserliche Residenz liegt, theoretisch
der Mittelpunkt des Reiches. Das ganze Reich wird nach diesem Mittellande
benannt; denn der von uns oft falsch verstandne Ausdruck Tschung-tuo "Reich


Die Entstehung des chinesischen Staates

zu Mehl und scheidet die Spreu durch Siebe aus. In Wagen oder Kähnen
führt der Bauer in den benachbarten Marktflecken, wo er die Erzeugnisse des
Landes gegen Muschelgeld absetzt. Ein gewisser Luxus der Kultur fehlt nicht
mehr; uralt ist die Seidenzucht, die zu buntgestickter Gewändern den Stoff
liefert. Wein wird aus Reis hergestellt. Die Volksnahrung Chinas war
schon in ältester Zeit — wie heute — Schweinefleisch; den Göttern setzte man
als Opferspeise den gebratnen Schweinskopf vor.

Das alles verkünden die ältesten Zeichen, die Bilder der Schrift. Sie zeigen
uns auch die Organisation der Bauerngemeinde. Wie das uralte Schriftzeichen
für „Feld" beweist, war das Ackerland einer Gemeinde durch sich rechtwinklig
kreuzende Wege genau in Quadrate geteilt; durch Wall und Graben war das
Grundstück in verteidigungsfähigen Zustand gebracht. Ein solches Grundstück
bestand gewöhnlich aus neunhundert Morgen Land, von denen die äußern acht
Felderquadrate verpachtet waren, während das innere neunte die Domäne des
Grundherrn bildete und von den Bauern in Frondienst bestellt wurde. Das
mittlere Grundstück war wiederum befestigt und bildete so ein Kastell.

Dieses neunteiligc Ackergut ist gewissermaßen die Urzelle des chinesischen
Staates, die Grundlage seiner äußern und innern Organisation. Die Neigung
des Chinesen zu streng schematicher Ordnung hat das Prinzip der uralten
Bauerngemeinde auf den Ausbau von Stadt und Staat übertragen und in der
Theorie das neunteilige Schema auch noch festgehalten, als die geschichtliche
Entwicklung längst darüber hinausgeführt hatte. Die altchinesische Stadt
^- noch heute zeigt der Plan von Peking diese Anlage — ist ein mit Wall
oder Mauer und Graben umgebnes Quadrat, das durch vier oder neun gerade
Straßen wiederum in gleichmäßige Quadrate zerlegt wird. In der Mitte erhebt
sich die abermals befestigte Fürstenburg als Zitadelle. Die Stadt ihrerseits
bildete den Mittelpunkt des Einzelstaates, der sich in mindestens fünf Qua¬
draten um sie legte. Dieses Schema ist dann auf das ganze Reich übertragen
worden. Das Zentrum bildet die Provinz des Herrscherhauses als königliche
Domäne, um sie lagern sich die in fünf, später neun Quadrate geordneten
Einzelprovinzen des Reiches. Das ist freilich immer nur ein Schema ge¬
wesen. Der Ausgangspunkt ist aber die Bauerngemeinde, ihre erweiterte Gestalt
ist der Staat. Auch die Bedingungen seines Wachsens liegen in der Tat in dem
System der zentralen Königsdomäne und der umliegenden Lehnsländer.

Wie das Bauerntum die Grundlage der chinesischen Kultur bildet, so ist das
Feudalsystem die Urform des Staates. Aus dem Grundherrn, zu dem die um¬
wohnenden Bauern im Lchnsveryältnis standen und dem sie Frondienste leisteten,
entwickelte sich das Königtum. Es ist wesentlich, daß der chinesische Herrscher
der oberste Herr einer Bauerngemeinde ist; noch heute führt er am Neujahrstage
den Pflug übers Feld. Und wie das Besitztum des Lehnsherrn in der Mitte der
Bauerngüter lag, so ist die Provinz, in der die kaiserliche Residenz liegt, theoretisch
der Mittelpunkt des Reiches. Das ganze Reich wird nach diesem Mittellande
benannt; denn der von uns oft falsch verstandne Ausdruck Tschung-tuo „Reich


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[0457] Die Entstehung des chinesischen Staates zu Mehl und scheidet die Spreu durch Siebe aus. In Wagen oder Kähnen führt der Bauer in den benachbarten Marktflecken, wo er die Erzeugnisse des Landes gegen Muschelgeld absetzt. Ein gewisser Luxus der Kultur fehlt nicht mehr; uralt ist die Seidenzucht, die zu buntgestickter Gewändern den Stoff liefert. Wein wird aus Reis hergestellt. Die Volksnahrung Chinas war schon in ältester Zeit — wie heute — Schweinefleisch; den Göttern setzte man als Opferspeise den gebratnen Schweinskopf vor. Das alles verkünden die ältesten Zeichen, die Bilder der Schrift. Sie zeigen uns auch die Organisation der Bauerngemeinde. Wie das uralte Schriftzeichen für „Feld" beweist, war das Ackerland einer Gemeinde durch sich rechtwinklig kreuzende Wege genau in Quadrate geteilt; durch Wall und Graben war das Grundstück in verteidigungsfähigen Zustand gebracht. Ein solches Grundstück bestand gewöhnlich aus neunhundert Morgen Land, von denen die äußern acht Felderquadrate verpachtet waren, während das innere neunte die Domäne des Grundherrn bildete und von den Bauern in Frondienst bestellt wurde. Das mittlere Grundstück war wiederum befestigt und bildete so ein Kastell. Dieses neunteiligc Ackergut ist gewissermaßen die Urzelle des chinesischen Staates, die Grundlage seiner äußern und innern Organisation. Die Neigung des Chinesen zu streng schematicher Ordnung hat das Prinzip der uralten Bauerngemeinde auf den Ausbau von Stadt und Staat übertragen und in der Theorie das neunteilige Schema auch noch festgehalten, als die geschichtliche Entwicklung längst darüber hinausgeführt hatte. Die altchinesische Stadt ^- noch heute zeigt der Plan von Peking diese Anlage — ist ein mit Wall oder Mauer und Graben umgebnes Quadrat, das durch vier oder neun gerade Straßen wiederum in gleichmäßige Quadrate zerlegt wird. In der Mitte erhebt sich die abermals befestigte Fürstenburg als Zitadelle. Die Stadt ihrerseits bildete den Mittelpunkt des Einzelstaates, der sich in mindestens fünf Qua¬ draten um sie legte. Dieses Schema ist dann auf das ganze Reich übertragen worden. Das Zentrum bildet die Provinz des Herrscherhauses als königliche Domäne, um sie lagern sich die in fünf, später neun Quadrate geordneten Einzelprovinzen des Reiches. Das ist freilich immer nur ein Schema ge¬ wesen. Der Ausgangspunkt ist aber die Bauerngemeinde, ihre erweiterte Gestalt ist der Staat. Auch die Bedingungen seines Wachsens liegen in der Tat in dem System der zentralen Königsdomäne und der umliegenden Lehnsländer. Wie das Bauerntum die Grundlage der chinesischen Kultur bildet, so ist das Feudalsystem die Urform des Staates. Aus dem Grundherrn, zu dem die um¬ wohnenden Bauern im Lchnsveryältnis standen und dem sie Frondienste leisteten, entwickelte sich das Königtum. Es ist wesentlich, daß der chinesische Herrscher der oberste Herr einer Bauerngemeinde ist; noch heute führt er am Neujahrstage den Pflug übers Feld. Und wie das Besitztum des Lehnsherrn in der Mitte der Bauerngüter lag, so ist die Provinz, in der die kaiserliche Residenz liegt, theoretisch der Mittelpunkt des Reiches. Das ganze Reich wird nach diesem Mittellande benannt; denn der von uns oft falsch verstandne Ausdruck Tschung-tuo „Reich

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/457>, abgerufen am 22.07.2024.