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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Henriette volge

unvergeßliche Stunden verlebt hatte, und deren Freundschaft ihr bis zum Tode
ein kostbarer Besitz geblieben ist.

Leipzig war damals -- nur mit ein paar Worten sei daran erinnert --
eine Stadt von wenig mehr als 40000 Einwohnern, die größtenteils in dem
noch durch Tore und Pförtchen abgeschlossenen alten Stadtkerne wohnten.
Jenseits des Promenadenringes gab es noch nicht viele bebaute Straßen,
aber große Gärten mit behaglichen Wohnhäusern. Zwischen ihnen und den
nächsten, noch ganz ländlichen Dörfern lagen breite Feld- und Wiesenflächen
oder Waldungen; nur in einigen, wie Connewitz und Gohlis, hatten sich wohl¬
habende Leipziger Familien mit Landhäusern angesiedelt. Die Straßen wurden
durch Öllaternen notdürftig erleuchtet. Statt der hellen Kaufläden gab es
düstre, unheizbare Gewölbe. Wer nicht zu Fuße gehn wollte, ließ sich in der
Portechaise tragen. Das Theater am Ranstädter Zwinger war das einzige,
die Konzerte waren, abgesehen von den Kirchen, im wesentlichen auf das
Gewandhaus, die Freimaurersäle und den Großen Küchengarten angewiesen.

Mutter Kuntze wohnte damals am Nikolaikirchhof in einem alten, der
Universität gehörenden Gebäude und erwarb sich ihren Unterhalt durch Ver¬
köstigung von Studenten. Henriette mußte sich mit einem engen Kümmerchen
behelfen. Aber schon wenige Monate nach ihrer Heimkehr lernte sie durch
eine zufällige Begegnung in der Struveschen Trinkanstalt in Reichels Garten,
wo ihre Mutter eine Kur brauchte, den Mann kennen, an den bald das
innigste Band sie fürs Leben knüpfen sollte: den wenige Jahre ältern, damals
noch unselbständigen Kaufmann Karl Voigt. Die Bewundrung für Jean
Pauls Werke und die Liebe zur Musik brachten die beiden rasch einander nahe.
Als die Nachricht von der frühen Verlobung nach einiger Zeit an Voigts
Naumburger Freundeskreis gelangte -- die Eltern waren beide früh ge¬
storben --, erregte sie nicht geringes Kopfschütteln, und namentlich sein Vor¬
mund und väterlicher Freund Thränhart sah darin einen höchst leichtfertigen
Schritt. Bei dem Besuch aber, den das Brautpaar mit zwei Nachtfahrten er¬
möglichte, änderte der wackre alte Herr sein Urteil: schon nach der ersten Stunde
umarmte er die Braut als "sein liebes Töchterchen".

Am 1. September 1830 eröffnete Voigt mit seinein Freund I. F. Berger
in Kochs Hof am Markt eine Garn- und Seidenhandlung, und am 10. No¬
vember führte er die Braut heim. Außer deren Mutter und Bruder nahm
nur Voigts liebster Jugendfreund Julius Pinder. der nachmalige Oberprüsident
von Schlesien, an der Hochzeit teil. Das junge Paar führte zunächst in einer
etwas düstern Wohnung in der Hainstraße ein stilles Dasein, der Gatte mußte
seine Zeit fast ganz dem "Geschüft" widmen. Da der Ertrag noch ungewiß
war, hatte Henriette darauf bestanden, ihren Klavierunterricht fortzusetzen, um
wenigstens ihre persönlichen Bedürfnisse selber zu bestreiten, und so konnte sie
beim ersten Jahresabschluß ihrem Manne achtzig Taler als Überschuß ihrer
Einnahme übergeben. Bald aber drang dieser darauf, daß sie diesen an-


Henriette volge

unvergeßliche Stunden verlebt hatte, und deren Freundschaft ihr bis zum Tode
ein kostbarer Besitz geblieben ist.

Leipzig war damals — nur mit ein paar Worten sei daran erinnert —
eine Stadt von wenig mehr als 40000 Einwohnern, die größtenteils in dem
noch durch Tore und Pförtchen abgeschlossenen alten Stadtkerne wohnten.
Jenseits des Promenadenringes gab es noch nicht viele bebaute Straßen,
aber große Gärten mit behaglichen Wohnhäusern. Zwischen ihnen und den
nächsten, noch ganz ländlichen Dörfern lagen breite Feld- und Wiesenflächen
oder Waldungen; nur in einigen, wie Connewitz und Gohlis, hatten sich wohl¬
habende Leipziger Familien mit Landhäusern angesiedelt. Die Straßen wurden
durch Öllaternen notdürftig erleuchtet. Statt der hellen Kaufläden gab es
düstre, unheizbare Gewölbe. Wer nicht zu Fuße gehn wollte, ließ sich in der
Portechaise tragen. Das Theater am Ranstädter Zwinger war das einzige,
die Konzerte waren, abgesehen von den Kirchen, im wesentlichen auf das
Gewandhaus, die Freimaurersäle und den Großen Küchengarten angewiesen.

Mutter Kuntze wohnte damals am Nikolaikirchhof in einem alten, der
Universität gehörenden Gebäude und erwarb sich ihren Unterhalt durch Ver¬
köstigung von Studenten. Henriette mußte sich mit einem engen Kümmerchen
behelfen. Aber schon wenige Monate nach ihrer Heimkehr lernte sie durch
eine zufällige Begegnung in der Struveschen Trinkanstalt in Reichels Garten,
wo ihre Mutter eine Kur brauchte, den Mann kennen, an den bald das
innigste Band sie fürs Leben knüpfen sollte: den wenige Jahre ältern, damals
noch unselbständigen Kaufmann Karl Voigt. Die Bewundrung für Jean
Pauls Werke und die Liebe zur Musik brachten die beiden rasch einander nahe.
Als die Nachricht von der frühen Verlobung nach einiger Zeit an Voigts
Naumburger Freundeskreis gelangte — die Eltern waren beide früh ge¬
storben —, erregte sie nicht geringes Kopfschütteln, und namentlich sein Vor¬
mund und väterlicher Freund Thränhart sah darin einen höchst leichtfertigen
Schritt. Bei dem Besuch aber, den das Brautpaar mit zwei Nachtfahrten er¬
möglichte, änderte der wackre alte Herr sein Urteil: schon nach der ersten Stunde
umarmte er die Braut als „sein liebes Töchterchen".

Am 1. September 1830 eröffnete Voigt mit seinein Freund I. F. Berger
in Kochs Hof am Markt eine Garn- und Seidenhandlung, und am 10. No¬
vember führte er die Braut heim. Außer deren Mutter und Bruder nahm
nur Voigts liebster Jugendfreund Julius Pinder. der nachmalige Oberprüsident
von Schlesien, an der Hochzeit teil. Das junge Paar führte zunächst in einer
etwas düstern Wohnung in der Hainstraße ein stilles Dasein, der Gatte mußte
seine Zeit fast ganz dem „Geschüft" widmen. Da der Ertrag noch ungewiß
war, hatte Henriette darauf bestanden, ihren Klavierunterricht fortzusetzen, um
wenigstens ihre persönlichen Bedürfnisse selber zu bestreiten, und so konnte sie
beim ersten Jahresabschluß ihrem Manne achtzig Taler als Überschuß ihrer
Einnahme übergeben. Bald aber drang dieser darauf, daß sie diesen an-


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[0407] Henriette volge unvergeßliche Stunden verlebt hatte, und deren Freundschaft ihr bis zum Tode ein kostbarer Besitz geblieben ist. Leipzig war damals — nur mit ein paar Worten sei daran erinnert — eine Stadt von wenig mehr als 40000 Einwohnern, die größtenteils in dem noch durch Tore und Pförtchen abgeschlossenen alten Stadtkerne wohnten. Jenseits des Promenadenringes gab es noch nicht viele bebaute Straßen, aber große Gärten mit behaglichen Wohnhäusern. Zwischen ihnen und den nächsten, noch ganz ländlichen Dörfern lagen breite Feld- und Wiesenflächen oder Waldungen; nur in einigen, wie Connewitz und Gohlis, hatten sich wohl¬ habende Leipziger Familien mit Landhäusern angesiedelt. Die Straßen wurden durch Öllaternen notdürftig erleuchtet. Statt der hellen Kaufläden gab es düstre, unheizbare Gewölbe. Wer nicht zu Fuße gehn wollte, ließ sich in der Portechaise tragen. Das Theater am Ranstädter Zwinger war das einzige, die Konzerte waren, abgesehen von den Kirchen, im wesentlichen auf das Gewandhaus, die Freimaurersäle und den Großen Küchengarten angewiesen. Mutter Kuntze wohnte damals am Nikolaikirchhof in einem alten, der Universität gehörenden Gebäude und erwarb sich ihren Unterhalt durch Ver¬ köstigung von Studenten. Henriette mußte sich mit einem engen Kümmerchen behelfen. Aber schon wenige Monate nach ihrer Heimkehr lernte sie durch eine zufällige Begegnung in der Struveschen Trinkanstalt in Reichels Garten, wo ihre Mutter eine Kur brauchte, den Mann kennen, an den bald das innigste Band sie fürs Leben knüpfen sollte: den wenige Jahre ältern, damals noch unselbständigen Kaufmann Karl Voigt. Die Bewundrung für Jean Pauls Werke und die Liebe zur Musik brachten die beiden rasch einander nahe. Als die Nachricht von der frühen Verlobung nach einiger Zeit an Voigts Naumburger Freundeskreis gelangte — die Eltern waren beide früh ge¬ storben —, erregte sie nicht geringes Kopfschütteln, und namentlich sein Vor¬ mund und väterlicher Freund Thränhart sah darin einen höchst leichtfertigen Schritt. Bei dem Besuch aber, den das Brautpaar mit zwei Nachtfahrten er¬ möglichte, änderte der wackre alte Herr sein Urteil: schon nach der ersten Stunde umarmte er die Braut als „sein liebes Töchterchen". Am 1. September 1830 eröffnete Voigt mit seinein Freund I. F. Berger in Kochs Hof am Markt eine Garn- und Seidenhandlung, und am 10. No¬ vember führte er die Braut heim. Außer deren Mutter und Bruder nahm nur Voigts liebster Jugendfreund Julius Pinder. der nachmalige Oberprüsident von Schlesien, an der Hochzeit teil. Das junge Paar führte zunächst in einer etwas düstern Wohnung in der Hainstraße ein stilles Dasein, der Gatte mußte seine Zeit fast ganz dem „Geschüft" widmen. Da der Ertrag noch ungewiß war, hatte Henriette darauf bestanden, ihren Klavierunterricht fortzusetzen, um wenigstens ihre persönlichen Bedürfnisse selber zu bestreiten, und so konnte sie beim ersten Jahresabschluß ihrem Manne achtzig Taler als Überschuß ihrer Einnahme übergeben. Bald aber drang dieser darauf, daß sie diesen an-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/407>, abgerufen am 22.07.2024.