Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Maßgebliches und Unmaßgebliches Grund der genauen Kenntnis der Naturgeschichte der Süditaliener überhaupt ver¬ Während wir dem Verfasser ans seinen Kreuz- und Querfahrten, die oft an Mehrere hundert Beamte, Geistliche, Leute jeden Standes führt er mit ihren Der Verfasser zeigt uns nicht bloß den Varkenführer und den Kutscher, die Der Verfasser vermeidet es offenbar grundsätzlich, über seine Beobachtungen Maßgebliches und Unmaßgebliches Grund der genauen Kenntnis der Naturgeschichte der Süditaliener überhaupt ver¬ Während wir dem Verfasser ans seinen Kreuz- und Querfahrten, die oft an Mehrere hundert Beamte, Geistliche, Leute jeden Standes führt er mit ihren Der Verfasser zeigt uns nicht bloß den Varkenführer und den Kutscher, die Der Verfasser vermeidet es offenbar grundsätzlich, über seine Beobachtungen <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <div n="2"> <pb facs="#f0401" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/314104"/> <fw type="header" place="top"> Maßgebliches und Unmaßgebliches</fw><lb/> <p xml:id="ID_1937" prev="#ID_1936"> Grund der genauen Kenntnis der Naturgeschichte der Süditaliener überhaupt ver¬<lb/> ständlich sind. So schildert er die letzten Korrnptionsskandale von Neapel und den<lb/> Prozeß und Triumph des Exministers nasi, der mit Staatsgeldern gewirtschaftet<lb/> hatte wie mit seinem Eigentum, und der trotz seiner Verurteilung zu schwerer<lb/> Strafe in seiner Vaterstadt wie ein nationaler Held gefeiert und immer wieder<lb/> zum Abgeordneten gewählt wurde.</p><lb/> <p xml:id="ID_1938"> Während wir dem Verfasser ans seinen Kreuz- und Querfahrten, die oft an<lb/> die eines Kriegsberichterstatters erinnern, folgen, erleben wir förmlich all das Un¬<lb/> glück mit ihm. Der Verfasser schildert nicht nur in ungewöhnlich lebensvoller Weise<lb/> Einzelbilder, sondern gibt sich auch an jedem Ort redlich Mühe, den Gesamt¬<lb/> verlust festzustellen — oft freilich vergeblich, denn nicht einmal die Gesamtzahl<lb/> der Toten wird je genau ermittelt werden, geschweige denn die der Verletzten und<lb/> ebensowenig der Sachichaden. Die Zahlen sind dem Verfasser aber offenbar auch<lb/> nicht die Hauptsache, auch schwelgt er nicht wie andre in der Schilderung des Ent¬<lb/> setzlichen oder Rührsamen; sein Ziel ist ein andres: er zeigt uns auf dem Hinter-<lb/> grunde der vier je in Jahresfrist aufeinanderfolgenden Katastrophen das Volk von<lb/> Süditalien und seine Regierung.</p><lb/> <p xml:id="ID_1939"> Mehrere hundert Beamte, Geistliche, Leute jeden Standes führt er mit ihren<lb/> eignen Worten redend ein, und auf Grund dieser Zeugnisse von Italienern entrollt<lb/> sich vor unsern Augen ein Bild — das wir lieber nicht gesehen hätten. Eine<lb/> Regierung, die von den sich Jahr für Jahr wiederholenden Naturereignissen immer<lb/> in gleicher Weise überrascht wird, weil sie nichts gelernt und nichts vorgesehen<lb/> hat, die höchsten Autoritäten an den Unglücksstätten kopflos oder ihre Anordnungen<lb/> gegenseitig durchkreuzend, eine Bevölkerung, die zu jeder Selbsthilfe zu indolent ist.<lb/> die alle Hilfe von der Regierung erwartet, der sie gleichzeitig das ausgesprochenste<lb/> Mißtrauen hinsichtlich der Gerechtigkeit in Verteilung der Hilfsgelder entgegen¬<lb/> bringt, eine Bevölkerung, von der jeder einzelne — mit rühmlichen Ausnahmen —<lb/> noch Nutzen aus dem allgemeine» Unglück ziehen will!</p><lb/> <p xml:id="ID_1940"> Der Verfasser zeigt uns nicht bloß den Varkenführer und den Kutscher, die<lb/> unerschwingliche Preise verlangen für die kleinsten zur Nettnngsarbeit nötigen<lb/> Dienste, sondern anch den Großgrundbesitzer, der die ruinierten hungernden Bauern<lb/> unter der Form von Darlehen um ihr bißchen Grund und Boden bringen will,<lb/> die Nachbarstädte, die das „tote" Messina beerben wollen, die Abgeordneten, die<lb/> aus dem ganzen Wirrwarr politisches Kapital zu schlagen suchen. Mit greifbarer<lb/> Deutlichkeit sehen wir die zur Apathie gesteigerte Indolenz der Geretteten, die<lb/> Nicht einmal mit Hand anlegen wollen, um ihre Toten zu bestatten, und die trotz<lb/> der fortdauernden Erdstöße in ihren halbzerstörten wackelnden Häusern bleiben, um<lb/> '"ehe naß zu werden. Wir sehen sie voll religiöser Schwärmerei um das Heiligen¬<lb/> bild in der Kirche herumstehn, ohne daß sie sich einen Gedanken darilber machen,<lb/> warum vou der ganzen Kirche nichts übrig geblieben ist als — das Bild des<lb/> Schutzpatrons.</p><lb/> <p xml:id="ID_1941" next="#ID_1942"> Der Verfasser vermeidet es offenbar grundsätzlich, über seine Beobachtungen<lb/> em eignes Urteil abzugeben, er gibt immer nur die — natürlich recht subMven —<lb/> Stimmungsausbrüche der Umstehenden. Nur bei wenigen Veranlassungen macht er eine<lb/> Ausnahme, so, wenn er mit Ausdrücken der höchsten Anerkennung von den Leistungen<lb/> der italienischen Offiziere und Mannschaften spricht, die zur Hilfeleistung kommandiert<lb/> D°rden waren. In seiner Vorrede „billigt er der Reg erung mildernde Umstände<lb/> SU", begründet den Tiefstand des süditalienischen Volkes aus den geschichtlichen<lb/> Verhältnissen und schließt mit folgenden Worten, die jeder, der auch nur vorüber¬<lb/> gehend in Süditalien war. unterschreiben wird: „Einzelne rührende Handlungen<lb/> der Uneigennützigkeit und des Opfermuth, die aus den Kreisen der untern Volks-<lb/> klnssen berichtet werden, liefern den Beweis, daß auch in Sizilien der Kern der</p><lb/> </div> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0401]
Maßgebliches und Unmaßgebliches
Grund der genauen Kenntnis der Naturgeschichte der Süditaliener überhaupt ver¬
ständlich sind. So schildert er die letzten Korrnptionsskandale von Neapel und den
Prozeß und Triumph des Exministers nasi, der mit Staatsgeldern gewirtschaftet
hatte wie mit seinem Eigentum, und der trotz seiner Verurteilung zu schwerer
Strafe in seiner Vaterstadt wie ein nationaler Held gefeiert und immer wieder
zum Abgeordneten gewählt wurde.
Während wir dem Verfasser ans seinen Kreuz- und Querfahrten, die oft an
die eines Kriegsberichterstatters erinnern, folgen, erleben wir förmlich all das Un¬
glück mit ihm. Der Verfasser schildert nicht nur in ungewöhnlich lebensvoller Weise
Einzelbilder, sondern gibt sich auch an jedem Ort redlich Mühe, den Gesamt¬
verlust festzustellen — oft freilich vergeblich, denn nicht einmal die Gesamtzahl
der Toten wird je genau ermittelt werden, geschweige denn die der Verletzten und
ebensowenig der Sachichaden. Die Zahlen sind dem Verfasser aber offenbar auch
nicht die Hauptsache, auch schwelgt er nicht wie andre in der Schilderung des Ent¬
setzlichen oder Rührsamen; sein Ziel ist ein andres: er zeigt uns auf dem Hinter-
grunde der vier je in Jahresfrist aufeinanderfolgenden Katastrophen das Volk von
Süditalien und seine Regierung.
Mehrere hundert Beamte, Geistliche, Leute jeden Standes führt er mit ihren
eignen Worten redend ein, und auf Grund dieser Zeugnisse von Italienern entrollt
sich vor unsern Augen ein Bild — das wir lieber nicht gesehen hätten. Eine
Regierung, die von den sich Jahr für Jahr wiederholenden Naturereignissen immer
in gleicher Weise überrascht wird, weil sie nichts gelernt und nichts vorgesehen
hat, die höchsten Autoritäten an den Unglücksstätten kopflos oder ihre Anordnungen
gegenseitig durchkreuzend, eine Bevölkerung, die zu jeder Selbsthilfe zu indolent ist.
die alle Hilfe von der Regierung erwartet, der sie gleichzeitig das ausgesprochenste
Mißtrauen hinsichtlich der Gerechtigkeit in Verteilung der Hilfsgelder entgegen¬
bringt, eine Bevölkerung, von der jeder einzelne — mit rühmlichen Ausnahmen —
noch Nutzen aus dem allgemeine» Unglück ziehen will!
Der Verfasser zeigt uns nicht bloß den Varkenführer und den Kutscher, die
unerschwingliche Preise verlangen für die kleinsten zur Nettnngsarbeit nötigen
Dienste, sondern anch den Großgrundbesitzer, der die ruinierten hungernden Bauern
unter der Form von Darlehen um ihr bißchen Grund und Boden bringen will,
die Nachbarstädte, die das „tote" Messina beerben wollen, die Abgeordneten, die
aus dem ganzen Wirrwarr politisches Kapital zu schlagen suchen. Mit greifbarer
Deutlichkeit sehen wir die zur Apathie gesteigerte Indolenz der Geretteten, die
Nicht einmal mit Hand anlegen wollen, um ihre Toten zu bestatten, und die trotz
der fortdauernden Erdstöße in ihren halbzerstörten wackelnden Häusern bleiben, um
'"ehe naß zu werden. Wir sehen sie voll religiöser Schwärmerei um das Heiligen¬
bild in der Kirche herumstehn, ohne daß sie sich einen Gedanken darilber machen,
warum vou der ganzen Kirche nichts übrig geblieben ist als — das Bild des
Schutzpatrons.
Der Verfasser vermeidet es offenbar grundsätzlich, über seine Beobachtungen
em eignes Urteil abzugeben, er gibt immer nur die — natürlich recht subMven —
Stimmungsausbrüche der Umstehenden. Nur bei wenigen Veranlassungen macht er eine
Ausnahme, so, wenn er mit Ausdrücken der höchsten Anerkennung von den Leistungen
der italienischen Offiziere und Mannschaften spricht, die zur Hilfeleistung kommandiert
D°rden waren. In seiner Vorrede „billigt er der Reg erung mildernde Umstände
SU", begründet den Tiefstand des süditalienischen Volkes aus den geschichtlichen
Verhältnissen und schließt mit folgenden Worten, die jeder, der auch nur vorüber¬
gehend in Süditalien war. unterschreiben wird: „Einzelne rührende Handlungen
der Uneigennützigkeit und des Opfermuth, die aus den Kreisen der untern Volks-
klnssen berichtet werden, liefern den Beweis, daß auch in Sizilien der Kern der
Informationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen … Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.
Weitere Informationen:Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur. Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (ꝛ): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja; Nachkorrektur erfolgte automatisch.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |