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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

kann, die Verordnungen der von ihm befragten ärztlichen Autorität möchten ebenso
wirken. Man hat in Caracas seine Regierung gestürzt, woraus freilich noch
nicht folgt, daß man sie nicht wieder aufrichtet, wenn das Schiff, das den ge-
fürchteten kleinen Mann in seine Heimat trägt, in den Hafen Von La Guaira ein¬
läuft. Einstweilen wird sich die neue Regierung, wenn der bisherige Vize¬
präsident Gomez endgiltig die Präsidentschaft behalten sollte, mit Holland ver¬
ständigen und vielleicht auch die Beziehung zur nordamerikanischen Union enger
knüpfen, als es der selbstbewußte und eigensinnige Castro über sich gewinnen
konnte. Wir stehn der politischen Seite dieser Entwicklung durchaus kühl gegen¬
über und wünschen nur, daß unsre Handelsbeziehungen aufrechterhalten bleiben.
Natürlich ist auch dieser Wunsch nicht nach dem Geschmack unsrer Mitbewerber und
Neider, und deshalb werden bezeichnenderweise auch diese Ereignisse von Eng¬
land aus benutzt, gegen Deutschland Mißtrauen zu erregen. Man weist darauf
hin, daß Castro in Frankreich kühl und unfreundlich behandelt, in der deutschen
Reichshauptstadt dagegen besonders freundlich -- richtig wäre es, zu sagen: mit
der korrekten Gastfreundschaft, die wir dem Oberhaupt eines mit uns in normalen
Beziehungen stehenden Staates schulden -- aufgenommen wurde. Von der Fest¬
stellung dieser Tatsache bis zur plumpen Verdächtigung Deutschlands ist bei ge¬
wissen englischen Blättern von bekanntem Charakter nur ein Schritt.

Dank der Arbeit der englischen Hetzpresse in diesen und ähnlichen Fällen ist
die Nervosität in England augenblicklich wieder sehr groß, und auch vernünftige,
ernsthafte und anständige Blätter können sich dieser Stimmung anscheinend nicht
entziehn. Selbst eine Zeitung von der Bedeutung der Morning Post ist in jüngster
Zeit nicht davor zurückgeschreckt, sich lächerlich zumachen, indem sie Nachrichten von
dem geheimnisvollen Erscheinen deutscher Kriegsschiffe vor Kopenhagen brachte.
Diese im Stil der Seemannsmärchen vom fliegenden Holländer aufgeputzten Ge¬
schichten hatten einen direkt visionären Charakter.

Was sollen wir nun solchen Albernheiten gegenüber tun? Der größte Fehler,
den wir begehn könnten, wäre, wenn wir angesichts der in England herrschenden
Nervosität selbst nervös würden. Wir sollten also weder von den törichten Hetzereien
über das Maß der notwendigsten Abwehr hinaus Notiz nehmen oder sie gar er¬
widern, noch irgendwie den Versuch machen, die unfreundliche Gesinnung gegen
uns durch stürmisches Liebeswerbeu zu wandeln. Was zur Annäherung der beiden
Völker geschehen kann, ist nur eins: daß die verständigen und politisch gebildeten
Kreise in beiden Ländern, womöglich vor allem solche, die einen Einfluß auf weitere
Kreise auszuüben vermögen, einen der gegenseitigen Aufklärung dienenden Verkehr
miteinander aufrecht erhalten, und daß man diesen Beziehungen eine möglichst un¬
gestörte Nachwirkung in der Stille sichert. Freilich darf man sich auch nicht so¬
gleich beirren lassen, wenn besondre politische Konstellationen das auf diesem stillen
Wege erreichte vorübergehend wieder in Frage zu stellen scheinen. Das Schlimmste
sind solche Einwirkungen, wie sie bei dem Kaiserinterwiev zutage getreten sind.
Doch darüber haben wir uns früher eingehend ausgesprochen, und wir brauchen
darauf nicht zurückzukommen. Man kann im allgemeinen wohl die Regel aufstellen,
daß Annäherungen an andre Völker niemals darin bestehn dürfen, daß man durch
Freundschaftsbezeugungen und Bekehrungsversuche direkt auf Stimmungen und Ge¬
fühlsmomente zu wirken sucht. Möglich wird eine Annäherung immer nur, wenn
die realen Interessen der Völker sie gestatten, und in solchem Falle kann eine ent¬
gegenstehende Stimmung allerdings überwunden werden, aber nur durch eine lang¬
same Aufklärungsarbeit, die durch die Stimmungshindernisse hindurch und über sie
hinweg die Erkenntnis der wahren Interessen allmählich reifen läßt.


Maßgebliches und Unmaßgebliches

kann, die Verordnungen der von ihm befragten ärztlichen Autorität möchten ebenso
wirken. Man hat in Caracas seine Regierung gestürzt, woraus freilich noch
nicht folgt, daß man sie nicht wieder aufrichtet, wenn das Schiff, das den ge-
fürchteten kleinen Mann in seine Heimat trägt, in den Hafen Von La Guaira ein¬
läuft. Einstweilen wird sich die neue Regierung, wenn der bisherige Vize¬
präsident Gomez endgiltig die Präsidentschaft behalten sollte, mit Holland ver¬
ständigen und vielleicht auch die Beziehung zur nordamerikanischen Union enger
knüpfen, als es der selbstbewußte und eigensinnige Castro über sich gewinnen
konnte. Wir stehn der politischen Seite dieser Entwicklung durchaus kühl gegen¬
über und wünschen nur, daß unsre Handelsbeziehungen aufrechterhalten bleiben.
Natürlich ist auch dieser Wunsch nicht nach dem Geschmack unsrer Mitbewerber und
Neider, und deshalb werden bezeichnenderweise auch diese Ereignisse von Eng¬
land aus benutzt, gegen Deutschland Mißtrauen zu erregen. Man weist darauf
hin, daß Castro in Frankreich kühl und unfreundlich behandelt, in der deutschen
Reichshauptstadt dagegen besonders freundlich — richtig wäre es, zu sagen: mit
der korrekten Gastfreundschaft, die wir dem Oberhaupt eines mit uns in normalen
Beziehungen stehenden Staates schulden — aufgenommen wurde. Von der Fest¬
stellung dieser Tatsache bis zur plumpen Verdächtigung Deutschlands ist bei ge¬
wissen englischen Blättern von bekanntem Charakter nur ein Schritt.

Dank der Arbeit der englischen Hetzpresse in diesen und ähnlichen Fällen ist
die Nervosität in England augenblicklich wieder sehr groß, und auch vernünftige,
ernsthafte und anständige Blätter können sich dieser Stimmung anscheinend nicht
entziehn. Selbst eine Zeitung von der Bedeutung der Morning Post ist in jüngster
Zeit nicht davor zurückgeschreckt, sich lächerlich zumachen, indem sie Nachrichten von
dem geheimnisvollen Erscheinen deutscher Kriegsschiffe vor Kopenhagen brachte.
Diese im Stil der Seemannsmärchen vom fliegenden Holländer aufgeputzten Ge¬
schichten hatten einen direkt visionären Charakter.

Was sollen wir nun solchen Albernheiten gegenüber tun? Der größte Fehler,
den wir begehn könnten, wäre, wenn wir angesichts der in England herrschenden
Nervosität selbst nervös würden. Wir sollten also weder von den törichten Hetzereien
über das Maß der notwendigsten Abwehr hinaus Notiz nehmen oder sie gar er¬
widern, noch irgendwie den Versuch machen, die unfreundliche Gesinnung gegen
uns durch stürmisches Liebeswerbeu zu wandeln. Was zur Annäherung der beiden
Völker geschehen kann, ist nur eins: daß die verständigen und politisch gebildeten
Kreise in beiden Ländern, womöglich vor allem solche, die einen Einfluß auf weitere
Kreise auszuüben vermögen, einen der gegenseitigen Aufklärung dienenden Verkehr
miteinander aufrecht erhalten, und daß man diesen Beziehungen eine möglichst un¬
gestörte Nachwirkung in der Stille sichert. Freilich darf man sich auch nicht so¬
gleich beirren lassen, wenn besondre politische Konstellationen das auf diesem stillen
Wege erreichte vorübergehend wieder in Frage zu stellen scheinen. Das Schlimmste
sind solche Einwirkungen, wie sie bei dem Kaiserinterwiev zutage getreten sind.
Doch darüber haben wir uns früher eingehend ausgesprochen, und wir brauchen
darauf nicht zurückzukommen. Man kann im allgemeinen wohl die Regel aufstellen,
daß Annäherungen an andre Völker niemals darin bestehn dürfen, daß man durch
Freundschaftsbezeugungen und Bekehrungsversuche direkt auf Stimmungen und Ge¬
fühlsmomente zu wirken sucht. Möglich wird eine Annäherung immer nur, wenn
die realen Interessen der Völker sie gestatten, und in solchem Falle kann eine ent¬
gegenstehende Stimmung allerdings überwunden werden, aber nur durch eine lang¬
same Aufklärungsarbeit, die durch die Stimmungshindernisse hindurch und über sie
hinweg die Erkenntnis der wahren Interessen allmählich reifen läßt.


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/60>, abgerufen am 12.12.2024.