Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.Karl Schurz Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, alles von der Zunächst galt es für ihn, der trotz lungern Aufenthalt in London noch Karl Schurz Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, alles von der Zunächst galt es für ihn, der trotz lungern Aufenthalt in London noch <TEI> <text> <body> <div> <div n="1"> <pb facs="#f0296" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312647"/> <fw type="header" place="top"> Karl Schurz</fw><lb/> <p xml:id="ID_1121" prev="#ID_1120"> Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, alles von der<lb/> günstigsten Seite zu betrachten und mich von keiner Enttäuschung entmutigen<lb/> zu lassen". Solche blieben freilich nicht ans, denn er hatte noch nie eine<lb/> Demokratie im vollen Betriebe gesehn, sondern nur in einer Welt der Theorien<lb/> und Einbildungen darüber gelebt.</p><lb/> <p xml:id="ID_1122"> Zunächst galt es für ihn, der trotz lungern Aufenthalt in London noch<lb/> nicht englisch gelernt hatte, sich in der fremdartigen Umgebung die Landessprache<lb/> anzueignen. Es gelang ihm hauptsächlich durch gewissenhaftes Studium, Über¬<lb/> setzen und wiederholtes Rückübersetzen von amerikanischen Zeitungen und Werken<lb/> in englischer Sprache. Ein dreijähriger Aufenthalt in Philadelphia galt dem<lb/> eifrigen Bemühen, Einsicht in die politischen Verhältnisse zu gewinnen, er sah<lb/> sich mächtig angeregt von den vielfachen Widersprüchen des amerikanischen<lb/> Lebens. Seine Zweifel hat er damals in einem schon früher bekannt ge-<lb/> wordnen Briefe an seine Freundin Malwida v. Meysenbug ausgedrückt. „Ist<lb/> denn dieses Volk wirklich frei? Ist dies die Verwirklichung meines Ideals?"<lb/> Er kam zu dem Schlüsse, daß er „in keinem idealen Staate lebe, einfach des¬<lb/> wegen nicht, weil die Kräfte des Schlechten wie die des Guten freies Feld<lb/> hätten". Im Frühjahr 1854 ging er zum Studium der politischen Lage nach<lb/> Washington, erhielt aber durch die Vorläufer des Parteikampfes um die<lb/> Sklavereifrage — es handelte sich um die sogenannte „Nebraskabill" des<lb/> Senators Douglas, des Gegners Lincolns — nichts weniger als erhebende<lb/> Eindrücke. Eine „erschreckende Enthüllung" brachte ihm „der erste Blick in<lb/> die Tiefen der großen amerikanischen Regierungsinstitution, die man mit dem<lb/> Namen Beutepolitik" bezeichnet. „Ich mußte an das preußische Beamtentum<lb/> denken, das immer den Ruf strengster offizieller Ehrlichkeit genossen hat, und<lb/> war entsetzt." Er wurde dadurch „auf der Stelle, allerdings mir selbst unbe¬<lb/> wußt, ein Zivildienstreformer". Nach Lincolns Wahl mußte er freilich zugeben,<lb/> daß der vollständige Beamtenwechsel mit dem Siege des neuen Grundsatzes<lb/> der Aufhebung der Sklaverei notwendig war, die „Beutepolitik" demnach in<lb/> der demokratischen Grundlage der Republik begründet ist, wobei Wähler und<lb/> Parteien durchaus nicht immer unterscheiden, ob es sich um große politische<lb/> und sittliche Grundsätze bei den Wahlentscheidungen handelt. Die „Bente"<lb/> bleibt eben in jedem Falle die gleiche und ist schließlich zur Hauptsache ge¬<lb/> worden. Mehr gefielen ihm die Verhältnisse im damaligen Westen. „Hier<lb/> fynd ich mehr als anderswo das Amerika, das ich in meinen Träumen gesehn<lb/> hatte: in einem neuen Lande eine neue Gesellschaft, gänzlich ungefesselt von<lb/> irgendwelchen Traditionen der Vergangenheit; ein neues Volk aus freier<lb/> Mischung der kräftigen Elemente aller Nationen hervorgegangen, das nicht<lb/> Altengland allein, sondern die ganze Welt zum Mutterlande hatte, mit fast<lb/> unbegrenzten Möglichkeiten, die allen offen standen, und mit den gleichen<lb/> Rechten, die ihnen durch die freien Institutionen der Negierung gesichert<lb/> wurden."</p><lb/> </div> </div> </body> </text> </TEI> [0296]
Karl Schurz
Vereinigten Staaten zu meiner bleibenden Heimat zu machen, alles von der
günstigsten Seite zu betrachten und mich von keiner Enttäuschung entmutigen
zu lassen". Solche blieben freilich nicht ans, denn er hatte noch nie eine
Demokratie im vollen Betriebe gesehn, sondern nur in einer Welt der Theorien
und Einbildungen darüber gelebt.
Zunächst galt es für ihn, der trotz lungern Aufenthalt in London noch
nicht englisch gelernt hatte, sich in der fremdartigen Umgebung die Landessprache
anzueignen. Es gelang ihm hauptsächlich durch gewissenhaftes Studium, Über¬
setzen und wiederholtes Rückübersetzen von amerikanischen Zeitungen und Werken
in englischer Sprache. Ein dreijähriger Aufenthalt in Philadelphia galt dem
eifrigen Bemühen, Einsicht in die politischen Verhältnisse zu gewinnen, er sah
sich mächtig angeregt von den vielfachen Widersprüchen des amerikanischen
Lebens. Seine Zweifel hat er damals in einem schon früher bekannt ge-
wordnen Briefe an seine Freundin Malwida v. Meysenbug ausgedrückt. „Ist
denn dieses Volk wirklich frei? Ist dies die Verwirklichung meines Ideals?"
Er kam zu dem Schlüsse, daß er „in keinem idealen Staate lebe, einfach des¬
wegen nicht, weil die Kräfte des Schlechten wie die des Guten freies Feld
hätten". Im Frühjahr 1854 ging er zum Studium der politischen Lage nach
Washington, erhielt aber durch die Vorläufer des Parteikampfes um die
Sklavereifrage — es handelte sich um die sogenannte „Nebraskabill" des
Senators Douglas, des Gegners Lincolns — nichts weniger als erhebende
Eindrücke. Eine „erschreckende Enthüllung" brachte ihm „der erste Blick in
die Tiefen der großen amerikanischen Regierungsinstitution, die man mit dem
Namen Beutepolitik" bezeichnet. „Ich mußte an das preußische Beamtentum
denken, das immer den Ruf strengster offizieller Ehrlichkeit genossen hat, und
war entsetzt." Er wurde dadurch „auf der Stelle, allerdings mir selbst unbe¬
wußt, ein Zivildienstreformer". Nach Lincolns Wahl mußte er freilich zugeben,
daß der vollständige Beamtenwechsel mit dem Siege des neuen Grundsatzes
der Aufhebung der Sklaverei notwendig war, die „Beutepolitik" demnach in
der demokratischen Grundlage der Republik begründet ist, wobei Wähler und
Parteien durchaus nicht immer unterscheiden, ob es sich um große politische
und sittliche Grundsätze bei den Wahlentscheidungen handelt. Die „Bente"
bleibt eben in jedem Falle die gleiche und ist schließlich zur Hauptsache ge¬
worden. Mehr gefielen ihm die Verhältnisse im damaligen Westen. „Hier
fynd ich mehr als anderswo das Amerika, das ich in meinen Träumen gesehn
hatte: in einem neuen Lande eine neue Gesellschaft, gänzlich ungefesselt von
irgendwelchen Traditionen der Vergangenheit; ein neues Volk aus freier
Mischung der kräftigen Elemente aller Nationen hervorgegangen, das nicht
Altengland allein, sondern die ganze Welt zum Mutterlande hatte, mit fast
unbegrenzten Möglichkeiten, die allen offen standen, und mit den gleichen
Rechten, die ihnen durch die freien Institutionen der Negierung gesichert
wurden."
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