Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.Das Moderne in Luther Individualismus sollte doch niemand mehr die Tatsnchlichkeit der verschiednen Im einzelnen konkreten Falle ist es ja oft schwierig genug, die Forderungen Grenzboten 111 1909 29
Das Moderne in Luther Individualismus sollte doch niemand mehr die Tatsnchlichkeit der verschiednen Im einzelnen konkreten Falle ist es ja oft schwierig genug, die Forderungen Grenzboten 111 1909 29
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Das Moderne in Luther
Individualismus sollte doch niemand mehr die Tatsnchlichkeit der verschiednen
Moralen bestreiten. Es gibt nun einmal, abgesehen von vielen andern Verschieden¬
heiten, Menschen, die aus innerm Antriebe, nur ihrer Natur folgend, das Höchste
leisten in Überwindung der Triebe und in edler Selbstaufopferung, und ihnen
gegenüber eine Masse solcher, bei denen man schon froh sein muß, wenn Erziehung,
kirchlicher Einfluß und Staatszwang zusammen die bürgerliche Rechtschaffenheit
zustande bringen. Die alte Kirche fehlt nur darin, daß sie sich anmaßt, gewisse
ihr genehme Menschen, die sie Heilige nennt, als vollkommne Christen amtlich
abzustempeln, daß sie die unzulässigen Klostergelübde als den sichersten Weg
zur Vollkommenheit empfiehlt, und daß sie, was den gewöhnlichen Christen an
der Gottwohlgefälligkeit fehlt, mit ihrem magischen Heilsapparat ergänzen will,
anstatt sich auf psychologische Einwirkung und auf die von ihr selbst und vom
Staate auszuübende Zucht zu beschränken. Luthers Vermittlung des Wider¬
spruchs dagegen halte ich ohne Einschränkung für richtig. Er will, daß der Christ,
als Christ, dem Übel nicht widerstehe, als obrigkeitliche Person aber, als Haus¬
vater, als Staatsbürger widerstehe und sich tapfer wehre. Das bedeutet keines¬
wegs, wie Vogt meint, eine Zerreißung der Persönlichkeit in zwei verschiedne,
einander entgegengesetzte Personen. Was die Bergpredigt fordert, das ist der
Verzicht auf lieblose und rachsüchtige Gesinnung und auf eine Anhänglichkeit
an die irdischen Güter, die in ihnen die Seligkeit sucht und demnach mit dem
Verlust dieser Güter zugleich die Seligkeit einbüßt. Es ist nun durchaus möglich
und kommt wirklich vor, daß einer als Fürst oder Richter das Böse straft und
als Staatsbürger aus Pflichtgefühl, z. B. um sich und den Seinigen den Lebens¬
unterhalt zu sicher», sein Recht sucht, ohne eine Spur von Haß und Rachsucht,
ohne die vom Christentum geforderte Nächstenliebe zu verletzen. Paulus fordert
demgemäß, daß die Christen besitzen sollen, als besäßen sie nicht, und als er in
Philippi widerrechtlich eingesperrt und gegeißelt worden war, ließ er sich, um
des guten Rufes der Heilsboten willen, von der Obrigkeit feierliche und öffentliche
Genugtuung leisten.
Im einzelnen konkreten Falle ist es ja oft schwierig genug, die Forderungen
der Welt mit denen Christi zu versöhnen und die Grenze zwischen der Freiheit
eines Christenmenschen und der für ein geordnetes Zusammenleben unerläßlichen
Gesetzlichkeit richtig zu ziehen. Luther hat selbst darin manchmal fehlgegriffen,
z- V, wenn er meint, das Sabbatgebot sei nur eine Formulierung dessen, was
das natürliche Bedürfnis gebiete, und wenn einer am Sonntag nicht müde sei,
so stehe es ihm frei, an einem andern Tage zu ruhen. Gerade die allgemeine
Regelung der Ruhezeit, die Festsetzung eines bestimmten Ruhetages für alle, ist
von einer so ungeheuern sozialen Bedeutung, daß ihre Notwendigkeit heute all¬
gemein und gesetzlich anerkannt wird. Ich habe deshalb schon öfter bekannt,
daß mir die Einsetzung des Sabbath allein schon die Göttlichkeit der mosaisch¬
christlichen Religion verbürgt, deren wesentliche Ideen heute noch so lebenskräftig
sind wie vor neunzehnhundert Jahren. Die Irrtümer der Urchristen entsprangen
Grenzboten 111 1909 29
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