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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Ole Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel

Schutze der Rechte des Hellenismus ins Leben zu rufen. Nein, jeder wahre und
aufrichtige Freund des Griechentums muß solche nur von Schwäche und Eitelkeit
diktierten Hilfs- und Rettungsaktionen auf das schärfste verurteilen, ohne daß man
darum zu befürchten braucht, zu den Feinden des griechischen Volkes gerechnet zu
werden; denn das griechische Volk in seiner Masse steht zum Glück nicht hinter
jener Clique politischer Schreier und Wühler aus dem Lager der Wissenschaft;
es ist teils viel zu klug, teils zu indifferent, um sich mit seinen Nachbarn in
einen Krieg auf Leben und Tod einzulassen, es handelt immer noch nach dem
griechischen Sprichwort: "Erst sieh nach deinem Nachbar und dann nach
der Sonne!"

Immerhin wird die griechische Reformpartei innerhalb des Königreichs noch
manchen Kampf zu bestehen haben, ehe sie die chauvinistischen Reaktionäre aus
dem Felde schlägt, denn die offiziellen Vertreter des griechischen Staates ziehen
leider mit den Reaktionären an einem Strange, und es scheint unter diesen
Umständen nicht ausgeschlossen, daß das paradoxe Wort zur Wahrheit wird, daß
das freie Griechenland von dem unfreien, aber politisch weniger vergifteten
Griechentum der Türkei wird befreit werden müssen, zumal nachdem diese in
einen Verfassungsstaat verwandelt ist und ihren Völkern eine Mitwirkung an
der Regierung ermöglicht.

Hier eröffnen sich tatsächlich ganz neue Durchblicke für eine Regenerierung
des Griechentums. Und zwar in doppelter Hinsicht: erstens werden diese bisher
unfreien Griechen gezwungen, sich ihrer politischen Rolle bewußt zu werden, sich
politisch zu organisieren, und zweitens werden sie durch das parlamentarische
System dazu erzogen, sich als Glied einer großen Gemeinschaft zu fühlen und
die übrigen Glieder als gleichberechtigt anzuerkennen. In dieser politischen Selbst-
disziplinierung, in der Bändigung aller byzantinischen Instinkte sehe ich den
Hauptwert des türkischen Parlaments für die Griechen der Türkei, nicht darin,
daß sie die Majorität erringen, was sie gern möchten (sie haben trotz ihrer
verhältnismäßig geringen Zahl von dreiundzwanzig Abgeordneten immerhin die
höchste Vertretung aller nichttttrkischen Elemente erreicht). Vorrechte haben sie
durch die Machtstellung des Patriarchats genug erlangt, ohne den rechten
Gebrauch davon zu machen; jetzt sollen sie zeigen, was sie aus eigner Macht
vermögen, oder vielmehr aus eigner Kraft, aus der innern Kraft ihres Volks-
tums, nicht aus dem traditionellen Allmachtsdünkel eines abgetragnen Herren¬
tums heraus. Sie sind jetzt keine Rajahs mehr, aber auch keine Herrenrasse, sie
sind eins der Völker, die gerade jetzt, nach den raffinierter Wahlmanövern der
Jungtürken, fest zusammenstehen müssen mit den übrigen der ebenfalls unter¬
drückten christlichen Völker. Die Griechen werden erst dann in der Türkei wirklich
stark sein, wenn sie darauf verzichten, sich über fremde Ungerechtigkeit zu be¬
klagen und auf fremde Hilfe zu rechnen, sondern allein einen festen Rückhalt
suchen in ihrer eignen zähen, durch Jahrtausende bewährten Volks kraft. Das
Verdienst der Reformer im freien Griechenland und das der Jungtürken in der


Ole Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel

Schutze der Rechte des Hellenismus ins Leben zu rufen. Nein, jeder wahre und
aufrichtige Freund des Griechentums muß solche nur von Schwäche und Eitelkeit
diktierten Hilfs- und Rettungsaktionen auf das schärfste verurteilen, ohne daß man
darum zu befürchten braucht, zu den Feinden des griechischen Volkes gerechnet zu
werden; denn das griechische Volk in seiner Masse steht zum Glück nicht hinter
jener Clique politischer Schreier und Wühler aus dem Lager der Wissenschaft;
es ist teils viel zu klug, teils zu indifferent, um sich mit seinen Nachbarn in
einen Krieg auf Leben und Tod einzulassen, es handelt immer noch nach dem
griechischen Sprichwort: „Erst sieh nach deinem Nachbar und dann nach
der Sonne!"

Immerhin wird die griechische Reformpartei innerhalb des Königreichs noch
manchen Kampf zu bestehen haben, ehe sie die chauvinistischen Reaktionäre aus
dem Felde schlägt, denn die offiziellen Vertreter des griechischen Staates ziehen
leider mit den Reaktionären an einem Strange, und es scheint unter diesen
Umständen nicht ausgeschlossen, daß das paradoxe Wort zur Wahrheit wird, daß
das freie Griechenland von dem unfreien, aber politisch weniger vergifteten
Griechentum der Türkei wird befreit werden müssen, zumal nachdem diese in
einen Verfassungsstaat verwandelt ist und ihren Völkern eine Mitwirkung an
der Regierung ermöglicht.

Hier eröffnen sich tatsächlich ganz neue Durchblicke für eine Regenerierung
des Griechentums. Und zwar in doppelter Hinsicht: erstens werden diese bisher
unfreien Griechen gezwungen, sich ihrer politischen Rolle bewußt zu werden, sich
politisch zu organisieren, und zweitens werden sie durch das parlamentarische
System dazu erzogen, sich als Glied einer großen Gemeinschaft zu fühlen und
die übrigen Glieder als gleichberechtigt anzuerkennen. In dieser politischen Selbst-
disziplinierung, in der Bändigung aller byzantinischen Instinkte sehe ich den
Hauptwert des türkischen Parlaments für die Griechen der Türkei, nicht darin,
daß sie die Majorität erringen, was sie gern möchten (sie haben trotz ihrer
verhältnismäßig geringen Zahl von dreiundzwanzig Abgeordneten immerhin die
höchste Vertretung aller nichttttrkischen Elemente erreicht). Vorrechte haben sie
durch die Machtstellung des Patriarchats genug erlangt, ohne den rechten
Gebrauch davon zu machen; jetzt sollen sie zeigen, was sie aus eigner Macht
vermögen, oder vielmehr aus eigner Kraft, aus der innern Kraft ihres Volks-
tums, nicht aus dem traditionellen Allmachtsdünkel eines abgetragnen Herren¬
tums heraus. Sie sind jetzt keine Rajahs mehr, aber auch keine Herrenrasse, sie
sind eins der Völker, die gerade jetzt, nach den raffinierter Wahlmanövern der
Jungtürken, fest zusammenstehen müssen mit den übrigen der ebenfalls unter¬
drückten christlichen Völker. Die Griechen werden erst dann in der Türkei wirklich
stark sein, wenn sie darauf verzichten, sich über fremde Ungerechtigkeit zu be¬
klagen und auf fremde Hilfe zu rechnen, sondern allein einen festen Rückhalt
suchen in ihrer eignen zähen, durch Jahrtausende bewährten Volks kraft. Das
Verdienst der Reformer im freien Griechenland und das der Jungtürken in der


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[0416] Ole Stellung des Griechentums auf der Balkanhalbinsel Schutze der Rechte des Hellenismus ins Leben zu rufen. Nein, jeder wahre und aufrichtige Freund des Griechentums muß solche nur von Schwäche und Eitelkeit diktierten Hilfs- und Rettungsaktionen auf das schärfste verurteilen, ohne daß man darum zu befürchten braucht, zu den Feinden des griechischen Volkes gerechnet zu werden; denn das griechische Volk in seiner Masse steht zum Glück nicht hinter jener Clique politischer Schreier und Wühler aus dem Lager der Wissenschaft; es ist teils viel zu klug, teils zu indifferent, um sich mit seinen Nachbarn in einen Krieg auf Leben und Tod einzulassen, es handelt immer noch nach dem griechischen Sprichwort: „Erst sieh nach deinem Nachbar und dann nach der Sonne!" Immerhin wird die griechische Reformpartei innerhalb des Königreichs noch manchen Kampf zu bestehen haben, ehe sie die chauvinistischen Reaktionäre aus dem Felde schlägt, denn die offiziellen Vertreter des griechischen Staates ziehen leider mit den Reaktionären an einem Strange, und es scheint unter diesen Umständen nicht ausgeschlossen, daß das paradoxe Wort zur Wahrheit wird, daß das freie Griechenland von dem unfreien, aber politisch weniger vergifteten Griechentum der Türkei wird befreit werden müssen, zumal nachdem diese in einen Verfassungsstaat verwandelt ist und ihren Völkern eine Mitwirkung an der Regierung ermöglicht. Hier eröffnen sich tatsächlich ganz neue Durchblicke für eine Regenerierung des Griechentums. Und zwar in doppelter Hinsicht: erstens werden diese bisher unfreien Griechen gezwungen, sich ihrer politischen Rolle bewußt zu werden, sich politisch zu organisieren, und zweitens werden sie durch das parlamentarische System dazu erzogen, sich als Glied einer großen Gemeinschaft zu fühlen und die übrigen Glieder als gleichberechtigt anzuerkennen. In dieser politischen Selbst- disziplinierung, in der Bändigung aller byzantinischen Instinkte sehe ich den Hauptwert des türkischen Parlaments für die Griechen der Türkei, nicht darin, daß sie die Majorität erringen, was sie gern möchten (sie haben trotz ihrer verhältnismäßig geringen Zahl von dreiundzwanzig Abgeordneten immerhin die höchste Vertretung aller nichttttrkischen Elemente erreicht). Vorrechte haben sie durch die Machtstellung des Patriarchats genug erlangt, ohne den rechten Gebrauch davon zu machen; jetzt sollen sie zeigen, was sie aus eigner Macht vermögen, oder vielmehr aus eigner Kraft, aus der innern Kraft ihres Volks- tums, nicht aus dem traditionellen Allmachtsdünkel eines abgetragnen Herren¬ tums heraus. Sie sind jetzt keine Rajahs mehr, aber auch keine Herrenrasse, sie sind eins der Völker, die gerade jetzt, nach den raffinierter Wahlmanövern der Jungtürken, fest zusammenstehen müssen mit den übrigen der ebenfalls unter¬ drückten christlichen Völker. Die Griechen werden erst dann in der Türkei wirklich stark sein, wenn sie darauf verzichten, sich über fremde Ungerechtigkeit zu be¬ klagen und auf fremde Hilfe zu rechnen, sondern allein einen festen Rückhalt suchen in ihrer eignen zähen, durch Jahrtausende bewährten Volks kraft. Das Verdienst der Reformer im freien Griechenland und das der Jungtürken in der

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/416>, abgerufen am 22.12.2024.