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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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lsteine Jugend und die Religion

Ich war dem Geschick dankbar, daß ich in unsrer hellen Zeit geboren war,
nicht in der dunkeln, von Schrecken erfüllten, wo Schlehdorn und wilde Rosen die
Nachbarn von Scheiterhaufen, Galgen und Blutgerüsten waren und der Wolfsmilch¬
schwärmer in der Dämmerung in die letzten Flammen der verglimmenden Scheiter
des Holzstoßes flog, auf denen am Tag unter blauem Himmel in der hellen Sonne
ein armes Menschenkind zu Tode gequält worden war. Meine Phantasie zwang
mich oft in Gedanken über das Hexengolgatha zu gehn, das mein Fuß noch nicht
betreten hatte, und in den verkohlten Scheitern die Neste der unglücklichsten Wesen
zu suchen, die ich mir denken konnte. Oft quälte mich in stillen Unterrichtsstunden
die Frage, ob die armen Opfer des Wahns denn ganz verbrannt seien, oder ob
ihre Gebeine die Glut überdauert hätten, ob sie auf der Schreckensstätte liegen
blieben oder gesammelt und bestattet wurden. Als in der Untersekunda in einer
stillen Homerstunde meine Gedanken bei dem heitern Sonntagswort x?/o^ verweilt
hatten und von dem Balladenvers: Er sucht des Herrn verbrannt Gebein zu dem
entsetzlichen Brandgeruch und Brodem geführt worden waren, der auf dem Hexen-
bruch geherrscht haben mußte, öffnete ein Kamerad, um etwas Bewegung zu haben,
ein Fenster, und es kamen mit einer Woge frischer Vorfrühlingsluft kurze, stoßende
Trommellaute und langgezogne Hornsignale herein — Klänge aus der Kindheit,
Klänge von heute. Sie machten mich aufatmen wie die frische Luft, die sie herein¬
getragen hatte, und weckten mich aus meinen düstern Träumen.

Die lieben Klänge, die mir seit meiner Kindheit nicht mehr so nah erschallt
und so tief gedrungen waren, kamen aus der Richtung der Feste Marienberg.
Ich fragte meinen Nebenmann, dessen Vaterhaus am Fuße des Marienbergs lag,
wo die Spielleute übten. Er wußte Bescheid: Auf dem Hexenbruch. Zum ersten¬
mal weckte dieser Name kein Grauen in mir. Ich sah zum Fenster hinaus zur
Festung hinüber, und in meine Phantasie zogen unter den Klängen, die mich in
meiner Kindheit so stark ergriffen hatten, Hornisten und Trommler des Infanterie¬
regiments, das in meiner Schulstadt lag — Leute von heute, mit dem Leder-,
Schweiß- und Brotgeruch, den ich von den Soldaten meines Heimatstädtchens
kannte. Die Geister der Vergangenheit wichen nicht sofort, aber sie waren nicht
mehr allein Herr, und Sieger blieben die Spielleute, Enkel der Hexen, Hexenrichter
und Hexenverbrenner, aber Söhne einer Hellem Zeit.

Ich habe sie nie bei der Arbeit gesehen, weiß nicht, ob sie stehend so eifrig
auf das Kalbfell droschen, oder ob sie marschierten, mir war es damals, wenn ich
in träumerischen Nachmittagsstunden über Homer und Livius weg den lieben Lauten
der Trommel und der heimatlichen Tuba oder Salpinx lauschte, als musizierten die
Spielleute auf einem kleinen Raume hin und her marschierend. Ein glücklicher Zufall
führte mir damals gerade zur rechten Zeit Abtes Trommelübung vor Augen, frische,
junge, kräftige Gestalten mit einem Zug jugendlicher Faulheit, im geflickten Blau
der vierten Garnitur, Schwalbennester an den Schultern, Gardelitzen an den
Kragen und Aufschlägen, auf dem armen, zertretnen, nun aber reich mit Gänse¬
blümchen gestickten Grün eines Exerzierplatzes bei München. Nach diesem Bilde
malte ich mir nun den Ort des Schreckens, das Hexengolgatha von jungen, blauen,
rauhen aber nicht grausamen Kriegern belebt und mit weißen Blumen bestreut.
Durch dieses helle Leben war die Stätte des Feuertodes entsühnt, bevor ich sie sah.

(Fortsetzung folgt)




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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/330>, abgerufen am 29.12.2024.