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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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volksrichtertuin und Selbstverwaltung

Es ist schwer zu sagen, ob die weitere Heranziehung des Laientums zur
Rechtsprechung dieser bei den verwickelten Rechtsverhältnissen unsrer Zeit tat¬
sächlich zum Vorteil gereicht; es ist dabei wohl zu erwägen, daß die voll-
stündig unvorbereitet in die Sitzung kommenden Schöffen durch die mündliche
Verhandlung allein nicht in jedem Falle in den Stoff einzudringen vermögen,
der vielleicht monatelang in den Akten vorbereitet worden ist. Eins steht aber
fest: je mehr das Volk an der Rechtsprechung teilnimmt, um so weniger kann
dann noch von Klassenjustiz gesprochen werden. Die Berufsrichter könnten damit
zufrieden sein; sie werden von der Verantwortung für Fehlsprüche, die in
den Zeitungen jetzt eine gewisse Rolle spielen, zum guten Teil entlastet und
könnten einfach darauf hinweisen, daß das Volk selbst gerichtet hat, daß dessen
Rechtsanschauung zum Ausdruck gekommen ist.

Doch die Ausdehnung des Volksrichtertums hat noch eine andre Seite,
die zu berücksichtigen ist. Anfangs betrachtete man die Beteiligung der Laien
an der Rechtsprechung als eins der Grundrechte, das man sich unter keinen
Umständen verkürzen lassen durfte: es fragt sich, ob eben dieses Recht unter
den heutigen Verhältnissen nicht zu eiuer Pflicht, zu einer drückenden Last zu
werden droht, die man nur ungern erfüllt und mit Widerstreben ans sich
nimmt, mit andern Worten, ob der einzelne herangezogne Mensch wirklich mit
dem stolzen Bewußtsein, ein wohlerworbnes Recht auszuüben, in die Sitzung
geht und gern die Opfer bringt, die damit verbunden sind, um nur dem
Vaterlande dienen zu können. Wenn man den Zcitungschreibern und manchen
Berufsrednern in den Parlamenten glaubt, so muß man annehmen, daß das Volk
förmlich danach lechzt, sich an der Rechtsprechung zu betätigen, und daß es mit
Freuden alle Unbequemlichkeiten auf sich nimmt. Wer aber genauer hinsieht
oder von Berufs wegen damit zu tun hat, wird die Beobachtung machen können,
daß eine große Zahl von Schöffen und Geschwornen ihre Einberufung zu den
Sitzungen als eine unbequeme Last, als eine unangenehme Unterbrechung ihrer
Berufspflichten ansieht. Die kleinern Landwirte und die Handwerker sowie
die Geschäftsleute verlieren nicht gern einen Arbeitstag, der obendrein noch
Kosten verursacht; sie sind froh, wenn ihre Sitzuugstage vorüber sind, und
nicht selten drängen sich die Geschwornen an den Staatsanwalt oder den Ver¬
teidiger in den Schwurgenchtssitzungen heran und bitten um Ablehnung oder
reichen beim Vorsitzenden Gesuche ein, um von der Sitzung befreit zu werden.
Die Berufsfreudigkeit der Volksrichter ist nicht so groß, wie man gemeinhin
glauben machen möchte, und es ist deshalb sehr die Frage, ob sie größer
wird, wenn erst noch mehr von ihnen in den mittlern und großen Schöffen¬
gerichten verlangt wird, wenn die Zahl der Sitzungstage erweitert und die
Zuständigkeit erhöht wird.

Nun hat man zwar, um die Zahl der Schöffen zu heben, auch schon
vorgeschlagen, ihnen Tagegelder zuzubilligen und ans diese Weise die Arbeiter¬
kreise zu beteiligen, aber ob dieses Mittel verfangen wird, ist sehr zweifelhaft:
denn im tiefsten Grunde wollen die meisten Menschen mit dem Gericht über-


volksrichtertuin und Selbstverwaltung

Es ist schwer zu sagen, ob die weitere Heranziehung des Laientums zur
Rechtsprechung dieser bei den verwickelten Rechtsverhältnissen unsrer Zeit tat¬
sächlich zum Vorteil gereicht; es ist dabei wohl zu erwägen, daß die voll-
stündig unvorbereitet in die Sitzung kommenden Schöffen durch die mündliche
Verhandlung allein nicht in jedem Falle in den Stoff einzudringen vermögen,
der vielleicht monatelang in den Akten vorbereitet worden ist. Eins steht aber
fest: je mehr das Volk an der Rechtsprechung teilnimmt, um so weniger kann
dann noch von Klassenjustiz gesprochen werden. Die Berufsrichter könnten damit
zufrieden sein; sie werden von der Verantwortung für Fehlsprüche, die in
den Zeitungen jetzt eine gewisse Rolle spielen, zum guten Teil entlastet und
könnten einfach darauf hinweisen, daß das Volk selbst gerichtet hat, daß dessen
Rechtsanschauung zum Ausdruck gekommen ist.

Doch die Ausdehnung des Volksrichtertums hat noch eine andre Seite,
die zu berücksichtigen ist. Anfangs betrachtete man die Beteiligung der Laien
an der Rechtsprechung als eins der Grundrechte, das man sich unter keinen
Umständen verkürzen lassen durfte: es fragt sich, ob eben dieses Recht unter
den heutigen Verhältnissen nicht zu eiuer Pflicht, zu einer drückenden Last zu
werden droht, die man nur ungern erfüllt und mit Widerstreben ans sich
nimmt, mit andern Worten, ob der einzelne herangezogne Mensch wirklich mit
dem stolzen Bewußtsein, ein wohlerworbnes Recht auszuüben, in die Sitzung
geht und gern die Opfer bringt, die damit verbunden sind, um nur dem
Vaterlande dienen zu können. Wenn man den Zcitungschreibern und manchen
Berufsrednern in den Parlamenten glaubt, so muß man annehmen, daß das Volk
förmlich danach lechzt, sich an der Rechtsprechung zu betätigen, und daß es mit
Freuden alle Unbequemlichkeiten auf sich nimmt. Wer aber genauer hinsieht
oder von Berufs wegen damit zu tun hat, wird die Beobachtung machen können,
daß eine große Zahl von Schöffen und Geschwornen ihre Einberufung zu den
Sitzungen als eine unbequeme Last, als eine unangenehme Unterbrechung ihrer
Berufspflichten ansieht. Die kleinern Landwirte und die Handwerker sowie
die Geschäftsleute verlieren nicht gern einen Arbeitstag, der obendrein noch
Kosten verursacht; sie sind froh, wenn ihre Sitzuugstage vorüber sind, und
nicht selten drängen sich die Geschwornen an den Staatsanwalt oder den Ver¬
teidiger in den Schwurgenchtssitzungen heran und bitten um Ablehnung oder
reichen beim Vorsitzenden Gesuche ein, um von der Sitzung befreit zu werden.
Die Berufsfreudigkeit der Volksrichter ist nicht so groß, wie man gemeinhin
glauben machen möchte, und es ist deshalb sehr die Frage, ob sie größer
wird, wenn erst noch mehr von ihnen in den mittlern und großen Schöffen¬
gerichten verlangt wird, wenn die Zahl der Sitzungstage erweitert und die
Zuständigkeit erhöht wird.

Nun hat man zwar, um die Zahl der Schöffen zu heben, auch schon
vorgeschlagen, ihnen Tagegelder zuzubilligen und ans diese Weise die Arbeiter¬
kreise zu beteiligen, aber ob dieses Mittel verfangen wird, ist sehr zweifelhaft:
denn im tiefsten Grunde wollen die meisten Menschen mit dem Gericht über-


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[0514] volksrichtertuin und Selbstverwaltung Es ist schwer zu sagen, ob die weitere Heranziehung des Laientums zur Rechtsprechung dieser bei den verwickelten Rechtsverhältnissen unsrer Zeit tat¬ sächlich zum Vorteil gereicht; es ist dabei wohl zu erwägen, daß die voll- stündig unvorbereitet in die Sitzung kommenden Schöffen durch die mündliche Verhandlung allein nicht in jedem Falle in den Stoff einzudringen vermögen, der vielleicht monatelang in den Akten vorbereitet worden ist. Eins steht aber fest: je mehr das Volk an der Rechtsprechung teilnimmt, um so weniger kann dann noch von Klassenjustiz gesprochen werden. Die Berufsrichter könnten damit zufrieden sein; sie werden von der Verantwortung für Fehlsprüche, die in den Zeitungen jetzt eine gewisse Rolle spielen, zum guten Teil entlastet und könnten einfach darauf hinweisen, daß das Volk selbst gerichtet hat, daß dessen Rechtsanschauung zum Ausdruck gekommen ist. Doch die Ausdehnung des Volksrichtertums hat noch eine andre Seite, die zu berücksichtigen ist. Anfangs betrachtete man die Beteiligung der Laien an der Rechtsprechung als eins der Grundrechte, das man sich unter keinen Umständen verkürzen lassen durfte: es fragt sich, ob eben dieses Recht unter den heutigen Verhältnissen nicht zu eiuer Pflicht, zu einer drückenden Last zu werden droht, die man nur ungern erfüllt und mit Widerstreben ans sich nimmt, mit andern Worten, ob der einzelne herangezogne Mensch wirklich mit dem stolzen Bewußtsein, ein wohlerworbnes Recht auszuüben, in die Sitzung geht und gern die Opfer bringt, die damit verbunden sind, um nur dem Vaterlande dienen zu können. Wenn man den Zcitungschreibern und manchen Berufsrednern in den Parlamenten glaubt, so muß man annehmen, daß das Volk förmlich danach lechzt, sich an der Rechtsprechung zu betätigen, und daß es mit Freuden alle Unbequemlichkeiten auf sich nimmt. Wer aber genauer hinsieht oder von Berufs wegen damit zu tun hat, wird die Beobachtung machen können, daß eine große Zahl von Schöffen und Geschwornen ihre Einberufung zu den Sitzungen als eine unbequeme Last, als eine unangenehme Unterbrechung ihrer Berufspflichten ansieht. Die kleinern Landwirte und die Handwerker sowie die Geschäftsleute verlieren nicht gern einen Arbeitstag, der obendrein noch Kosten verursacht; sie sind froh, wenn ihre Sitzuugstage vorüber sind, und nicht selten drängen sich die Geschwornen an den Staatsanwalt oder den Ver¬ teidiger in den Schwurgenchtssitzungen heran und bitten um Ablehnung oder reichen beim Vorsitzenden Gesuche ein, um von der Sitzung befreit zu werden. Die Berufsfreudigkeit der Volksrichter ist nicht so groß, wie man gemeinhin glauben machen möchte, und es ist deshalb sehr die Frage, ob sie größer wird, wenn erst noch mehr von ihnen in den mittlern und großen Schöffen¬ gerichten verlangt wird, wenn die Zahl der Sitzungstage erweitert und die Zuständigkeit erhöht wird. Nun hat man zwar, um die Zahl der Schöffen zu heben, auch schon vorgeschlagen, ihnen Tagegelder zuzubilligen und ans diese Weise die Arbeiter¬ kreise zu beteiligen, aber ob dieses Mittel verfangen wird, ist sehr zweifelhaft: denn im tiefsten Grunde wollen die meisten Menschen mit dem Gericht über-

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/514>, abgerufen am 24.07.2024.