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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

unangenehm wäre. In Wahrheit braucht England nur bei dem Programm zu
bleiben, das es von Anfang an aufgestellt hat, nämlich Einberufung einer Konferenz,
aber genaue Abgrenzung der Fragen, die dabei behandelt werden sollen. Man
erinnere sich, daß die britische Regierung seinerzeit die weitergehenden Pläne
Jswolskis zurückgewiesen hat. Frankreich hat ein so starkes Interesse daran, die
Orientfrage friedlich zu regeln und vor allem ein kriegerisches Eingreifen Rußlands
unnötig zu machen, daß es sich zu diesem Zwecke bekanntlich sogar Deutschland ge¬
nähert hat, also keineswegs geneigt ist, Serbiens Haltung zu ermutigen.

Es war bisher immer die Freude der Dreibundgegner und Serbenfreuude,
daß Italien anscheinend in seiner ganzen Stellung uuter dem Druck der Westmächte
stand. Die tatsächliche Annäherung Frankreichs und Deutschlands hätte den schaden¬
frohen Beobachtern schon ein Wink sein können, sich die Lage in dieser Beziehung
etwas genauer anzusehen. Wenn sich Italien vielfach genötigt geglaubt hat, zwischen
seinen Dreibuudpflichten und seinem Verhältnis zu den Westmachten als Beherrschern
des Mittelmeeres eine schwankende Stellung einzunehmen, so fällt jetzt jeder Grund
dazu weg. Im Gegenteil, jetzt ist die Gelegenheit zur freundschaftlichen Unterstützung
Österreich-Ungarns gegeben wie noch nie, weil jetzt nicht einmal die Entschuldigung
gelten kann, daß die starke Betonung der Dreibundfreundschaft in Italien leicht
dazu führen könnte, die Spannung zwischen Deutschland und Frankreich zu erhöhen.
In der Tat hat der italienische Minister Tittoni und Geschick den Augenblick erfaßt,
die Initiative in einer neuen Vermittlungsaktion in die Hand zu nehmen. Der
Grundgedanke ist einfach und geschickt formuliert: Aufnahme des Konferenzprojekts
im Sinne der Triple-Entente, aber Begrenzung des Programms der Konferenz in
dem Sinne, daß sich auch Österreich-Ungarn, ohne zurückzuweichen, daran beteiligen
kann. Das Vorgehen Tittonis hat in Wie" und Berlin außerordentlich sympathisch
berührt: vielleicht bringt es doch noch die Lösung der Krisis.

In England haben kürzlich die Parlamentsverhandlungen über den Ausbau
der Flotte wieder die Nervosität wegen einer angeblichen Bedrohung durch Deutsch¬
land merkwürdig hervortreten lassen. Die liberale Regierung befindet sich freilich
in der eigenartigen Lage, mit ihren Flottenplänen Forderungen zu vertreten, die
zwar in sachverständigen und realpolitisch denkenden Kreisen aller Parteirichtungen
als eine selbstverständliche Konsequenz der Weltlage erscheinen müßten, für die aber
gerade in der großen Masse der liberalen Parteigänger nicht ohne weiteres Ver¬
ständnis zu finden ist. Man denkt in diesen Kreisen über die Grundlagen über¬
seeischer Machtstellung und die Mittel zu ihrer Erhaltung außerordentlich naiv, und
die liberalen Parteiorganisationen sind namentlich in ihren radikalern Schattierungen
stark von pazifistischen Strömungen durchsetzt. Diese begreifen ungern, warum die
liberalen Minister mit denselben Forderungen auf Steigerung der maritimen Wehr¬
kraft kommen wie ihre konservativen Vorgänger. Daher das Bestreben der Führer
und der weitsichtigern Politiker, die öffentliche Meinung ihres Parteilagers aufzu¬
rütteln durch die Vorstellung einer Gefahr, die in den populären Vorstellungen
leicht Ausnahme findet. Und fo trugen der Premierminister Asquith und sein Kollege,
der erste Lord der Admiralität, kein Bedenken, als Veranlassung des neuen Flotten¬
bauplans die Fortschritte der deutschen Flotte hinzustellen. Es wurde herausgerechnet
daß die deutsche Flotte im Jahre 1912 mehr "Drendnoughts" zur Verfügung haben
werde als die englische. Diese Berechnung hat in England eine wahre Panik erzeugt
wobei übrigens anerkannt werden muß, daß keine Feindseligkeit gegen Deutschland
zum Ausdruck kam; mau machte nur die britische Regierung dafür verantwortlich
daß sie der deutschen Energie gegenüber nicht besser auf den Schutz des Landes
bedacht gewesen sei.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

unangenehm wäre. In Wahrheit braucht England nur bei dem Programm zu
bleiben, das es von Anfang an aufgestellt hat, nämlich Einberufung einer Konferenz,
aber genaue Abgrenzung der Fragen, die dabei behandelt werden sollen. Man
erinnere sich, daß die britische Regierung seinerzeit die weitergehenden Pläne
Jswolskis zurückgewiesen hat. Frankreich hat ein so starkes Interesse daran, die
Orientfrage friedlich zu regeln und vor allem ein kriegerisches Eingreifen Rußlands
unnötig zu machen, daß es sich zu diesem Zwecke bekanntlich sogar Deutschland ge¬
nähert hat, also keineswegs geneigt ist, Serbiens Haltung zu ermutigen.

Es war bisher immer die Freude der Dreibundgegner und Serbenfreuude,
daß Italien anscheinend in seiner ganzen Stellung uuter dem Druck der Westmächte
stand. Die tatsächliche Annäherung Frankreichs und Deutschlands hätte den schaden¬
frohen Beobachtern schon ein Wink sein können, sich die Lage in dieser Beziehung
etwas genauer anzusehen. Wenn sich Italien vielfach genötigt geglaubt hat, zwischen
seinen Dreibuudpflichten und seinem Verhältnis zu den Westmachten als Beherrschern
des Mittelmeeres eine schwankende Stellung einzunehmen, so fällt jetzt jeder Grund
dazu weg. Im Gegenteil, jetzt ist die Gelegenheit zur freundschaftlichen Unterstützung
Österreich-Ungarns gegeben wie noch nie, weil jetzt nicht einmal die Entschuldigung
gelten kann, daß die starke Betonung der Dreibundfreundschaft in Italien leicht
dazu führen könnte, die Spannung zwischen Deutschland und Frankreich zu erhöhen.
In der Tat hat der italienische Minister Tittoni und Geschick den Augenblick erfaßt,
die Initiative in einer neuen Vermittlungsaktion in die Hand zu nehmen. Der
Grundgedanke ist einfach und geschickt formuliert: Aufnahme des Konferenzprojekts
im Sinne der Triple-Entente, aber Begrenzung des Programms der Konferenz in
dem Sinne, daß sich auch Österreich-Ungarn, ohne zurückzuweichen, daran beteiligen
kann. Das Vorgehen Tittonis hat in Wie» und Berlin außerordentlich sympathisch
berührt: vielleicht bringt es doch noch die Lösung der Krisis.

In England haben kürzlich die Parlamentsverhandlungen über den Ausbau
der Flotte wieder die Nervosität wegen einer angeblichen Bedrohung durch Deutsch¬
land merkwürdig hervortreten lassen. Die liberale Regierung befindet sich freilich
in der eigenartigen Lage, mit ihren Flottenplänen Forderungen zu vertreten, die
zwar in sachverständigen und realpolitisch denkenden Kreisen aller Parteirichtungen
als eine selbstverständliche Konsequenz der Weltlage erscheinen müßten, für die aber
gerade in der großen Masse der liberalen Parteigänger nicht ohne weiteres Ver¬
ständnis zu finden ist. Man denkt in diesen Kreisen über die Grundlagen über¬
seeischer Machtstellung und die Mittel zu ihrer Erhaltung außerordentlich naiv, und
die liberalen Parteiorganisationen sind namentlich in ihren radikalern Schattierungen
stark von pazifistischen Strömungen durchsetzt. Diese begreifen ungern, warum die
liberalen Minister mit denselben Forderungen auf Steigerung der maritimen Wehr¬
kraft kommen wie ihre konservativen Vorgänger. Daher das Bestreben der Führer
und der weitsichtigern Politiker, die öffentliche Meinung ihres Parteilagers aufzu¬
rütteln durch die Vorstellung einer Gefahr, die in den populären Vorstellungen
leicht Ausnahme findet. Und fo trugen der Premierminister Asquith und sein Kollege,
der erste Lord der Admiralität, kein Bedenken, als Veranlassung des neuen Flotten¬
bauplans die Fortschritte der deutschen Flotte hinzustellen. Es wurde herausgerechnet
daß die deutsche Flotte im Jahre 1912 mehr „Drendnoughts" zur Verfügung haben
werde als die englische. Diese Berechnung hat in England eine wahre Panik erzeugt
wobei übrigens anerkannt werden muß, daß keine Feindseligkeit gegen Deutschland
zum Ausdruck kam; mau machte nur die britische Regierung dafür verantwortlich
daß sie der deutschen Energie gegenüber nicht besser auf den Schutz des Landes
bedacht gewesen sei.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/673>, abgerufen am 12.12.2024.