Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

Bild:
<< vorherige Seite
Der Grient in unsrer historischen Bildung

des Weltlebens zu bereichern. Wir stehn heute an einem welthistorischen
Wendepunkt: seit der Erschließung des östlichen Asiens, das sich anschickt, seine
Bahnen bis an die Westgrenze des eigentlichen China zu führen, nähern sich
wieder die beiden großen geschichtlichen Hälften der Menschheit in einer sich
gegenseitig bestimmenden geschichtlichen Gemeinschaft. Eine wirkliche "Welt¬
geschichte", an der die gesamte Völkerwelt beteiligt ist, deren Wirkungen überall
fühlbar sind, die Umspannung der Erde durch ein gemeinsames, die ganze
Menschheit berührendes Leben beginnt erst mit unsrer Zeit. Die Voraussetzung
dafür ist die geographische Erschließung der Erde und die Eroberung und Er¬
schließung der Neuländer durch die europäische Expansionskraft in der großen
kolonialen Ära Europas. Aber diese kolonisierende und erobernde Erweiterung
Europas, seine Ausbreitung über die Erde, stößt heute auf Widerstände. Die
alten Kulturvölker Asiens, aus ihrem isolierten Leben aufgescheucht, sind gerade
durch die eindringenden Wirkungen des erregenden europäischen Wesens zu
stärkerem Selbstbewußtsein, zur selbständigen Behauptung und Gestaltung ihres
geschichtlichen Daseins gedrängt worden. Die nervös-erregbarste Nation natürlich
zuerst, die Japaner; aber ebenso gehn nationale Bewegungen durch Indien,
Persien und China.

Es ist vielfach von ausgezeichneten Kennern des Orients betont worden,
daß die neuen Beziehungen zum Orient eine tiefere Kenntnis seiner Völker, ein
eindringendes Verständnis ihres geistigen Lebens zu einem praktischen Er¬
fordernis machen. Die Orientalen sind keine Barbaren, sondern durch ein
großes historisches Leben geformte Völkerindividualitäten. Die Zeiten, wo uns
die Gebilde orientalischer Kulturen als Kuriositäten erschienen, sind vorüber.
Die wissenschaftliche Erforschung des Orients verbindet sich heute mit ge¬
wichtigen Interessen des realen Lebens, die jene befruchten und diesem dienen
sollte. Den Orient in seiner Geschichte, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen
und seinem Kulturleben kennen zu lernen, ist eine Aufgabe, die nicht mehr ab¬
zuweisen ist.

So liegt in der Tat die Frage nahe: Was kann unsre geschichtliche Bildung
dafür leisten? Jede Bewegung unsers Kulturlebens stellt ja neue Forderungen
an unsern höhern Unterricht, als ob er alles zu leisten vermöchte. Das Neue
macht sich immer mit der Energie eines jungen Lebens geltend, übertreibt
deshalb bisweilen seine Ansprüche. Fragen wir, was erreichbar ist, so kann
man die allgemeine Bedeutung der orientalischen Welt erst einem etwas mehr
gereiften geschichtlichen Verständnis nahebringen. Es genügt, wenn sich der
Blick einmal an größere Fernsicht gewöhnt, wenn er Interesse für die Weite des
geschichtlichen Daseins und eine Vorstellung von seinem Inhalt erweckt. Erst
auf der obern Stufe läßt sich einiges aus der Geschichte der alt-orientalischen
Kulturvölker mitteilen, wie es auch geschieht. Daß dabei gelegentlich noch ver¬
altete und unhaltbare Ansichten mit unterlaufen, soll nicht bestritten werden.
Aber auch hier dürfen wir nicht zu viel erwarten; gerade das Wichtigste, das


Der Grient in unsrer historischen Bildung

des Weltlebens zu bereichern. Wir stehn heute an einem welthistorischen
Wendepunkt: seit der Erschließung des östlichen Asiens, das sich anschickt, seine
Bahnen bis an die Westgrenze des eigentlichen China zu führen, nähern sich
wieder die beiden großen geschichtlichen Hälften der Menschheit in einer sich
gegenseitig bestimmenden geschichtlichen Gemeinschaft. Eine wirkliche „Welt¬
geschichte", an der die gesamte Völkerwelt beteiligt ist, deren Wirkungen überall
fühlbar sind, die Umspannung der Erde durch ein gemeinsames, die ganze
Menschheit berührendes Leben beginnt erst mit unsrer Zeit. Die Voraussetzung
dafür ist die geographische Erschließung der Erde und die Eroberung und Er¬
schließung der Neuländer durch die europäische Expansionskraft in der großen
kolonialen Ära Europas. Aber diese kolonisierende und erobernde Erweiterung
Europas, seine Ausbreitung über die Erde, stößt heute auf Widerstände. Die
alten Kulturvölker Asiens, aus ihrem isolierten Leben aufgescheucht, sind gerade
durch die eindringenden Wirkungen des erregenden europäischen Wesens zu
stärkerem Selbstbewußtsein, zur selbständigen Behauptung und Gestaltung ihres
geschichtlichen Daseins gedrängt worden. Die nervös-erregbarste Nation natürlich
zuerst, die Japaner; aber ebenso gehn nationale Bewegungen durch Indien,
Persien und China.

Es ist vielfach von ausgezeichneten Kennern des Orients betont worden,
daß die neuen Beziehungen zum Orient eine tiefere Kenntnis seiner Völker, ein
eindringendes Verständnis ihres geistigen Lebens zu einem praktischen Er¬
fordernis machen. Die Orientalen sind keine Barbaren, sondern durch ein
großes historisches Leben geformte Völkerindividualitäten. Die Zeiten, wo uns
die Gebilde orientalischer Kulturen als Kuriositäten erschienen, sind vorüber.
Die wissenschaftliche Erforschung des Orients verbindet sich heute mit ge¬
wichtigen Interessen des realen Lebens, die jene befruchten und diesem dienen
sollte. Den Orient in seiner Geschichte, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen
und seinem Kulturleben kennen zu lernen, ist eine Aufgabe, die nicht mehr ab¬
zuweisen ist.

So liegt in der Tat die Frage nahe: Was kann unsre geschichtliche Bildung
dafür leisten? Jede Bewegung unsers Kulturlebens stellt ja neue Forderungen
an unsern höhern Unterricht, als ob er alles zu leisten vermöchte. Das Neue
macht sich immer mit der Energie eines jungen Lebens geltend, übertreibt
deshalb bisweilen seine Ansprüche. Fragen wir, was erreichbar ist, so kann
man die allgemeine Bedeutung der orientalischen Welt erst einem etwas mehr
gereiften geschichtlichen Verständnis nahebringen. Es genügt, wenn sich der
Blick einmal an größere Fernsicht gewöhnt, wenn er Interesse für die Weite des
geschichtlichen Daseins und eine Vorstellung von seinem Inhalt erweckt. Erst
auf der obern Stufe läßt sich einiges aus der Geschichte der alt-orientalischen
Kulturvölker mitteilen, wie es auch geschieht. Daß dabei gelegentlich noch ver¬
altete und unhaltbare Ansichten mit unterlaufen, soll nicht bestritten werden.
Aber auch hier dürfen wir nicht zu viel erwarten; gerade das Wichtigste, das


<TEI>
  <text>
    <body>
      <div>
        <div n="1">
          <pb facs="#f0372" corresp="http://brema.suub.uni-bremen.de/grenzboten/periodical/pageview/312059"/>
          <fw type="header" place="top"> Der Grient in unsrer historischen Bildung</fw><lb/>
          <p xml:id="ID_1509" prev="#ID_1508"> des Weltlebens zu bereichern. Wir stehn heute an einem welthistorischen<lb/>
Wendepunkt: seit der Erschließung des östlichen Asiens, das sich anschickt, seine<lb/>
Bahnen bis an die Westgrenze des eigentlichen China zu führen, nähern sich<lb/>
wieder die beiden großen geschichtlichen Hälften der Menschheit in einer sich<lb/>
gegenseitig bestimmenden geschichtlichen Gemeinschaft. Eine wirkliche &#x201E;Welt¬<lb/>
geschichte", an der die gesamte Völkerwelt beteiligt ist, deren Wirkungen überall<lb/>
fühlbar sind, die Umspannung der Erde durch ein gemeinsames, die ganze<lb/>
Menschheit berührendes Leben beginnt erst mit unsrer Zeit. Die Voraussetzung<lb/>
dafür ist die geographische Erschließung der Erde und die Eroberung und Er¬<lb/>
schließung der Neuländer durch die europäische Expansionskraft in der großen<lb/>
kolonialen Ära Europas. Aber diese kolonisierende und erobernde Erweiterung<lb/>
Europas, seine Ausbreitung über die Erde, stößt heute auf Widerstände. Die<lb/>
alten Kulturvölker Asiens, aus ihrem isolierten Leben aufgescheucht, sind gerade<lb/>
durch die eindringenden Wirkungen des erregenden europäischen Wesens zu<lb/>
stärkerem Selbstbewußtsein, zur selbständigen Behauptung und Gestaltung ihres<lb/>
geschichtlichen Daseins gedrängt worden. Die nervös-erregbarste Nation natürlich<lb/>
zuerst, die Japaner; aber ebenso gehn nationale Bewegungen durch Indien,<lb/>
Persien und China.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1510"> Es ist vielfach von ausgezeichneten Kennern des Orients betont worden,<lb/>
daß die neuen Beziehungen zum Orient eine tiefere Kenntnis seiner Völker, ein<lb/>
eindringendes Verständnis ihres geistigen Lebens zu einem praktischen Er¬<lb/>
fordernis machen. Die Orientalen sind keine Barbaren, sondern durch ein<lb/>
großes historisches Leben geformte Völkerindividualitäten. Die Zeiten, wo uns<lb/>
die Gebilde orientalischer Kulturen als Kuriositäten erschienen, sind vorüber.<lb/>
Die wissenschaftliche Erforschung des Orients verbindet sich heute mit ge¬<lb/>
wichtigen Interessen des realen Lebens, die jene befruchten und diesem dienen<lb/>
sollte. Den Orient in seiner Geschichte, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen<lb/>
und seinem Kulturleben kennen zu lernen, ist eine Aufgabe, die nicht mehr ab¬<lb/>
zuweisen ist.</p><lb/>
          <p xml:id="ID_1511" next="#ID_1512"> So liegt in der Tat die Frage nahe: Was kann unsre geschichtliche Bildung<lb/>
dafür leisten? Jede Bewegung unsers Kulturlebens stellt ja neue Forderungen<lb/>
an unsern höhern Unterricht, als ob er alles zu leisten vermöchte. Das Neue<lb/>
macht sich immer mit der Energie eines jungen Lebens geltend, übertreibt<lb/>
deshalb bisweilen seine Ansprüche. Fragen wir, was erreichbar ist, so kann<lb/>
man die allgemeine Bedeutung der orientalischen Welt erst einem etwas mehr<lb/>
gereiften geschichtlichen Verständnis nahebringen. Es genügt, wenn sich der<lb/>
Blick einmal an größere Fernsicht gewöhnt, wenn er Interesse für die Weite des<lb/>
geschichtlichen Daseins und eine Vorstellung von seinem Inhalt erweckt. Erst<lb/>
auf der obern Stufe läßt sich einiges aus der Geschichte der alt-orientalischen<lb/>
Kulturvölker mitteilen, wie es auch geschieht. Daß dabei gelegentlich noch ver¬<lb/>
altete und unhaltbare Ansichten mit unterlaufen, soll nicht bestritten werden.<lb/>
Aber auch hier dürfen wir nicht zu viel erwarten; gerade das Wichtigste, das</p><lb/>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[0372] Der Grient in unsrer historischen Bildung des Weltlebens zu bereichern. Wir stehn heute an einem welthistorischen Wendepunkt: seit der Erschließung des östlichen Asiens, das sich anschickt, seine Bahnen bis an die Westgrenze des eigentlichen China zu führen, nähern sich wieder die beiden großen geschichtlichen Hälften der Menschheit in einer sich gegenseitig bestimmenden geschichtlichen Gemeinschaft. Eine wirkliche „Welt¬ geschichte", an der die gesamte Völkerwelt beteiligt ist, deren Wirkungen überall fühlbar sind, die Umspannung der Erde durch ein gemeinsames, die ganze Menschheit berührendes Leben beginnt erst mit unsrer Zeit. Die Voraussetzung dafür ist die geographische Erschließung der Erde und die Eroberung und Er¬ schließung der Neuländer durch die europäische Expansionskraft in der großen kolonialen Ära Europas. Aber diese kolonisierende und erobernde Erweiterung Europas, seine Ausbreitung über die Erde, stößt heute auf Widerstände. Die alten Kulturvölker Asiens, aus ihrem isolierten Leben aufgescheucht, sind gerade durch die eindringenden Wirkungen des erregenden europäischen Wesens zu stärkerem Selbstbewußtsein, zur selbständigen Behauptung und Gestaltung ihres geschichtlichen Daseins gedrängt worden. Die nervös-erregbarste Nation natürlich zuerst, die Japaner; aber ebenso gehn nationale Bewegungen durch Indien, Persien und China. Es ist vielfach von ausgezeichneten Kennern des Orients betont worden, daß die neuen Beziehungen zum Orient eine tiefere Kenntnis seiner Völker, ein eindringendes Verständnis ihres geistigen Lebens zu einem praktischen Er¬ fordernis machen. Die Orientalen sind keine Barbaren, sondern durch ein großes historisches Leben geformte Völkerindividualitäten. Die Zeiten, wo uns die Gebilde orientalischer Kulturen als Kuriositäten erschienen, sind vorüber. Die wissenschaftliche Erforschung des Orients verbindet sich heute mit ge¬ wichtigen Interessen des realen Lebens, die jene befruchten und diesem dienen sollte. Den Orient in seiner Geschichte, seinen wirtschaftlichen Verhältnissen und seinem Kulturleben kennen zu lernen, ist eine Aufgabe, die nicht mehr ab¬ zuweisen ist. So liegt in der Tat die Frage nahe: Was kann unsre geschichtliche Bildung dafür leisten? Jede Bewegung unsers Kulturlebens stellt ja neue Forderungen an unsern höhern Unterricht, als ob er alles zu leisten vermöchte. Das Neue macht sich immer mit der Energie eines jungen Lebens geltend, übertreibt deshalb bisweilen seine Ansprüche. Fragen wir, was erreichbar ist, so kann man die allgemeine Bedeutung der orientalischen Welt erst einem etwas mehr gereiften geschichtlichen Verständnis nahebringen. Es genügt, wenn sich der Blick einmal an größere Fernsicht gewöhnt, wenn er Interesse für die Weite des geschichtlichen Daseins und eine Vorstellung von seinem Inhalt erweckt. Erst auf der obern Stufe läßt sich einiges aus der Geschichte der alt-orientalischen Kulturvölker mitteilen, wie es auch geschieht. Daß dabei gelegentlich noch ver¬ altete und unhaltbare Ansichten mit unterlaufen, soll nicht bestritten werden. Aber auch hier dürfen wir nicht zu viel erwarten; gerade das Wichtigste, das

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde im Rahmen des Moduls DTA-Erweiterungen (DTAE) digitalisiert. Weitere Informationen …

Staats- und Universitätsbibliothek (SuUB) Bremen: Bereitstellung der Texttranskription.
Kay-Michael Würzner: Bearbeitung der digitalen Edition.

Weitere Informationen:

Verfahren der Texterfassung: OCR mit Nachkorrektur.

Bogensignaturen: gekennzeichnet;Druckfehler: ignoriert;fremdsprachliches Material: nicht gekennzeichnet;Geminations-/Abkürzungsstriche: wie Vorlage;Hervorhebungen (Antiqua, Sperrschrift, Kursive etc.): nicht ausgezeichnet;i/j in Fraktur: wie Vorlage;I/J in Fraktur: wie Vorlage;Kolumnentitel: gekennzeichnet;Kustoden: gekennzeichnet;langes s (ſ): als s transkribiert;Normalisierungen: stillschweigend;rundes r (&#xa75b;): als r/et transkribiert;Seitenumbrüche markiert: ja;Silbentrennung: wie Vorlage;u/v bzw. U/V: wie Vorlage;Vokale mit übergest. e: als ä/ö/ü transkribiert;Vollständigkeit: vollständig erfasst;Zeichensetzung: wie Vorlage;Zeilenumbrüche markiert: ja;

Nachkorrektur erfolgte automatisch.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/372
Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/372>, abgerufen am 24.07.2024.