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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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<Lin Lesebuch der Sozialstatistik

Stelle beruhten: Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus, Haushaltungs¬
budgets einer Schwarzwälder Uhrschildmalersamilie und einer armen Näherin,
des Nührikele. Im Eingange der diesem Mädchen gewidmeten Studie schreibt
er: "Große, weite, schöne Welt -- wie schmal ist der Ausschnitt, den
Myriaden von dir zu sehen bekommen, und wie genügsam hast du dich, Rikele,
gefreut über jeden schwachen Sonnenblick, den du erhaschtest. Ihr, die ihr
erhobnen Hauptes durch früchtereiche Gärten schreitet, schenkt der Geschichte
einer armen Kreatur Gehör, für die an dem mühsamen Wege, der zu jenem
Friedhöflein leitet, nur karge Beeren gewachsen sind. Nicht das Leben eines
Menschen, das Leben vieler wird erzählt, wenn immer wir uns in die Ge¬
schichte eines einzigen ernstlich vertiefen." Und er schließt: "Alle eigne An¬
strengung, alle kleinen Glücksfälle, all jene eiserne Sparsamkeit, die sich keinen
Moment vergißt, all jene List, mit der der Arme das Leben um die An¬
forderungen, die es stellt, zu betrügen, mit der er auf tausend Schleichwegen
um sie herumzukommen sucht, sie alle hatten nicht ausgereicht, Rikele bei den
allerbescheidensten Ansprüchen ein sorgenfreies Alter zu sichern." Mag es
natürlicher Heller Verstand, mag es der bildende Einfluß des gelehrten Pro¬
fessors gewesen sein -- Rikele macht manchmal eine gute nationalökonomische
Bemerkung; so sagt sie mit Beziehung darauf, daß der Staat und die Eisen¬
bahngesellschaften auch arme Leute befördern: "früher haben die Bettelleut
Herren geführt (gefahren), jetzt führen (fahren) die Herren Bettelleut." Auch
Schnappers Reisefeuilletons berichten nicht über Kunstschätze und Hotelpreise,
sondern über die Lage armer Leute. Er hat solche in ihren Kammern,
Kellern und Höhlen, in den sizilianischen Schwefelgruben, in den Massen¬
nachtlagern von Tunis aufgesucht, das ärmliche Inventar und den Küchen¬
zettel seines venezianischen Gondelführers und den jämmerlichen Verdienst der
Strohflechterinnen von Fiesole ermittelt. Haushaltungsbudgets waren seine
Spezialität. Von dem Franzosen Le Play, von den Engländern Gregory
King, David Davies, Frederik Morton Eden und den beiden Uoung hatte er
gelernt, daß die Statistik nur dann Wert hat und Leben bekommt, wenn man
mit seinen Augen die Menschen, Zustünde und Tatsachen schaut, die sich unter
den toten Zahlen verbergen. Und er hat die Methode für solche Unter¬
suchungen geschaffen; Haushaltbücher, die Einnahme, Ausgabe, Zugang und
Abgang im Inventar enthalten sollen, empfiehlt er nach den Grundsätzen der
italienischen Buchführung einzurichten. Er zeigt in methodologischen Ab¬
handlungen, wie schwierig selbst bei der besten Methode die richtige ziffer¬
mäßige Erfassung der verschiednen wirtschaftlichen Operationen und Werte, ja
daß mit bloß ziffermäßiger Abschätzung überhaupt nicht auszukommen ist. In
welchem Konto sollen Neuanschaffungen gebucht, und mit welchen Zahlen¬
werten sollen gebrauchte Möbel, Kleider, Geräte eingetragen werden? Ihr
wirklicher Wert für den Besitzer kann sehr hoch sein, weil sie ihm (so zum
Beispiel Bücher einem Schriftsteller) den Brotverdienst ermöglichen, als


<Lin Lesebuch der Sozialstatistik

Stelle beruhten: Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus, Haushaltungs¬
budgets einer Schwarzwälder Uhrschildmalersamilie und einer armen Näherin,
des Nührikele. Im Eingange der diesem Mädchen gewidmeten Studie schreibt
er: „Große, weite, schöne Welt — wie schmal ist der Ausschnitt, den
Myriaden von dir zu sehen bekommen, und wie genügsam hast du dich, Rikele,
gefreut über jeden schwachen Sonnenblick, den du erhaschtest. Ihr, die ihr
erhobnen Hauptes durch früchtereiche Gärten schreitet, schenkt der Geschichte
einer armen Kreatur Gehör, für die an dem mühsamen Wege, der zu jenem
Friedhöflein leitet, nur karge Beeren gewachsen sind. Nicht das Leben eines
Menschen, das Leben vieler wird erzählt, wenn immer wir uns in die Ge¬
schichte eines einzigen ernstlich vertiefen." Und er schließt: „Alle eigne An¬
strengung, alle kleinen Glücksfälle, all jene eiserne Sparsamkeit, die sich keinen
Moment vergißt, all jene List, mit der der Arme das Leben um die An¬
forderungen, die es stellt, zu betrügen, mit der er auf tausend Schleichwegen
um sie herumzukommen sucht, sie alle hatten nicht ausgereicht, Rikele bei den
allerbescheidensten Ansprüchen ein sorgenfreies Alter zu sichern." Mag es
natürlicher Heller Verstand, mag es der bildende Einfluß des gelehrten Pro¬
fessors gewesen sein — Rikele macht manchmal eine gute nationalökonomische
Bemerkung; so sagt sie mit Beziehung darauf, daß der Staat und die Eisen¬
bahngesellschaften auch arme Leute befördern: „früher haben die Bettelleut
Herren geführt (gefahren), jetzt führen (fahren) die Herren Bettelleut." Auch
Schnappers Reisefeuilletons berichten nicht über Kunstschätze und Hotelpreise,
sondern über die Lage armer Leute. Er hat solche in ihren Kammern,
Kellern und Höhlen, in den sizilianischen Schwefelgruben, in den Massen¬
nachtlagern von Tunis aufgesucht, das ärmliche Inventar und den Küchen¬
zettel seines venezianischen Gondelführers und den jämmerlichen Verdienst der
Strohflechterinnen von Fiesole ermittelt. Haushaltungsbudgets waren seine
Spezialität. Von dem Franzosen Le Play, von den Engländern Gregory
King, David Davies, Frederik Morton Eden und den beiden Uoung hatte er
gelernt, daß die Statistik nur dann Wert hat und Leben bekommt, wenn man
mit seinen Augen die Menschen, Zustünde und Tatsachen schaut, die sich unter
den toten Zahlen verbergen. Und er hat die Methode für solche Unter¬
suchungen geschaffen; Haushaltbücher, die Einnahme, Ausgabe, Zugang und
Abgang im Inventar enthalten sollen, empfiehlt er nach den Grundsätzen der
italienischen Buchführung einzurichten. Er zeigt in methodologischen Ab¬
handlungen, wie schwierig selbst bei der besten Methode die richtige ziffer¬
mäßige Erfassung der verschiednen wirtschaftlichen Operationen und Werte, ja
daß mit bloß ziffermäßiger Abschätzung überhaupt nicht auszukommen ist. In
welchem Konto sollen Neuanschaffungen gebucht, und mit welchen Zahlen¬
werten sollen gebrauchte Möbel, Kleider, Geräte eingetragen werden? Ihr
wirklicher Wert für den Besitzer kann sehr hoch sein, weil sie ihm (so zum
Beispiel Bücher einem Schriftsteller) den Brotverdienst ermöglichen, als


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[0345] <Lin Lesebuch der Sozialstatistik Stelle beruhten: Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus, Haushaltungs¬ budgets einer Schwarzwälder Uhrschildmalersamilie und einer armen Näherin, des Nührikele. Im Eingange der diesem Mädchen gewidmeten Studie schreibt er: „Große, weite, schöne Welt — wie schmal ist der Ausschnitt, den Myriaden von dir zu sehen bekommen, und wie genügsam hast du dich, Rikele, gefreut über jeden schwachen Sonnenblick, den du erhaschtest. Ihr, die ihr erhobnen Hauptes durch früchtereiche Gärten schreitet, schenkt der Geschichte einer armen Kreatur Gehör, für die an dem mühsamen Wege, der zu jenem Friedhöflein leitet, nur karge Beeren gewachsen sind. Nicht das Leben eines Menschen, das Leben vieler wird erzählt, wenn immer wir uns in die Ge¬ schichte eines einzigen ernstlich vertiefen." Und er schließt: „Alle eigne An¬ strengung, alle kleinen Glücksfälle, all jene eiserne Sparsamkeit, die sich keinen Moment vergißt, all jene List, mit der der Arme das Leben um die An¬ forderungen, die es stellt, zu betrügen, mit der er auf tausend Schleichwegen um sie herumzukommen sucht, sie alle hatten nicht ausgereicht, Rikele bei den allerbescheidensten Ansprüchen ein sorgenfreies Alter zu sichern." Mag es natürlicher Heller Verstand, mag es der bildende Einfluß des gelehrten Pro¬ fessors gewesen sein — Rikele macht manchmal eine gute nationalökonomische Bemerkung; so sagt sie mit Beziehung darauf, daß der Staat und die Eisen¬ bahngesellschaften auch arme Leute befördern: „früher haben die Bettelleut Herren geführt (gefahren), jetzt führen (fahren) die Herren Bettelleut." Auch Schnappers Reisefeuilletons berichten nicht über Kunstschätze und Hotelpreise, sondern über die Lage armer Leute. Er hat solche in ihren Kammern, Kellern und Höhlen, in den sizilianischen Schwefelgruben, in den Massen¬ nachtlagern von Tunis aufgesucht, das ärmliche Inventar und den Küchen¬ zettel seines venezianischen Gondelführers und den jämmerlichen Verdienst der Strohflechterinnen von Fiesole ermittelt. Haushaltungsbudgets waren seine Spezialität. Von dem Franzosen Le Play, von den Engländern Gregory King, David Davies, Frederik Morton Eden und den beiden Uoung hatte er gelernt, daß die Statistik nur dann Wert hat und Leben bekommt, wenn man mit seinen Augen die Menschen, Zustünde und Tatsachen schaut, die sich unter den toten Zahlen verbergen. Und er hat die Methode für solche Unter¬ suchungen geschaffen; Haushaltbücher, die Einnahme, Ausgabe, Zugang und Abgang im Inventar enthalten sollen, empfiehlt er nach den Grundsätzen der italienischen Buchführung einzurichten. Er zeigt in methodologischen Ab¬ handlungen, wie schwierig selbst bei der besten Methode die richtige ziffer¬ mäßige Erfassung der verschiednen wirtschaftlichen Operationen und Werte, ja daß mit bloß ziffermäßiger Abschätzung überhaupt nicht auszukommen ist. In welchem Konto sollen Neuanschaffungen gebucht, und mit welchen Zahlen¬ werten sollen gebrauchte Möbel, Kleider, Geräte eingetragen werden? Ihr wirklicher Wert für den Besitzer kann sehr hoch sein, weil sie ihm (so zum Beispiel Bücher einem Schriftsteller) den Brotverdienst ermöglichen, als

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/345>, abgerufen am 03.07.2024.