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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

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Meine Jugend und die Religion

sich. Hermann Vogel zeichnet sie so anmutig häßlich, daß man sich nicht wundert,
sie aus dem heißen Ofen der Münchner Lebkuchenbäcker mit allen Attributen, die
ihr die Märchendichter und Märchenzeichner verliehen haben, als Lebkuchen eßbar
auferstehn zu sehen.

Die eßbare Lebkuchenhexe und ihr Begleiter, der Rabe, der alles Unheimliche
verloren und das vertrauenerweckende Äußere des Hans Huckebein angenommen
hat -- wenn mich die neben Lebkuchen, die mit seingeschnittnen Möbeln aus dem
siebzehnten Jahrhundert geformt sind, aus dem Schaufenster der Lebkuchenbäcker
grüßen, ist mir, als sei die Welt seit meiner Jugend merklich in der Humanität
und in der Kunst, das Grauen zu bannen, vorgeschritten. Der Gegensatz Backwerk
und Hexen stand mir auch in meiner Jugend lange Zeit vor Augen, aber das war
keine anmutige Verbindung, sondern das letzte Schrecknis, das meine Seele krank
machte.

Ich weiß noch gut, wann ich zum erstenmal das Wort Hexe im geschicht¬
lichen Sinn, nicht im Märchensinn, gehört habe, und wann sich in meiner Phantasie
das Bild der unglücklichen Frauen, die diesen Namen trugen, zu formen begann.
An dem Scheiterhaufen der Jungfrau von Orleans hat sich die Qual entzündet,
unter der meine Seele jahrelang litt. Es war ein tiefer Schmerz für mich, als
ich erfuhr, daß der Tod der ritterlichen Jungfrau nicht so war, wie Schiller ihn
schildert, daß keine kühl wehenden Fahnen sanft über die Leiche sanken, sondern
daß die Lohe über ihr zusammenschlug. Nun sah ichs auf meiner planlosen
Wanderung durch die Geschichte bald da, bald dort aufflammen, auf den Markt¬
plätzen dunkler Städte, auf freiem Felde, auf Höhen, überall im großen Vaterland,
in den Marken und im Herzen, am Rhein und an der Oder. Seewind wandte
die Flammen vom Scheiterhaufen landwärts, als wolle er das Meer von dieser
Abscheulichkeit rein erhalten, und Bergwind stieß in die Lohe, als empöre ihn der
Mißbrauch des Feuers, das am Tage arme Frauen töten mußte und in der Nacht
die alten Götter grüßen sollte. Wo kein Scheiterhaufen lohte, flog Hexenasche hin.
Ich verlor die Hoffnung, irgendwo in Deutschland ein Fleckchen zu finden, das von
Hexenasche ganz rein war. Ich liebte schon damals mein Volk mit eifersüchtigen
Stolze, keines sollte so edel, so tapfer, so mächtig sein wie meines. Aber als
meine Augen und Ohren, die für Schrecknisse geschärft waren, in dem Deutschland
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts überall, wohin sie auch spähten und
lauschten, von Hexenwahn und Hexenjagd, Hexenqual und Hexenmord erfuhren, da
war mir eine Zeit lang die Freude an meinem Vaterlande ganz vergällt. Ich wäre
gern ein Engländer, ein Skandinavier, ein Franzose gewesen, wenn ich nur sicher
gewußt hätte, wo nie Rauch und bleiche Flammen um gequälte Menschenleiber in
den blauen Himmel stiegen.

Am unheimlichsten war es mir in meiner neuen Heimat, in der ich immer
noch nicht Wurzel gefaßt hatte. Ich schämte mich, gerade in Franken zu sein, in
dem Lande, wo der Hexenwahn am wildesten in den Herzen und Augen geglüht
und am unbarmherzigsten seine Opfer gefordert hatte. Ich war damals wieder
ein bißchen flügge geworden, die Beine waren wieder kräftiger, trotz der schlechten
Ernährung, und ich ging, da ich mich auch nicht mehr von Altersgenossen verfolgt
fühlte, öfter ins Freie. Die Raupe des Wolfsmilchschwärmers war mein Jagd¬
objekt, ich hätte so gern ein schönes nicht lädiertes Exemplar dieses Schwärmers
gehabt, aus einem immer noch leise in mir pochenden Heimweh nach Hinnenaus,
wo die Schmetterlinge ihre Flügel breiteten. Die besten Naupenjagdgründe waren
an den Wegen, die zwischen Weinbergmauern schräg die Rebenhügel hinanführten.
Da wucherte die Wolfsmilch unten an den Mauern, und die schöne Raupe mit
ihren schwarzen Samtflecken war dort nicht selten, sodaß sogar ich mit meinen schon


Meine Jugend und die Religion

sich. Hermann Vogel zeichnet sie so anmutig häßlich, daß man sich nicht wundert,
sie aus dem heißen Ofen der Münchner Lebkuchenbäcker mit allen Attributen, die
ihr die Märchendichter und Märchenzeichner verliehen haben, als Lebkuchen eßbar
auferstehn zu sehen.

Die eßbare Lebkuchenhexe und ihr Begleiter, der Rabe, der alles Unheimliche
verloren und das vertrauenerweckende Äußere des Hans Huckebein angenommen
hat — wenn mich die neben Lebkuchen, die mit seingeschnittnen Möbeln aus dem
siebzehnten Jahrhundert geformt sind, aus dem Schaufenster der Lebkuchenbäcker
grüßen, ist mir, als sei die Welt seit meiner Jugend merklich in der Humanität
und in der Kunst, das Grauen zu bannen, vorgeschritten. Der Gegensatz Backwerk
und Hexen stand mir auch in meiner Jugend lange Zeit vor Augen, aber das war
keine anmutige Verbindung, sondern das letzte Schrecknis, das meine Seele krank
machte.

Ich weiß noch gut, wann ich zum erstenmal das Wort Hexe im geschicht¬
lichen Sinn, nicht im Märchensinn, gehört habe, und wann sich in meiner Phantasie
das Bild der unglücklichen Frauen, die diesen Namen trugen, zu formen begann.
An dem Scheiterhaufen der Jungfrau von Orleans hat sich die Qual entzündet,
unter der meine Seele jahrelang litt. Es war ein tiefer Schmerz für mich, als
ich erfuhr, daß der Tod der ritterlichen Jungfrau nicht so war, wie Schiller ihn
schildert, daß keine kühl wehenden Fahnen sanft über die Leiche sanken, sondern
daß die Lohe über ihr zusammenschlug. Nun sah ichs auf meiner planlosen
Wanderung durch die Geschichte bald da, bald dort aufflammen, auf den Markt¬
plätzen dunkler Städte, auf freiem Felde, auf Höhen, überall im großen Vaterland,
in den Marken und im Herzen, am Rhein und an der Oder. Seewind wandte
die Flammen vom Scheiterhaufen landwärts, als wolle er das Meer von dieser
Abscheulichkeit rein erhalten, und Bergwind stieß in die Lohe, als empöre ihn der
Mißbrauch des Feuers, das am Tage arme Frauen töten mußte und in der Nacht
die alten Götter grüßen sollte. Wo kein Scheiterhaufen lohte, flog Hexenasche hin.
Ich verlor die Hoffnung, irgendwo in Deutschland ein Fleckchen zu finden, das von
Hexenasche ganz rein war. Ich liebte schon damals mein Volk mit eifersüchtigen
Stolze, keines sollte so edel, so tapfer, so mächtig sein wie meines. Aber als
meine Augen und Ohren, die für Schrecknisse geschärft waren, in dem Deutschland
des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts überall, wohin sie auch spähten und
lauschten, von Hexenwahn und Hexenjagd, Hexenqual und Hexenmord erfuhren, da
war mir eine Zeit lang die Freude an meinem Vaterlande ganz vergällt. Ich wäre
gern ein Engländer, ein Skandinavier, ein Franzose gewesen, wenn ich nur sicher
gewußt hätte, wo nie Rauch und bleiche Flammen um gequälte Menschenleiber in
den blauen Himmel stiegen.

Am unheimlichsten war es mir in meiner neuen Heimat, in der ich immer
noch nicht Wurzel gefaßt hatte. Ich schämte mich, gerade in Franken zu sein, in
dem Lande, wo der Hexenwahn am wildesten in den Herzen und Augen geglüht
und am unbarmherzigsten seine Opfer gefordert hatte. Ich war damals wieder
ein bißchen flügge geworden, die Beine waren wieder kräftiger, trotz der schlechten
Ernährung, und ich ging, da ich mich auch nicht mehr von Altersgenossen verfolgt
fühlte, öfter ins Freie. Die Raupe des Wolfsmilchschwärmers war mein Jagd¬
objekt, ich hätte so gern ein schönes nicht lädiertes Exemplar dieses Schwärmers
gehabt, aus einem immer noch leise in mir pochenden Heimweh nach Hinnenaus,
wo die Schmetterlinge ihre Flügel breiteten. Die besten Naupenjagdgründe waren
an den Wegen, die zwischen Weinbergmauern schräg die Rebenhügel hinanführten.
Da wucherte die Wolfsmilch unten an den Mauern, und die schöne Raupe mit
ihren schwarzen Samtflecken war dort nicht selten, sodaß sogar ich mit meinen schon


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[0326] Meine Jugend und die Religion sich. Hermann Vogel zeichnet sie so anmutig häßlich, daß man sich nicht wundert, sie aus dem heißen Ofen der Münchner Lebkuchenbäcker mit allen Attributen, die ihr die Märchendichter und Märchenzeichner verliehen haben, als Lebkuchen eßbar auferstehn zu sehen. Die eßbare Lebkuchenhexe und ihr Begleiter, der Rabe, der alles Unheimliche verloren und das vertrauenerweckende Äußere des Hans Huckebein angenommen hat — wenn mich die neben Lebkuchen, die mit seingeschnittnen Möbeln aus dem siebzehnten Jahrhundert geformt sind, aus dem Schaufenster der Lebkuchenbäcker grüßen, ist mir, als sei die Welt seit meiner Jugend merklich in der Humanität und in der Kunst, das Grauen zu bannen, vorgeschritten. Der Gegensatz Backwerk und Hexen stand mir auch in meiner Jugend lange Zeit vor Augen, aber das war keine anmutige Verbindung, sondern das letzte Schrecknis, das meine Seele krank machte. Ich weiß noch gut, wann ich zum erstenmal das Wort Hexe im geschicht¬ lichen Sinn, nicht im Märchensinn, gehört habe, und wann sich in meiner Phantasie das Bild der unglücklichen Frauen, die diesen Namen trugen, zu formen begann. An dem Scheiterhaufen der Jungfrau von Orleans hat sich die Qual entzündet, unter der meine Seele jahrelang litt. Es war ein tiefer Schmerz für mich, als ich erfuhr, daß der Tod der ritterlichen Jungfrau nicht so war, wie Schiller ihn schildert, daß keine kühl wehenden Fahnen sanft über die Leiche sanken, sondern daß die Lohe über ihr zusammenschlug. Nun sah ichs auf meiner planlosen Wanderung durch die Geschichte bald da, bald dort aufflammen, auf den Markt¬ plätzen dunkler Städte, auf freiem Felde, auf Höhen, überall im großen Vaterland, in den Marken und im Herzen, am Rhein und an der Oder. Seewind wandte die Flammen vom Scheiterhaufen landwärts, als wolle er das Meer von dieser Abscheulichkeit rein erhalten, und Bergwind stieß in die Lohe, als empöre ihn der Mißbrauch des Feuers, das am Tage arme Frauen töten mußte und in der Nacht die alten Götter grüßen sollte. Wo kein Scheiterhaufen lohte, flog Hexenasche hin. Ich verlor die Hoffnung, irgendwo in Deutschland ein Fleckchen zu finden, das von Hexenasche ganz rein war. Ich liebte schon damals mein Volk mit eifersüchtigen Stolze, keines sollte so edel, so tapfer, so mächtig sein wie meines. Aber als meine Augen und Ohren, die für Schrecknisse geschärft waren, in dem Deutschland des sechzehnten und siebzehnten Jahrhunderts überall, wohin sie auch spähten und lauschten, von Hexenwahn und Hexenjagd, Hexenqual und Hexenmord erfuhren, da war mir eine Zeit lang die Freude an meinem Vaterlande ganz vergällt. Ich wäre gern ein Engländer, ein Skandinavier, ein Franzose gewesen, wenn ich nur sicher gewußt hätte, wo nie Rauch und bleiche Flammen um gequälte Menschenleiber in den blauen Himmel stiegen. Am unheimlichsten war es mir in meiner neuen Heimat, in der ich immer noch nicht Wurzel gefaßt hatte. Ich schämte mich, gerade in Franken zu sein, in dem Lande, wo der Hexenwahn am wildesten in den Herzen und Augen geglüht und am unbarmherzigsten seine Opfer gefordert hatte. Ich war damals wieder ein bißchen flügge geworden, die Beine waren wieder kräftiger, trotz der schlechten Ernährung, und ich ging, da ich mich auch nicht mehr von Altersgenossen verfolgt fühlte, öfter ins Freie. Die Raupe des Wolfsmilchschwärmers war mein Jagd¬ objekt, ich hätte so gern ein schönes nicht lädiertes Exemplar dieses Schwärmers gehabt, aus einem immer noch leise in mir pochenden Heimweh nach Hinnenaus, wo die Schmetterlinge ihre Flügel breiteten. Die besten Naupenjagdgründe waren an den Wegen, die zwischen Weinbergmauern schräg die Rebenhügel hinanführten. Da wucherte die Wolfsmilch unten an den Mauern, und die schöne Raupe mit ihren schwarzen Samtflecken war dort nicht selten, sodaß sogar ich mit meinen schon

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/326>, abgerufen am 22.12.2024.