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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Cicero

Ciceronicmismus, sondern "jede Moral abgestreift; es war ein echt augusti-
nischcr Geistesblitz, bei dessen Schein Religion und Moral, die anfänglich ge¬
trennten, seit kurzem verbundnen, einander in ihrer ganzen UnVersöhnlichkeit
erkannten. Von nun an hieß es: Religion oder Moral."

Vielmehr hat das Christentum die Moral in der Religion fest verankert.
Die heidnischen Religionen hatten freilich mit der Moral so wenig zu schaffen,
daß Cicero den Skeptiker Cotta sagen lassen durfte: "Seine Tugend hat uoch
niemand den Göttern gutgeschrieben." Die Religion bestand in Kulthand¬
lungen, und ihre Diener, die Priester, hatten weder zu lehren noch sittlich zu
leiten, sondern bloß Opfertiere zu schlachten. Es wäre töricht gewesen, die
absurden römischen Staatsgötzen oder die liederlichen Olympier Homers um
Tugend zu bitten. Das Christentum hat aber das von den griechischen
Tragikern lind Philosophen -- freilich erst lange nach der entsprechenden
Wirksamkeit der jüdischen Propheten -- begonnene Werk vollendet, an die
Stelle der hölzernen Götzen und der lustigen Phantasiegcstcilten die Welt¬
vernunft und Weltursache als den Gott verkündigt, dem im Geist und in der
Wahrheit gedient werden solle. Damit waren Religion und Moralität zwar
nicht in eins verschmolzen, aber auf ihre gemeinsame Wurzel zurückgeführt,
und die Moral ruhte fortan auf dem Grunde des Glaubens weit sichrer, als
sie auf dem vermeintlich unabhängigen Willen des Menschen geruht hatte.
Das stolze Gebilde des stoisch-ciceronianischen Weisen, der im Bewußtsein
seiner Tugend eine keiner Ergänzung bedürftige Seligkeit genießt, hat die
Erfahrung zweier Jahrtausende, von Cicero selbst angefangen, zunichte gemacht,
und daß die Tugend ausschließlich eines jeden eigenstes Werk sei (was
Zielinski als einen wesentlichen Bestandteil der ciceronianischen Philosophie
hervorhebt), hat die größtenteils christentumsfcindlichc moderne Wissenschaft ans
das schlagendste widerlegt. Sie zeigt, wie ein jeder lediglich das Produkt
seiner Vorfahren bis zu den Moneren hinauf und das seines Milieus ist, in
das wir uns die Erzieher eingeschlossen denken mögen. Lehnen wir nun auch
die Übertreibungen der Biologen ab, die der freien Willenstätigkeit gar nichts
übriglassen, so müssen wir doch, von dieser Wissenschaft erleuchtet, sagen:
wenn ein Mensch von ruppigem Charakter sprechen wollte: ich will von Stund
an ein edler Mensch von erhabnen Charakter sein, so wäre das ebenso
lächerlich, wie wenn einer von uns gewöhnlichen Menschenkindern spräche: ich
will jetzt geschwind ein Bismarck oder ein Napoleon oder ein Goethe werden.
Stehen nun also die Naturbedingungen, aus denen sich eines jeden Charakter
entwickelt, Abstammung und Milieu, nicht in unsrer Gewalt, und halten wir
die Welt uicht für eiuen Zufall, sondern für eine planvolle Schöpfung Gottes,
wie sollten wir da, wenn wir uns günstiger Bedingungen erfreuen, unsre
Tugend uns selbst gutschreiben und nicht vielmehr Gott als für eine Gnade
dafür danken? Ciceros Tugend ist aber ohne die Ergänzung durch den christ¬
lichen Glauben noch an zwei andern Stellen brüchig, die sehr deutlich in dem


Cicero

Ciceronicmismus, sondern „jede Moral abgestreift; es war ein echt augusti-
nischcr Geistesblitz, bei dessen Schein Religion und Moral, die anfänglich ge¬
trennten, seit kurzem verbundnen, einander in ihrer ganzen UnVersöhnlichkeit
erkannten. Von nun an hieß es: Religion oder Moral."

Vielmehr hat das Christentum die Moral in der Religion fest verankert.
Die heidnischen Religionen hatten freilich mit der Moral so wenig zu schaffen,
daß Cicero den Skeptiker Cotta sagen lassen durfte: „Seine Tugend hat uoch
niemand den Göttern gutgeschrieben." Die Religion bestand in Kulthand¬
lungen, und ihre Diener, die Priester, hatten weder zu lehren noch sittlich zu
leiten, sondern bloß Opfertiere zu schlachten. Es wäre töricht gewesen, die
absurden römischen Staatsgötzen oder die liederlichen Olympier Homers um
Tugend zu bitten. Das Christentum hat aber das von den griechischen
Tragikern lind Philosophen — freilich erst lange nach der entsprechenden
Wirksamkeit der jüdischen Propheten — begonnene Werk vollendet, an die
Stelle der hölzernen Götzen und der lustigen Phantasiegcstcilten die Welt¬
vernunft und Weltursache als den Gott verkündigt, dem im Geist und in der
Wahrheit gedient werden solle. Damit waren Religion und Moralität zwar
nicht in eins verschmolzen, aber auf ihre gemeinsame Wurzel zurückgeführt,
und die Moral ruhte fortan auf dem Grunde des Glaubens weit sichrer, als
sie auf dem vermeintlich unabhängigen Willen des Menschen geruht hatte.
Das stolze Gebilde des stoisch-ciceronianischen Weisen, der im Bewußtsein
seiner Tugend eine keiner Ergänzung bedürftige Seligkeit genießt, hat die
Erfahrung zweier Jahrtausende, von Cicero selbst angefangen, zunichte gemacht,
und daß die Tugend ausschließlich eines jeden eigenstes Werk sei (was
Zielinski als einen wesentlichen Bestandteil der ciceronianischen Philosophie
hervorhebt), hat die größtenteils christentumsfcindlichc moderne Wissenschaft ans
das schlagendste widerlegt. Sie zeigt, wie ein jeder lediglich das Produkt
seiner Vorfahren bis zu den Moneren hinauf und das seines Milieus ist, in
das wir uns die Erzieher eingeschlossen denken mögen. Lehnen wir nun auch
die Übertreibungen der Biologen ab, die der freien Willenstätigkeit gar nichts
übriglassen, so müssen wir doch, von dieser Wissenschaft erleuchtet, sagen:
wenn ein Mensch von ruppigem Charakter sprechen wollte: ich will von Stund
an ein edler Mensch von erhabnen Charakter sein, so wäre das ebenso
lächerlich, wie wenn einer von uns gewöhnlichen Menschenkindern spräche: ich
will jetzt geschwind ein Bismarck oder ein Napoleon oder ein Goethe werden.
Stehen nun also die Naturbedingungen, aus denen sich eines jeden Charakter
entwickelt, Abstammung und Milieu, nicht in unsrer Gewalt, und halten wir
die Welt uicht für eiuen Zufall, sondern für eine planvolle Schöpfung Gottes,
wie sollten wir da, wenn wir uns günstiger Bedingungen erfreuen, unsre
Tugend uns selbst gutschreiben und nicht vielmehr Gott als für eine Gnade
dafür danken? Ciceros Tugend ist aber ohne die Ergänzung durch den christ¬
lichen Glauben noch an zwei andern Stellen brüchig, die sehr deutlich in dem


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[0452] Cicero Ciceronicmismus, sondern „jede Moral abgestreift; es war ein echt augusti- nischcr Geistesblitz, bei dessen Schein Religion und Moral, die anfänglich ge¬ trennten, seit kurzem verbundnen, einander in ihrer ganzen UnVersöhnlichkeit erkannten. Von nun an hieß es: Religion oder Moral." Vielmehr hat das Christentum die Moral in der Religion fest verankert. Die heidnischen Religionen hatten freilich mit der Moral so wenig zu schaffen, daß Cicero den Skeptiker Cotta sagen lassen durfte: „Seine Tugend hat uoch niemand den Göttern gutgeschrieben." Die Religion bestand in Kulthand¬ lungen, und ihre Diener, die Priester, hatten weder zu lehren noch sittlich zu leiten, sondern bloß Opfertiere zu schlachten. Es wäre töricht gewesen, die absurden römischen Staatsgötzen oder die liederlichen Olympier Homers um Tugend zu bitten. Das Christentum hat aber das von den griechischen Tragikern lind Philosophen — freilich erst lange nach der entsprechenden Wirksamkeit der jüdischen Propheten — begonnene Werk vollendet, an die Stelle der hölzernen Götzen und der lustigen Phantasiegcstcilten die Welt¬ vernunft und Weltursache als den Gott verkündigt, dem im Geist und in der Wahrheit gedient werden solle. Damit waren Religion und Moralität zwar nicht in eins verschmolzen, aber auf ihre gemeinsame Wurzel zurückgeführt, und die Moral ruhte fortan auf dem Grunde des Glaubens weit sichrer, als sie auf dem vermeintlich unabhängigen Willen des Menschen geruht hatte. Das stolze Gebilde des stoisch-ciceronianischen Weisen, der im Bewußtsein seiner Tugend eine keiner Ergänzung bedürftige Seligkeit genießt, hat die Erfahrung zweier Jahrtausende, von Cicero selbst angefangen, zunichte gemacht, und daß die Tugend ausschließlich eines jeden eigenstes Werk sei (was Zielinski als einen wesentlichen Bestandteil der ciceronianischen Philosophie hervorhebt), hat die größtenteils christentumsfcindlichc moderne Wissenschaft ans das schlagendste widerlegt. Sie zeigt, wie ein jeder lediglich das Produkt seiner Vorfahren bis zu den Moneren hinauf und das seines Milieus ist, in das wir uns die Erzieher eingeschlossen denken mögen. Lehnen wir nun auch die Übertreibungen der Biologen ab, die der freien Willenstätigkeit gar nichts übriglassen, so müssen wir doch, von dieser Wissenschaft erleuchtet, sagen: wenn ein Mensch von ruppigem Charakter sprechen wollte: ich will von Stund an ein edler Mensch von erhabnen Charakter sein, so wäre das ebenso lächerlich, wie wenn einer von uns gewöhnlichen Menschenkindern spräche: ich will jetzt geschwind ein Bismarck oder ein Napoleon oder ein Goethe werden. Stehen nun also die Naturbedingungen, aus denen sich eines jeden Charakter entwickelt, Abstammung und Milieu, nicht in unsrer Gewalt, und halten wir die Welt uicht für eiuen Zufall, sondern für eine planvolle Schöpfung Gottes, wie sollten wir da, wenn wir uns günstiger Bedingungen erfreuen, unsre Tugend uns selbst gutschreiben und nicht vielmehr Gott als für eine Gnade dafür danken? Ciceros Tugend ist aber ohne die Ergänzung durch den christ¬ lichen Glauben noch an zwei andern Stellen brüchig, die sehr deutlich in dem

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/452>, abgerufen am 12.12.2024.