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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Maßgebliches und Unmaßgebliches

hat Philosophien geschaffen, ein Reich des Geistes und der Idee -- und die tiefsten
Dinge sind stets deshalb gesagt worden, weil ein allgemeinstes intuitio geahnt, aus
dem einzelnen nicht entwickelt, sondern in ihm wiedergefunden wurde.

Dieser Vorzug, der auf philosophischem Gebiete die Größe des deutschen
Denkens schafft, wird wie jeder Vorzug, in anderm Zusammenhang, zur empfind¬
lichen Schwäche. Der Wirklichkeit gegenüber bedeutet diese Denkweise Herrschaft
der Theorie und der Formel, das heißt Ungerechtigkeit und Gewalt. Noch ehe wir
einen Menschen richtig kennen, haben wir die Formel, die sein Wesen erklärt. Diese
Formel verhärtet sich dann gleichsam, ohne mit genauerer Erfahrung bereichert oder
verändert zu werden -- weil für diese Art des Denkens die Aufgabe gelöst ist,
wenn die feste begriffliche Formel gefunden und alles Spätere unbewußt ignoriert
wird. Es liegt darin wohl der geheime Grund, warum die deutsche Nation andern,
insbesondre den Franzosen in der Feinheit der Psychologie, zumal der Frauen, die
ja zumeist begrifflich nicht meßbare widerspruchsvolle Wesen sind, so sehr nach¬
stehen wie in keiner andern Aufgabe des Denkens. Der deutsche Schriftsteller
liebt die Einfachheit der Charaktere ebenso wie der französische ihre verwickelte Un-
meßbarkeit, ihre geheimen Risse, ihre unfaßlichen Rätsel -- die verlockendste, weil
schwerste Aufgabe einer jahrhundertealten ererbten und stets verfeinerten psycho¬
logischen Kultur. Der Franzose liebt das Irrationale, vor dem sich der Deutsche
angstvoll in den Begriff rettet. Ein Deutscher liebt sein Wirtshaus rechteckig, und
die Säulen, die die Decke etwa stützen, sollen in der Mitte stehn. Wer französische
Cafes, ganz gleich ob in Paris oder in der Provinz, sieht, erschrickt darüber, wie
peinlich und krampfhaft dort jede Symmetrie vermieden und unwahrscheinliche Poly¬
gone unwahrscheinlich eingeteilt sind. Das Wesen des Menschen aber ist irrational,
und wer das Geometrische liebt, wird stets ein schlechter Psychologe bleiben. Eine
Schilderung, wie sie z. B. Balzac in seiner Histoirs ckss trsiss auf zwei Seiten
von dem Charakter der OuoKssss Ah I^s-nAlais entwirft, wird ein deutscher Schrift¬
steller niemals schreiben, ein deutscher Leser zumeist nicht ganz genießen können.

Das alles ist natürlich nur im Durchschnitt wahr, wie das meiste, was von
Gesellschaften, Völkern, Rassen gesagt wird. Wir haben jeden Tag Gelegenheit,
Belege zu beobachten. Wie werden Persönlichkeiten, die die Augen auf sich ziehen,
beurteilt! Man begegnet Formeln, nicht aber Charakteren. Man braucht nur nach¬
zuprüfen, was zum Beispiel über den Kaiser gesagt wird. Eines der treffendsten
Beispiele ist noch in aller Gedächtnis. Irgend jemand hatte erzählt, der Reichskanzler
hätte gesagt: "Nur keine innern Krisen." Das Wort wurde aufgegriffen, wurde
zum Programm, zur Formel, zur Charakterschilderung. Der Reichskanzler hat das
Wort niemals ausgesprochen, wie er selbst im Reichstag erklärt hat. Es wurde
lediglich geglaubt, weil es eine bequeme Formel war und bleibt, als bequeme Formel,
auch noch im Gedächtnis, nachdem die Reichstagsauflösung eindringlich genug gezeigt
hat, daß Formel und Wirklichkeit nichts miteinander gemein haben.

Ja es scheint sogar, als hätte diese Formel unter Deutschen ein so zähes Lebe",
daß das Urteil, das sie enthält, aus der innern Politik Vertrieben, sich nun in die
auswärtige rette, um dort seine Haltung zu behaupten, bis auch da einmal der
rechte Augenblick kommt, uno ein Staatsmann, dessen Werkzeug nicht die an keine
Zeit gebundne Idee, sondern die Situation ist, zeigen kann, daß die Hand, die
den Handschuh trügt, auch den Degen führen kann.

Es ist nnr eine andre Form derselben Erscheinung, der Liebe zur formelhaften
Charakterisierung, wenn wir so oft, am deutlichsten bei Gerichtsverhandlungen, jedes
einmal oft vor langen Jahren und in dieser oder jener Situation gesprochne Wort als
verbindliches Programm wiederkehren sehen. Der Deutsche spricht und hört Pro¬
gramme. Seine Worte sind nicht leichtbeflugelt, Irrlichter, Sterne, die nur für ein
paar Momente flimmern, sondern Programme, schwer und langlebig. Die deutschen


Maßgebliches und Unmaßgebliches

hat Philosophien geschaffen, ein Reich des Geistes und der Idee — und die tiefsten
Dinge sind stets deshalb gesagt worden, weil ein allgemeinstes intuitio geahnt, aus
dem einzelnen nicht entwickelt, sondern in ihm wiedergefunden wurde.

Dieser Vorzug, der auf philosophischem Gebiete die Größe des deutschen
Denkens schafft, wird wie jeder Vorzug, in anderm Zusammenhang, zur empfind¬
lichen Schwäche. Der Wirklichkeit gegenüber bedeutet diese Denkweise Herrschaft
der Theorie und der Formel, das heißt Ungerechtigkeit und Gewalt. Noch ehe wir
einen Menschen richtig kennen, haben wir die Formel, die sein Wesen erklärt. Diese
Formel verhärtet sich dann gleichsam, ohne mit genauerer Erfahrung bereichert oder
verändert zu werden — weil für diese Art des Denkens die Aufgabe gelöst ist,
wenn die feste begriffliche Formel gefunden und alles Spätere unbewußt ignoriert
wird. Es liegt darin wohl der geheime Grund, warum die deutsche Nation andern,
insbesondre den Franzosen in der Feinheit der Psychologie, zumal der Frauen, die
ja zumeist begrifflich nicht meßbare widerspruchsvolle Wesen sind, so sehr nach¬
stehen wie in keiner andern Aufgabe des Denkens. Der deutsche Schriftsteller
liebt die Einfachheit der Charaktere ebenso wie der französische ihre verwickelte Un-
meßbarkeit, ihre geheimen Risse, ihre unfaßlichen Rätsel — die verlockendste, weil
schwerste Aufgabe einer jahrhundertealten ererbten und stets verfeinerten psycho¬
logischen Kultur. Der Franzose liebt das Irrationale, vor dem sich der Deutsche
angstvoll in den Begriff rettet. Ein Deutscher liebt sein Wirtshaus rechteckig, und
die Säulen, die die Decke etwa stützen, sollen in der Mitte stehn. Wer französische
Cafes, ganz gleich ob in Paris oder in der Provinz, sieht, erschrickt darüber, wie
peinlich und krampfhaft dort jede Symmetrie vermieden und unwahrscheinliche Poly¬
gone unwahrscheinlich eingeteilt sind. Das Wesen des Menschen aber ist irrational,
und wer das Geometrische liebt, wird stets ein schlechter Psychologe bleiben. Eine
Schilderung, wie sie z. B. Balzac in seiner Histoirs ckss trsiss auf zwei Seiten
von dem Charakter der OuoKssss Ah I^s-nAlais entwirft, wird ein deutscher Schrift¬
steller niemals schreiben, ein deutscher Leser zumeist nicht ganz genießen können.

Das alles ist natürlich nur im Durchschnitt wahr, wie das meiste, was von
Gesellschaften, Völkern, Rassen gesagt wird. Wir haben jeden Tag Gelegenheit,
Belege zu beobachten. Wie werden Persönlichkeiten, die die Augen auf sich ziehen,
beurteilt! Man begegnet Formeln, nicht aber Charakteren. Man braucht nur nach¬
zuprüfen, was zum Beispiel über den Kaiser gesagt wird. Eines der treffendsten
Beispiele ist noch in aller Gedächtnis. Irgend jemand hatte erzählt, der Reichskanzler
hätte gesagt: „Nur keine innern Krisen." Das Wort wurde aufgegriffen, wurde
zum Programm, zur Formel, zur Charakterschilderung. Der Reichskanzler hat das
Wort niemals ausgesprochen, wie er selbst im Reichstag erklärt hat. Es wurde
lediglich geglaubt, weil es eine bequeme Formel war und bleibt, als bequeme Formel,
auch noch im Gedächtnis, nachdem die Reichstagsauflösung eindringlich genug gezeigt
hat, daß Formel und Wirklichkeit nichts miteinander gemein haben.

Ja es scheint sogar, als hätte diese Formel unter Deutschen ein so zähes Lebe»,
daß das Urteil, das sie enthält, aus der innern Politik Vertrieben, sich nun in die
auswärtige rette, um dort seine Haltung zu behaupten, bis auch da einmal der
rechte Augenblick kommt, uno ein Staatsmann, dessen Werkzeug nicht die an keine
Zeit gebundne Idee, sondern die Situation ist, zeigen kann, daß die Hand, die
den Handschuh trügt, auch den Degen führen kann.

Es ist nnr eine andre Form derselben Erscheinung, der Liebe zur formelhaften
Charakterisierung, wenn wir so oft, am deutlichsten bei Gerichtsverhandlungen, jedes
einmal oft vor langen Jahren und in dieser oder jener Situation gesprochne Wort als
verbindliches Programm wiederkehren sehen. Der Deutsche spricht und hört Pro¬
gramme. Seine Worte sind nicht leichtbeflugelt, Irrlichter, Sterne, die nur für ein
paar Momente flimmern, sondern Programme, schwer und langlebig. Die deutschen


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[0450] Maßgebliches und Unmaßgebliches hat Philosophien geschaffen, ein Reich des Geistes und der Idee — und die tiefsten Dinge sind stets deshalb gesagt worden, weil ein allgemeinstes intuitio geahnt, aus dem einzelnen nicht entwickelt, sondern in ihm wiedergefunden wurde. Dieser Vorzug, der auf philosophischem Gebiete die Größe des deutschen Denkens schafft, wird wie jeder Vorzug, in anderm Zusammenhang, zur empfind¬ lichen Schwäche. Der Wirklichkeit gegenüber bedeutet diese Denkweise Herrschaft der Theorie und der Formel, das heißt Ungerechtigkeit und Gewalt. Noch ehe wir einen Menschen richtig kennen, haben wir die Formel, die sein Wesen erklärt. Diese Formel verhärtet sich dann gleichsam, ohne mit genauerer Erfahrung bereichert oder verändert zu werden — weil für diese Art des Denkens die Aufgabe gelöst ist, wenn die feste begriffliche Formel gefunden und alles Spätere unbewußt ignoriert wird. Es liegt darin wohl der geheime Grund, warum die deutsche Nation andern, insbesondre den Franzosen in der Feinheit der Psychologie, zumal der Frauen, die ja zumeist begrifflich nicht meßbare widerspruchsvolle Wesen sind, so sehr nach¬ stehen wie in keiner andern Aufgabe des Denkens. Der deutsche Schriftsteller liebt die Einfachheit der Charaktere ebenso wie der französische ihre verwickelte Un- meßbarkeit, ihre geheimen Risse, ihre unfaßlichen Rätsel — die verlockendste, weil schwerste Aufgabe einer jahrhundertealten ererbten und stets verfeinerten psycho¬ logischen Kultur. Der Franzose liebt das Irrationale, vor dem sich der Deutsche angstvoll in den Begriff rettet. Ein Deutscher liebt sein Wirtshaus rechteckig, und die Säulen, die die Decke etwa stützen, sollen in der Mitte stehn. Wer französische Cafes, ganz gleich ob in Paris oder in der Provinz, sieht, erschrickt darüber, wie peinlich und krampfhaft dort jede Symmetrie vermieden und unwahrscheinliche Poly¬ gone unwahrscheinlich eingeteilt sind. Das Wesen des Menschen aber ist irrational, und wer das Geometrische liebt, wird stets ein schlechter Psychologe bleiben. Eine Schilderung, wie sie z. B. Balzac in seiner Histoirs ckss trsiss auf zwei Seiten von dem Charakter der OuoKssss Ah I^s-nAlais entwirft, wird ein deutscher Schrift¬ steller niemals schreiben, ein deutscher Leser zumeist nicht ganz genießen können. Das alles ist natürlich nur im Durchschnitt wahr, wie das meiste, was von Gesellschaften, Völkern, Rassen gesagt wird. Wir haben jeden Tag Gelegenheit, Belege zu beobachten. Wie werden Persönlichkeiten, die die Augen auf sich ziehen, beurteilt! Man begegnet Formeln, nicht aber Charakteren. Man braucht nur nach¬ zuprüfen, was zum Beispiel über den Kaiser gesagt wird. Eines der treffendsten Beispiele ist noch in aller Gedächtnis. Irgend jemand hatte erzählt, der Reichskanzler hätte gesagt: „Nur keine innern Krisen." Das Wort wurde aufgegriffen, wurde zum Programm, zur Formel, zur Charakterschilderung. Der Reichskanzler hat das Wort niemals ausgesprochen, wie er selbst im Reichstag erklärt hat. Es wurde lediglich geglaubt, weil es eine bequeme Formel war und bleibt, als bequeme Formel, auch noch im Gedächtnis, nachdem die Reichstagsauflösung eindringlich genug gezeigt hat, daß Formel und Wirklichkeit nichts miteinander gemein haben. Ja es scheint sogar, als hätte diese Formel unter Deutschen ein so zähes Lebe», daß das Urteil, das sie enthält, aus der innern Politik Vertrieben, sich nun in die auswärtige rette, um dort seine Haltung zu behaupten, bis auch da einmal der rechte Augenblick kommt, uno ein Staatsmann, dessen Werkzeug nicht die an keine Zeit gebundne Idee, sondern die Situation ist, zeigen kann, daß die Hand, die den Handschuh trügt, auch den Degen führen kann. Es ist nnr eine andre Form derselben Erscheinung, der Liebe zur formelhaften Charakterisierung, wenn wir so oft, am deutlichsten bei Gerichtsverhandlungen, jedes einmal oft vor langen Jahren und in dieser oder jener Situation gesprochne Wort als verbindliches Programm wiederkehren sehen. Der Deutsche spricht und hört Pro¬ gramme. Seine Worte sind nicht leichtbeflugelt, Irrlichter, Sterne, die nur für ein paar Momente flimmern, sondern Programme, schwer und langlebig. Die deutschen

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/450>, abgerufen am 24.07.2024.