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Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr.

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Literarische Rundschau

hier einfache und trotzdem oft überraschende Vorgänge des Lebens betrachten
lehrt. Was Licht, Farbe, Bewegung, Reflexe bedeuten, wird hier an Bei¬
spielen von der Straße, aus der Natur gezeichnet. Die Analyse zufällig be¬
obachteter kindlicher Spiele, harmloser Vorgänge von unbeabsichtigter Licht¬
wirkung ist schlechthin meisterhaft, wundervoll die Darstellung kleiner Bilder
aus der Natur, eines gegen die Sonne gestellten Mädchenkopfes, eines Busches
von Rhododendren im Schatten großer Bäume. Das stolze deutsche Be¬
wußtsein, das die dann folgenden Betrachtungen über deutsche Kunst im be¬
sondern durchzieht, gibt ihnen den feinsten Reiz, der am längsten nachwirkt;
nur daß wir freilich das, was das eigentlich Deutsche, die letzte deutsche Note
in unsrer Kunst ist, am Ende selbst aus so beredter Auseinandersetzung nicht
lernen, sondern nur von den Werken selbst.

Da wüßte ich keines, das uns diesen Charakter so unbeirrt vermittelte
wie der biographische Roman "Leben und Lüge" von Detlev von Liliencron
(Berlin, Schuster Löffler). Ein überaus seltsames Buch und doch, oder
vielmehr gerade deswegen, durchaus in der Linie Liliencronscher Poesie, eine
Art Abschluß in Prosa, wie das Epos "Poggfred" ein solcher in Versen ist.
Gleich im Beginn dieses Epos fragt Liliencron einmal:

Und dasselbe könnte er an den Beginn dieses Romanbuches schreiben. Er
erzählt die Geschichte eines jungen preußischen Aristokraten, der als Sohn
eines Generals in einer kleinen preußischen Festung an der Westgrenze zur
Welt kommt und später der Erbe des letzten, unermeßlich reichen Gliedes aus
der dänischen Linie seines Hauses wird. Diese Genesis ist sehr fein gewählt;
sie gibt dem jungen Offizier, der die Feldzüge von 1866 und 1870 ankämpft,
von vornherein etwas fremdartiges, das ihn von seiner Umgebung abhebt,
und diese Fremdartigkeit wird noch gesteigert durch die entfernte Herkunft von
südfranzösischen Troubadouren, die dem jungen Kai von Vorbrüggen unbewußt
im Blut spukt, und durch seinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem
Gestirn des Aldebaran. Und so verflechten sich nun in den Lebenslauf dieses
Junkers stillfrohe Schuljahre in Kiel und auf dem Lande bei Hamburg (er¬
freulicherweise ohne das ewige Gestöhne über die Pedanterie unsrer Gymnasien),
Leutnantsjahre in Mainz und während der polnischen Aufstandsgefahr in
Posen, zwei Abschnitte militärischen Lebens, die eine wundervolle Nachtszene,
der Vorbeimarsch des Bataillons auf der Durchreise im Winter beim alten
König Wilhelm vorüber, verbindet. Dann die Zeit des Besitzes auf der
Herrschaft Tangbüttel nach dem Tode des letzten dänischen Vorbrüggen, Welt¬
reisen, ein kurzes, jäh abbrechendes Liebesglück und schließlich eine stille, innige,
tief befriedigte, kindergesegnete Ehe. Und der zum Landsassen gewordne Offizier,
dessen Kriegstagebücher uns mit unerreichter Lebhaftigkeit Graus und Glanz


Literarische Rundschau

hier einfache und trotzdem oft überraschende Vorgänge des Lebens betrachten
lehrt. Was Licht, Farbe, Bewegung, Reflexe bedeuten, wird hier an Bei¬
spielen von der Straße, aus der Natur gezeichnet. Die Analyse zufällig be¬
obachteter kindlicher Spiele, harmloser Vorgänge von unbeabsichtigter Licht¬
wirkung ist schlechthin meisterhaft, wundervoll die Darstellung kleiner Bilder
aus der Natur, eines gegen die Sonne gestellten Mädchenkopfes, eines Busches
von Rhododendren im Schatten großer Bäume. Das stolze deutsche Be¬
wußtsein, das die dann folgenden Betrachtungen über deutsche Kunst im be¬
sondern durchzieht, gibt ihnen den feinsten Reiz, der am längsten nachwirkt;
nur daß wir freilich das, was das eigentlich Deutsche, die letzte deutsche Note
in unsrer Kunst ist, am Ende selbst aus so beredter Auseinandersetzung nicht
lernen, sondern nur von den Werken selbst.

Da wüßte ich keines, das uns diesen Charakter so unbeirrt vermittelte
wie der biographische Roman „Leben und Lüge" von Detlev von Liliencron
(Berlin, Schuster Löffler). Ein überaus seltsames Buch und doch, oder
vielmehr gerade deswegen, durchaus in der Linie Liliencronscher Poesie, eine
Art Abschluß in Prosa, wie das Epos „Poggfred" ein solcher in Versen ist.
Gleich im Beginn dieses Epos fragt Liliencron einmal:

Und dasselbe könnte er an den Beginn dieses Romanbuches schreiben. Er
erzählt die Geschichte eines jungen preußischen Aristokraten, der als Sohn
eines Generals in einer kleinen preußischen Festung an der Westgrenze zur
Welt kommt und später der Erbe des letzten, unermeßlich reichen Gliedes aus
der dänischen Linie seines Hauses wird. Diese Genesis ist sehr fein gewählt;
sie gibt dem jungen Offizier, der die Feldzüge von 1866 und 1870 ankämpft,
von vornherein etwas fremdartiges, das ihn von seiner Umgebung abhebt,
und diese Fremdartigkeit wird noch gesteigert durch die entfernte Herkunft von
südfranzösischen Troubadouren, die dem jungen Kai von Vorbrüggen unbewußt
im Blut spukt, und durch seinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem
Gestirn des Aldebaran. Und so verflechten sich nun in den Lebenslauf dieses
Junkers stillfrohe Schuljahre in Kiel und auf dem Lande bei Hamburg (er¬
freulicherweise ohne das ewige Gestöhne über die Pedanterie unsrer Gymnasien),
Leutnantsjahre in Mainz und während der polnischen Aufstandsgefahr in
Posen, zwei Abschnitte militärischen Lebens, die eine wundervolle Nachtszene,
der Vorbeimarsch des Bataillons auf der Durchreise im Winter beim alten
König Wilhelm vorüber, verbindet. Dann die Zeit des Besitzes auf der
Herrschaft Tangbüttel nach dem Tode des letzten dänischen Vorbrüggen, Welt¬
reisen, ein kurzes, jäh abbrechendes Liebesglück und schließlich eine stille, innige,
tief befriedigte, kindergesegnete Ehe. Und der zum Landsassen gewordne Offizier,
dessen Kriegstagebücher uns mit unerreichter Lebhaftigkeit Graus und Glanz


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[0195] Literarische Rundschau hier einfache und trotzdem oft überraschende Vorgänge des Lebens betrachten lehrt. Was Licht, Farbe, Bewegung, Reflexe bedeuten, wird hier an Bei¬ spielen von der Straße, aus der Natur gezeichnet. Die Analyse zufällig be¬ obachteter kindlicher Spiele, harmloser Vorgänge von unbeabsichtigter Licht¬ wirkung ist schlechthin meisterhaft, wundervoll die Darstellung kleiner Bilder aus der Natur, eines gegen die Sonne gestellten Mädchenkopfes, eines Busches von Rhododendren im Schatten großer Bäume. Das stolze deutsche Be¬ wußtsein, das die dann folgenden Betrachtungen über deutsche Kunst im be¬ sondern durchzieht, gibt ihnen den feinsten Reiz, der am längsten nachwirkt; nur daß wir freilich das, was das eigentlich Deutsche, die letzte deutsche Note in unsrer Kunst ist, am Ende selbst aus so beredter Auseinandersetzung nicht lernen, sondern nur von den Werken selbst. Da wüßte ich keines, das uns diesen Charakter so unbeirrt vermittelte wie der biographische Roman „Leben und Lüge" von Detlev von Liliencron (Berlin, Schuster Löffler). Ein überaus seltsames Buch und doch, oder vielmehr gerade deswegen, durchaus in der Linie Liliencronscher Poesie, eine Art Abschluß in Prosa, wie das Epos „Poggfred" ein solcher in Versen ist. Gleich im Beginn dieses Epos fragt Liliencron einmal: Und dasselbe könnte er an den Beginn dieses Romanbuches schreiben. Er erzählt die Geschichte eines jungen preußischen Aristokraten, der als Sohn eines Generals in einer kleinen preußischen Festung an der Westgrenze zur Welt kommt und später der Erbe des letzten, unermeßlich reichen Gliedes aus der dänischen Linie seines Hauses wird. Diese Genesis ist sehr fein gewählt; sie gibt dem jungen Offizier, der die Feldzüge von 1866 und 1870 ankämpft, von vornherein etwas fremdartiges, das ihn von seiner Umgebung abhebt, und diese Fremdartigkeit wird noch gesteigert durch die entfernte Herkunft von südfranzösischen Troubadouren, die dem jungen Kai von Vorbrüggen unbewußt im Blut spukt, und durch seinen geheimnisvollen Zusammenhang mit dem Gestirn des Aldebaran. Und so verflechten sich nun in den Lebenslauf dieses Junkers stillfrohe Schuljahre in Kiel und auf dem Lande bei Hamburg (er¬ freulicherweise ohne das ewige Gestöhne über die Pedanterie unsrer Gymnasien), Leutnantsjahre in Mainz und während der polnischen Aufstandsgefahr in Posen, zwei Abschnitte militärischen Lebens, die eine wundervolle Nachtszene, der Vorbeimarsch des Bataillons auf der Durchreise im Winter beim alten König Wilhelm vorüber, verbindet. Dann die Zeit des Besitzes auf der Herrschaft Tangbüttel nach dem Tode des letzten dänischen Vorbrüggen, Welt¬ reisen, ein kurzes, jäh abbrechendes Liebesglück und schließlich eine stille, innige, tief befriedigte, kindergesegnete Ehe. Und der zum Landsassen gewordne Offizier, dessen Kriegstagebücher uns mit unerreichter Lebhaftigkeit Graus und Glanz

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 68, 1909, Erstes Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341889_312350/195>, abgerufen am 23.07.2024.