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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Ob die verstandesgemäße Hinneigung des Grafen Posadowsku zu diesem sozial-
reformatorischen Block unter ultramontaner Führung oder ob, wie völlig un-
enviesen behauptet wird, seine Abneigung gegen den neuerstandnen politischen
Block, den ausgesprochnen Gegner der Borherrschaft des Zentrums, seiner amt¬
lichen Tätigkeit ein Ziel gesetzt hat. muß dahingestellt bleiben. Kurz. Posa-
dowskys Miuisterlaufbahn verrann. . .

Der neue Staatssekretär von Bethmann-Hollweg hat von Anbeginn be¬
kundet, daß er zwar im Prinzip auf den Pfaden seines Amtsvorgängers zu
wandeln beabsichtigt, keinesfalls aber wird er sich von den sozialpolitischen Hei߬
spornen über eine bestimmte Verhaltnngslinie hinausdrängen lassen. Der bis¬
herige sozialpolitische Webstuhl bleibt also im Betrieb, es wird aber künftighin
nicht so sehr Gewicht auf die Menge der Fabrikate als auf ein gleichmäßiges
und allgemein zufriedenstellendes Erzeugnis gelegt werden. Die Rechnung
derer, die von dem Personenwechsel auch einen Umschwung in der bisherigen
Stellung der Regierungen zur Sozialreform befürchteten und herbeiwünschten,
dürfte mithin nicht stimmen. Demgemäß wird auch auf der einen Seite das
Murren über die soziale Gesetzgebung mit ihren unvermeidlichen Rückwirkungen
auf das Erwerbsleben fortbestehn, während auf der radikalen Gegenseite die
Nimmersatte Begehrlichkeit nach wie vor nach weitern "Zugeständnissen" an die
Arbeiterbewegung langen wird. Die Regierung und die Mehrheit des Reichs¬
tags werden zwischen den aus den beiden feindlichen Lagern ausgehenden
Aktionsversuchen die verständige Mitte halten müssen. Dabei braucht die
staatliche Sozialpolitik mit der parlamentarischen keineswegs durchweg überein¬
zustimmen. Im Deutschen Reiche zumal haben von jeher auf diesem Gebiete
wesentliche Unterschiede zwischen Regierung und Volksvertretung bestanden.
Je mehr vom Reichstage im Bannkreise demokratisierender Tendenzen die
Interessen einzelner Berufsstünde einseitig in den Vordergrund geschoben werden,
desto sorgfältiger wird darauf acht zu geben sein, daß nicht etwa Klassen- und
Erwerbsinteressen die nationale Wohlfahrt beeinträchtigen. Die in aufreibenden
Kämpfen aufeinanderstoßenden Gegensätze abzuschwächen und womöglich aus¬
zugleichen, ist das vornehmste Ziel, das sich der neue Staatssekretär, wie seine
Reden bezeuge,,, gesteckt hat. Dabei soll die Staatsautorität, unter Wahrung
strenger Unparteilichkeit, nachdrücklich zur Geltung gebracht werden, nicht etwa
im Sinne einer Erweiterung starrer Reglementierung, sondern durch Förderung
aller versöhnlichen Tendenzen in der sozialen Bewegung. Wenn bisher in
unsrer Sozialpolitik, unter dem starken Antriebe der Sozialreformer im Reichs¬
tag, die Anwendung der Dampfkraft an erster Stelle stand, so dürfte unter
dem neuen Leiter an der Spitze des Neichsamts des Innern das Steuer¬
ruder in den Händen der verantwortlichen Staatsgewalt mehr zu seinem
Rechte kommen/ Richtung und Ziel staatlicher Sozialpolitik bleiben auch
fürderhin unverändert, denn so gebieten es unsre sittlichen und nationalen
Pflichten, der gesetzgeberische Apparat aber soll mit mehr selbstbewußter Zurück¬
haltung und ruhiger Überlegenheit gehandhabt werden. Ob wir bei solchem


Ob die verstandesgemäße Hinneigung des Grafen Posadowsku zu diesem sozial-
reformatorischen Block unter ultramontaner Führung oder ob, wie völlig un-
enviesen behauptet wird, seine Abneigung gegen den neuerstandnen politischen
Block, den ausgesprochnen Gegner der Borherrschaft des Zentrums, seiner amt¬
lichen Tätigkeit ein Ziel gesetzt hat. muß dahingestellt bleiben. Kurz. Posa-
dowskys Miuisterlaufbahn verrann. . .

Der neue Staatssekretär von Bethmann-Hollweg hat von Anbeginn be¬
kundet, daß er zwar im Prinzip auf den Pfaden seines Amtsvorgängers zu
wandeln beabsichtigt, keinesfalls aber wird er sich von den sozialpolitischen Hei߬
spornen über eine bestimmte Verhaltnngslinie hinausdrängen lassen. Der bis¬
herige sozialpolitische Webstuhl bleibt also im Betrieb, es wird aber künftighin
nicht so sehr Gewicht auf die Menge der Fabrikate als auf ein gleichmäßiges
und allgemein zufriedenstellendes Erzeugnis gelegt werden. Die Rechnung
derer, die von dem Personenwechsel auch einen Umschwung in der bisherigen
Stellung der Regierungen zur Sozialreform befürchteten und herbeiwünschten,
dürfte mithin nicht stimmen. Demgemäß wird auch auf der einen Seite das
Murren über die soziale Gesetzgebung mit ihren unvermeidlichen Rückwirkungen
auf das Erwerbsleben fortbestehn, während auf der radikalen Gegenseite die
Nimmersatte Begehrlichkeit nach wie vor nach weitern „Zugeständnissen" an die
Arbeiterbewegung langen wird. Die Regierung und die Mehrheit des Reichs¬
tags werden zwischen den aus den beiden feindlichen Lagern ausgehenden
Aktionsversuchen die verständige Mitte halten müssen. Dabei braucht die
staatliche Sozialpolitik mit der parlamentarischen keineswegs durchweg überein¬
zustimmen. Im Deutschen Reiche zumal haben von jeher auf diesem Gebiete
wesentliche Unterschiede zwischen Regierung und Volksvertretung bestanden.
Je mehr vom Reichstage im Bannkreise demokratisierender Tendenzen die
Interessen einzelner Berufsstünde einseitig in den Vordergrund geschoben werden,
desto sorgfältiger wird darauf acht zu geben sein, daß nicht etwa Klassen- und
Erwerbsinteressen die nationale Wohlfahrt beeinträchtigen. Die in aufreibenden
Kämpfen aufeinanderstoßenden Gegensätze abzuschwächen und womöglich aus¬
zugleichen, ist das vornehmste Ziel, das sich der neue Staatssekretär, wie seine
Reden bezeuge,,, gesteckt hat. Dabei soll die Staatsautorität, unter Wahrung
strenger Unparteilichkeit, nachdrücklich zur Geltung gebracht werden, nicht etwa
im Sinne einer Erweiterung starrer Reglementierung, sondern durch Förderung
aller versöhnlichen Tendenzen in der sozialen Bewegung. Wenn bisher in
unsrer Sozialpolitik, unter dem starken Antriebe der Sozialreformer im Reichs¬
tag, die Anwendung der Dampfkraft an erster Stelle stand, so dürfte unter
dem neuen Leiter an der Spitze des Neichsamts des Innern das Steuer¬
ruder in den Händen der verantwortlichen Staatsgewalt mehr zu seinem
Rechte kommen/ Richtung und Ziel staatlicher Sozialpolitik bleiben auch
fürderhin unverändert, denn so gebieten es unsre sittlichen und nationalen
Pflichten, der gesetzgeberische Apparat aber soll mit mehr selbstbewußter Zurück¬
haltung und ruhiger Überlegenheit gehandhabt werden. Ob wir bei solchem


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/583>, abgerufen am 03.07.2024.