Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Das Moderne in Tuther

Das ist Konfusion, eine Konfusion, verursacht durch die ewige Vermischung
und Verwechslung der Begriffe Protestantismus und evangelisches Christentum.
Das Wort Protestantismus kann nur die Verneinung der römischen Hierarchie
bedeuten und hat also den Sinn, daß der Christ, um selig zu werden, weder
der von der Priesterschaft dargebotnen Gnadenmittel noch der unfehlbaren Aus¬
legung des Schriftworts noch der Leitung und Bevormundung in seinem sitt¬
lichen Wandel bedarf. Das Wort bedeutet also ungefähr so viel wie die grund¬
sätzliche Autonomie -- für die Autonomen. Aber daß nun wirklich alle
Christenmenschen bis zu den Proletariersäuglingen hinunter autonom seien, wird
doch wohl kein vernünftiger Mensch behaupten wollen. Demnach besteht auch
nach Anerkennung des protestantischen Grundsatzes der Autonomie die Kirche
zu Recht, d. h. eine Anstalt, die sich der Unmündigen und Halbmündigen an¬
nimmt, ihnen die Glaubenswahrheiten verkündigt und Sittenzucht angedeihen
läßt, ihnen erbauliche Feierlichkeiten veranstaltet und die christliche Charitas
organisiert. Nur daß diese Kirche eben eine evangelische Kirche, d.h. von
Aberglauben und hierarchischen Mißbräuchen gereinigt sein soll. Freilich be¬
haupten die Modernen, die nach protestantischen Grundsätzen geübte Bibelkritik
habe die Bibel zunichte gemacht, sodaß es kein Christentum zu lehren gebe,
eine christliche Kirche also nichts mehr zu tun finde. Allein dem widerspricht
die Erfahrung, denn es gibt Männer, die selbst geforscht haben und alle Er¬
gebnisse der Bibelkritik kennen, und die trotzdem an den Grundlehren des
Christentums festhalten. Und wenn Vogt meint, mit den Sakramenten und
dem Priestertum falle auch die Kirche, so irrt er; auch wenn alles Zauberwerk
und sogar aller harmlose und nützliche Symbolismus aufhört, bleiben der christ¬
lichen Gemeinschaft oder den Sekten, den kleinern christlichen Gemeinschaften
(solche hält auch Vogt noch für lebensfähig) die oben genannten Aufgaben.

Der mittelalterlichen Kirche war zweierlei verhängnisvoll geworden. Erstens
die urchristliche Eschatologie. Zwar hatte jene aufgehört, das Weltende in un¬
mittelbarer Nähe zu erwarten, und die Hierarchie hatte sich nur allzusehr auf
ein gemütliches Erdenleben von langer Dauer eingerichtet, aber das jenseitige
Ziel wurde doch so stark betont, daß das Erdenleben dadurch an Bedeutung
verlor. Das Mittelalter hat gewaltige Kulturleistungen vollbracht: drei Kunst-
Me in monumentalen Bauten, in Plastik und Malerei verkörpert, großartige
soziale Organisationen, allerlei Kunstgewerbe, die Grundformen des modernen
Handelsverkehrs geschaffen, aber höchstens in der religiösen Kunst waren sich
die Schaffenden deutlich bewußt, damit Gott zu dienen, Gottes Werk zu ver¬
richten. Den größten Teil ihrer Kulturarbeit schätzten sie als profan gering,
fürchteten wohl gar, damit Gott zu beleidigen und ihre Seele zu gefährden,
meinten darum, zur Sicherung ihres ewigen Heils gegen das Lebensende aller
ndischen Tätigkeit entsagen, sich ins Kloster zurückziehen oder daheim ein klöster¬
liches, ein "gottseliges" Leben führen zu müssen. Daß Luther das klare Bewußt¬
sein hatte, in seiner gesamten Tätigkeit, auch in weltlichen Geschäften, von Gott


Das Moderne in Tuther

Das ist Konfusion, eine Konfusion, verursacht durch die ewige Vermischung
und Verwechslung der Begriffe Protestantismus und evangelisches Christentum.
Das Wort Protestantismus kann nur die Verneinung der römischen Hierarchie
bedeuten und hat also den Sinn, daß der Christ, um selig zu werden, weder
der von der Priesterschaft dargebotnen Gnadenmittel noch der unfehlbaren Aus¬
legung des Schriftworts noch der Leitung und Bevormundung in seinem sitt¬
lichen Wandel bedarf. Das Wort bedeutet also ungefähr so viel wie die grund¬
sätzliche Autonomie — für die Autonomen. Aber daß nun wirklich alle
Christenmenschen bis zu den Proletariersäuglingen hinunter autonom seien, wird
doch wohl kein vernünftiger Mensch behaupten wollen. Demnach besteht auch
nach Anerkennung des protestantischen Grundsatzes der Autonomie die Kirche
zu Recht, d. h. eine Anstalt, die sich der Unmündigen und Halbmündigen an¬
nimmt, ihnen die Glaubenswahrheiten verkündigt und Sittenzucht angedeihen
läßt, ihnen erbauliche Feierlichkeiten veranstaltet und die christliche Charitas
organisiert. Nur daß diese Kirche eben eine evangelische Kirche, d.h. von
Aberglauben und hierarchischen Mißbräuchen gereinigt sein soll. Freilich be¬
haupten die Modernen, die nach protestantischen Grundsätzen geübte Bibelkritik
habe die Bibel zunichte gemacht, sodaß es kein Christentum zu lehren gebe,
eine christliche Kirche also nichts mehr zu tun finde. Allein dem widerspricht
die Erfahrung, denn es gibt Männer, die selbst geforscht haben und alle Er¬
gebnisse der Bibelkritik kennen, und die trotzdem an den Grundlehren des
Christentums festhalten. Und wenn Vogt meint, mit den Sakramenten und
dem Priestertum falle auch die Kirche, so irrt er; auch wenn alles Zauberwerk
und sogar aller harmlose und nützliche Symbolismus aufhört, bleiben der christ¬
lichen Gemeinschaft oder den Sekten, den kleinern christlichen Gemeinschaften
(solche hält auch Vogt noch für lebensfähig) die oben genannten Aufgaben.

Der mittelalterlichen Kirche war zweierlei verhängnisvoll geworden. Erstens
die urchristliche Eschatologie. Zwar hatte jene aufgehört, das Weltende in un¬
mittelbarer Nähe zu erwarten, und die Hierarchie hatte sich nur allzusehr auf
ein gemütliches Erdenleben von langer Dauer eingerichtet, aber das jenseitige
Ziel wurde doch so stark betont, daß das Erdenleben dadurch an Bedeutung
verlor. Das Mittelalter hat gewaltige Kulturleistungen vollbracht: drei Kunst-
Me in monumentalen Bauten, in Plastik und Malerei verkörpert, großartige
soziale Organisationen, allerlei Kunstgewerbe, die Grundformen des modernen
Handelsverkehrs geschaffen, aber höchstens in der religiösen Kunst waren sich
die Schaffenden deutlich bewußt, damit Gott zu dienen, Gottes Werk zu ver¬
richten. Den größten Teil ihrer Kulturarbeit schätzten sie als profan gering,
fürchteten wohl gar, damit Gott zu beleidigen und ihre Seele zu gefährden,
meinten darum, zur Sicherung ihres ewigen Heils gegen das Lebensende aller
ndischen Tätigkeit entsagen, sich ins Kloster zurückziehen oder daheim ein klöster¬
liches, ein „gottseliges" Leben führen zu müssen. Daß Luther das klare Bewußt¬
sein hatte, in seiner gesamten Tätigkeit, auch in weltlichen Geschäften, von Gott


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0227" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/313930"/>
          <fw type="header" place="top"> Das Moderne in Tuther</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_962"> Das ist Konfusion, eine Konfusion, verursacht durch die ewige Vermischung<lb/>
und Verwechslung der Begriffe Protestantismus und evangelisches Christentum.<lb/>
Das Wort Protestantismus kann nur die Verneinung der römischen Hierarchie<lb/>
bedeuten und hat also den Sinn, daß der Christ, um selig zu werden, weder<lb/>
der von der Priesterschaft dargebotnen Gnadenmittel noch der unfehlbaren Aus¬<lb/>
legung des Schriftworts noch der Leitung und Bevormundung in seinem sitt¬<lb/>
lichen Wandel bedarf. Das Wort bedeutet also ungefähr so viel wie die grund¬<lb/>
sätzliche Autonomie &#x2014; für die Autonomen. Aber daß nun wirklich alle<lb/>
Christenmenschen bis zu den Proletariersäuglingen hinunter autonom seien, wird<lb/>
doch wohl kein vernünftiger Mensch behaupten wollen. Demnach besteht auch<lb/>
nach Anerkennung des protestantischen Grundsatzes der Autonomie die Kirche<lb/>
zu Recht, d. h. eine Anstalt, die sich der Unmündigen und Halbmündigen an¬<lb/>
nimmt, ihnen die Glaubenswahrheiten verkündigt und Sittenzucht angedeihen<lb/>
läßt, ihnen erbauliche Feierlichkeiten veranstaltet und die christliche Charitas<lb/>
organisiert. Nur daß diese Kirche eben eine evangelische Kirche, d.h. von<lb/>
Aberglauben und hierarchischen Mißbräuchen gereinigt sein soll. Freilich be¬<lb/>
haupten die Modernen, die nach protestantischen Grundsätzen geübte Bibelkritik<lb/>
habe die Bibel zunichte gemacht, sodaß es kein Christentum zu lehren gebe,<lb/>
eine christliche Kirche also nichts mehr zu tun finde. Allein dem widerspricht<lb/>
die Erfahrung, denn es gibt Männer, die selbst geforscht haben und alle Er¬<lb/>
gebnisse der Bibelkritik kennen, und die trotzdem an den Grundlehren des<lb/>
Christentums festhalten. Und wenn Vogt meint, mit den Sakramenten und<lb/>
dem Priestertum falle auch die Kirche, so irrt er; auch wenn alles Zauberwerk<lb/>
und sogar aller harmlose und nützliche Symbolismus aufhört, bleiben der christ¬<lb/>
lichen Gemeinschaft oder den Sekten, den kleinern christlichen Gemeinschaften<lb/>
(solche hält auch Vogt noch für lebensfähig) die oben genannten Aufgaben.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_963" next="#ID_964"> Der mittelalterlichen Kirche war zweierlei verhängnisvoll geworden. Erstens<lb/>
die urchristliche Eschatologie. Zwar hatte jene aufgehört, das Weltende in un¬<lb/>
mittelbarer Nähe zu erwarten, und die Hierarchie hatte sich nur allzusehr auf<lb/>
ein gemütliches Erdenleben von langer Dauer eingerichtet, aber das jenseitige<lb/>
Ziel wurde doch so stark betont, daß das Erdenleben dadurch an Bedeutung<lb/>
verlor. Das Mittelalter hat gewaltige Kulturleistungen vollbracht: drei Kunst-<lb/>
Me in monumentalen Bauten, in Plastik und Malerei verkörpert, großartige<lb/>
soziale Organisationen, allerlei Kunstgewerbe, die Grundformen des modernen<lb/>
Handelsverkehrs geschaffen, aber höchstens in der religiösen Kunst waren sich<lb/>
die Schaffenden deutlich bewußt, damit Gott zu dienen, Gottes Werk zu ver¬<lb/>
richten. Den größten Teil ihrer Kulturarbeit schätzten sie als profan gering,<lb/>
fürchteten wohl gar, damit Gott zu beleidigen und ihre Seele zu gefährden,<lb/>
meinten darum, zur Sicherung ihres ewigen Heils gegen das Lebensende aller<lb/>
ndischen Tätigkeit entsagen, sich ins Kloster zurückziehen oder daheim ein klöster¬<lb/>
liches, ein &#x201E;gottseliges" Leben führen zu müssen. Daß Luther das klare Bewußt¬<lb/>
sein hatte, in seiner gesamten Tätigkeit, auch in weltlichen Geschäften, von Gott</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0227] Das Moderne in Tuther Das ist Konfusion, eine Konfusion, verursacht durch die ewige Vermischung und Verwechslung der Begriffe Protestantismus und evangelisches Christentum. Das Wort Protestantismus kann nur die Verneinung der römischen Hierarchie bedeuten und hat also den Sinn, daß der Christ, um selig zu werden, weder der von der Priesterschaft dargebotnen Gnadenmittel noch der unfehlbaren Aus¬ legung des Schriftworts noch der Leitung und Bevormundung in seinem sitt¬ lichen Wandel bedarf. Das Wort bedeutet also ungefähr so viel wie die grund¬ sätzliche Autonomie — für die Autonomen. Aber daß nun wirklich alle Christenmenschen bis zu den Proletariersäuglingen hinunter autonom seien, wird doch wohl kein vernünftiger Mensch behaupten wollen. Demnach besteht auch nach Anerkennung des protestantischen Grundsatzes der Autonomie die Kirche zu Recht, d. h. eine Anstalt, die sich der Unmündigen und Halbmündigen an¬ nimmt, ihnen die Glaubenswahrheiten verkündigt und Sittenzucht angedeihen läßt, ihnen erbauliche Feierlichkeiten veranstaltet und die christliche Charitas organisiert. Nur daß diese Kirche eben eine evangelische Kirche, d.h. von Aberglauben und hierarchischen Mißbräuchen gereinigt sein soll. Freilich be¬ haupten die Modernen, die nach protestantischen Grundsätzen geübte Bibelkritik habe die Bibel zunichte gemacht, sodaß es kein Christentum zu lehren gebe, eine christliche Kirche also nichts mehr zu tun finde. Allein dem widerspricht die Erfahrung, denn es gibt Männer, die selbst geforscht haben und alle Er¬ gebnisse der Bibelkritik kennen, und die trotzdem an den Grundlehren des Christentums festhalten. Und wenn Vogt meint, mit den Sakramenten und dem Priestertum falle auch die Kirche, so irrt er; auch wenn alles Zauberwerk und sogar aller harmlose und nützliche Symbolismus aufhört, bleiben der christ¬ lichen Gemeinschaft oder den Sekten, den kleinern christlichen Gemeinschaften (solche hält auch Vogt noch für lebensfähig) die oben genannten Aufgaben. Der mittelalterlichen Kirche war zweierlei verhängnisvoll geworden. Erstens die urchristliche Eschatologie. Zwar hatte jene aufgehört, das Weltende in un¬ mittelbarer Nähe zu erwarten, und die Hierarchie hatte sich nur allzusehr auf ein gemütliches Erdenleben von langer Dauer eingerichtet, aber das jenseitige Ziel wurde doch so stark betont, daß das Erdenleben dadurch an Bedeutung verlor. Das Mittelalter hat gewaltige Kulturleistungen vollbracht: drei Kunst- Me in monumentalen Bauten, in Plastik und Malerei verkörpert, großartige soziale Organisationen, allerlei Kunstgewerbe, die Grundformen des modernen Handelsverkehrs geschaffen, aber höchstens in der religiösen Kunst waren sich die Schaffenden deutlich bewußt, damit Gott zu dienen, Gottes Werk zu ver¬ richten. Den größten Teil ihrer Kulturarbeit schätzten sie als profan gering, fürchteten wohl gar, damit Gott zu beleidigen und ihre Seele zu gefährden, meinten darum, zur Sicherung ihres ewigen Heils gegen das Lebensende aller ndischen Tätigkeit entsagen, sich ins Kloster zurückziehen oder daheim ein klöster¬ liches, ein „gottseliges" Leben führen zu müssen. Daß Luther das klare Bewußt¬ sein hatte, in seiner gesamten Tätigkeit, auch in weltlichen Geschäften, von Gott

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/227
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Drittes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_313702/227>, abgerufen am 22.12.2024.