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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Neue Kunstbücher

Ausgewählt von Emil Sulger-Gebirg. Wir geben daraus hier eine der letzten
und reifsten Äußerungen Runges über Künstlersinn aus dein Anfang des
Jahres 1810 weiter: "Das Studium der Alten und das Entwickeln aller Stufen
der Kunst daraus ist zwar sehr gut; es kann aber dem Künstler nichts helfen,
wenn er nicht dahin kommt oder gebracht wird, den gegenwärtigen Moment des
Daseins mit allen Schmerzen und Freuden zu fassen und zu betrachten; wenn nicht
alles, was ihm begegnet, persönliche Berührung mit der weitesten Ferne und dem
innersten Kern seines Daseins, mit der ältesten Vergangenheit und der herrlichsten
Zukunft wird, die ihn nicht zerstört, sondern stets vollkommener formiert."

Das gälte nicht fast ganz auch heute noch? Merkwürdig, wie der Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts dem Anfang des zwanzigsten so besondre Nahrung
gibt. Bis in unsre Wohnungskultur herein. Ein neues Buch von Joseph August
Lux, der unsern Lesern durch den flotten Aufsatz "Zur Psychologie der Mode"
bekannt ist. ganz im Sinne dieses Aufsatzes geschrieben, "Geschmack im Alltag"
(Dresden, Kühtmann), bringt unter anderm manche Beispiele guter Zimmerein¬
richtung und reiner Möbelformen aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.
Lux führt namentlich den Kampf gegen die unechten Sezessionsmöbel mit
Temperament -- und mit Recht. Schlechtes und gutes, links und rechts ab¬
gebildet, mit ein paar Spott- und Lobworten gleich darunter: schon dieser
Jllustrationsteil des Buches ist geeignet, gut bildend zu wirken. Dabei sind wir
weit davon entfernt, alle Urteile des Verfassers zu unsern zu machen. Es
erscheinen da zum Beispiel auch Gartenbänke von einem Lobstrahl getroffen, bei
deren bloßem Anblick wir unbehagliche Empfindungen im Rücken und sonst spüren,
und mit denen wir. wenn es sein müßte, die körperliche Bekanntschaft auf das
geringste Maß beschränken würden. Folgende von Lux als gutes Musterbeispiel
reproduzierte Künstlereinladung, deren gewaltig plumpe Randschnörkel und kaum
entzifferbare Schrift wir hier nicht wiedergeben können:

verabscheuen wir schon wegen ihrer Zerreißung der Worte und der Syntax an den
Zeilenenden. Vielleicht auch schade für die Wirkung des Buches, daß der Ver¬
fasser die in Österreich geschriebn"" Abschnitte nicht umgearbeitet hat, auch sprachlich,
einiges ist geradezu unverständlich.*) Trotzdem empfehlen wir das Buch unsern



*) "Wer je in die Lage kommt einen Tisch zu decken, der die Form hat, wird die Er¬
fahrung machen" usw. So beginnt ein Kapitel. Der die Form hat? Welche Form? Meint
der Verfasser "der Form hat"?
Neue Kunstbücher

Ausgewählt von Emil Sulger-Gebirg. Wir geben daraus hier eine der letzten
und reifsten Äußerungen Runges über Künstlersinn aus dein Anfang des
Jahres 1810 weiter: „Das Studium der Alten und das Entwickeln aller Stufen
der Kunst daraus ist zwar sehr gut; es kann aber dem Künstler nichts helfen,
wenn er nicht dahin kommt oder gebracht wird, den gegenwärtigen Moment des
Daseins mit allen Schmerzen und Freuden zu fassen und zu betrachten; wenn nicht
alles, was ihm begegnet, persönliche Berührung mit der weitesten Ferne und dem
innersten Kern seines Daseins, mit der ältesten Vergangenheit und der herrlichsten
Zukunft wird, die ihn nicht zerstört, sondern stets vollkommener formiert."

Das gälte nicht fast ganz auch heute noch? Merkwürdig, wie der Anfang
des neunzehnten Jahrhunderts dem Anfang des zwanzigsten so besondre Nahrung
gibt. Bis in unsre Wohnungskultur herein. Ein neues Buch von Joseph August
Lux, der unsern Lesern durch den flotten Aufsatz „Zur Psychologie der Mode"
bekannt ist. ganz im Sinne dieses Aufsatzes geschrieben, „Geschmack im Alltag"
(Dresden, Kühtmann), bringt unter anderm manche Beispiele guter Zimmerein¬
richtung und reiner Möbelformen aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts.
Lux führt namentlich den Kampf gegen die unechten Sezessionsmöbel mit
Temperament — und mit Recht. Schlechtes und gutes, links und rechts ab¬
gebildet, mit ein paar Spott- und Lobworten gleich darunter: schon dieser
Jllustrationsteil des Buches ist geeignet, gut bildend zu wirken. Dabei sind wir
weit davon entfernt, alle Urteile des Verfassers zu unsern zu machen. Es
erscheinen da zum Beispiel auch Gartenbänke von einem Lobstrahl getroffen, bei
deren bloßem Anblick wir unbehagliche Empfindungen im Rücken und sonst spüren,
und mit denen wir. wenn es sein müßte, die körperliche Bekanntschaft auf das
geringste Maß beschränken würden. Folgende von Lux als gutes Musterbeispiel
reproduzierte Künstlereinladung, deren gewaltig plumpe Randschnörkel und kaum
entzifferbare Schrift wir hier nicht wiedergeben können:

verabscheuen wir schon wegen ihrer Zerreißung der Worte und der Syntax an den
Zeilenenden. Vielleicht auch schade für die Wirkung des Buches, daß der Ver¬
fasser die in Österreich geschriebn«» Abschnitte nicht umgearbeitet hat, auch sprachlich,
einiges ist geradezu unverständlich.*) Trotzdem empfehlen wir das Buch unsern



*) „Wer je in die Lage kommt einen Tisch zu decken, der die Form hat, wird die Er¬
fahrung machen" usw. So beginnt ein Kapitel. Der die Form hat? Welche Form? Meint
der Verfasser „der Form hat"?
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[0043] Neue Kunstbücher Ausgewählt von Emil Sulger-Gebirg. Wir geben daraus hier eine der letzten und reifsten Äußerungen Runges über Künstlersinn aus dein Anfang des Jahres 1810 weiter: „Das Studium der Alten und das Entwickeln aller Stufen der Kunst daraus ist zwar sehr gut; es kann aber dem Künstler nichts helfen, wenn er nicht dahin kommt oder gebracht wird, den gegenwärtigen Moment des Daseins mit allen Schmerzen und Freuden zu fassen und zu betrachten; wenn nicht alles, was ihm begegnet, persönliche Berührung mit der weitesten Ferne und dem innersten Kern seines Daseins, mit der ältesten Vergangenheit und der herrlichsten Zukunft wird, die ihn nicht zerstört, sondern stets vollkommener formiert." Das gälte nicht fast ganz auch heute noch? Merkwürdig, wie der Anfang des neunzehnten Jahrhunderts dem Anfang des zwanzigsten so besondre Nahrung gibt. Bis in unsre Wohnungskultur herein. Ein neues Buch von Joseph August Lux, der unsern Lesern durch den flotten Aufsatz „Zur Psychologie der Mode" bekannt ist. ganz im Sinne dieses Aufsatzes geschrieben, „Geschmack im Alltag" (Dresden, Kühtmann), bringt unter anderm manche Beispiele guter Zimmerein¬ richtung und reiner Möbelformen aus dem Anfang des neunzehnten Jahrhunderts. Lux führt namentlich den Kampf gegen die unechten Sezessionsmöbel mit Temperament — und mit Recht. Schlechtes und gutes, links und rechts ab¬ gebildet, mit ein paar Spott- und Lobworten gleich darunter: schon dieser Jllustrationsteil des Buches ist geeignet, gut bildend zu wirken. Dabei sind wir weit davon entfernt, alle Urteile des Verfassers zu unsern zu machen. Es erscheinen da zum Beispiel auch Gartenbänke von einem Lobstrahl getroffen, bei deren bloßem Anblick wir unbehagliche Empfindungen im Rücken und sonst spüren, und mit denen wir. wenn es sein müßte, die körperliche Bekanntschaft auf das geringste Maß beschränken würden. Folgende von Lux als gutes Musterbeispiel reproduzierte Künstlereinladung, deren gewaltig plumpe Randschnörkel und kaum entzifferbare Schrift wir hier nicht wiedergeben können: verabscheuen wir schon wegen ihrer Zerreißung der Worte und der Syntax an den Zeilenenden. Vielleicht auch schade für die Wirkung des Buches, daß der Ver¬ fasser die in Österreich geschriebn«» Abschnitte nicht umgearbeitet hat, auch sprachlich, einiges ist geradezu unverständlich.*) Trotzdem empfehlen wir das Buch unsern *) „Wer je in die Lage kommt einen Tisch zu decken, der die Form hat, wird die Er¬ fahrung machen" usw. So beginnt ein Kapitel. Der die Form hat? Welche Form? Meint der Verfasser „der Form hat"?

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/43>, abgerufen am 24.07.2024.