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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürstin Pauline zur Lippe

bewahranstalten, und sofort forderte sie die Deinen der Gesellschaft auf, ihr
behilflich zu sein, "diese Pariser Mode nach Detmold zu verpflanzen". Das
geschah denn auch wirklich. Die Anstalt wurde begründet, ältere Mädchen aus
dem Waisenhause oder der Erwerbschule übernahmen die Aufsicht über die
Kleinen, und abwechselnd erschienen die Damen, um nach dem Rechten zu sehen.
"Welch eine Erleichterung für arme Mütter, schrieb Pauline, für Witwer, denen
ihre Lage nicht gestattet, eine Wärterin zu nehmen, eine Quelle jener oft so
unüberlegt schnellen, das Zartgefühl der Sittlichkeit verletzenden zweiten oder
dritten Ehen, oft schon geschlungen, wenn die Erdenhülle der ersten Freundin
kaum erkaltet ist." Gedanken und Worte, wie sie treffender gar nicht Paulinens
Wesen bezeichnen können, in dem sich kräftig zugreifender Wirklichkeitssinn so
eng mit Gefühlsschwelgerei verbindet.

Die letzten Jahre ihrer Regentschaft wurden der Fürstin getrübt durch einen
unerquicklichen Streit mit den Stünden ihres Landes. Sie hatte die ehrliche
Absicht, den berühmten Artikel 13 der deutschen Bundesverfassung zu erfüllen,
wollte jedoch den seit lange nicht mehr berufnen Landtag nicht mehr in der mittel¬
alterlich feudalen Form bestehen lassen, sondern in modern bürgerlichem Sinne
umgestalten.*) Die ol-äsvimts, wie Pauline sie nannte, waren darüber außer
sich, verklagten sie beim Frankfurter Bundestag, verlangten die Wiederherstellung
der alten Verfassung, ja sogar die Revision der letzten zehn Regierungsjahre
der Fürstin, das heißt der Zeit, wo sie ohne Landtag regiert hatte. So begann
auch in Lippe-Detmold der Kampf ums alte Recht. Doch Pauline war keine
rücksichtslose Despotin wie der dicke Friedrich von Württemberg, und kein Uhland
erhob gegen sie seine Stimme. Abgesehen von der Ritterschaft Scharte sich das
ganze Land einmütig um die geliebte Herrin. Dadurch ermutigt, wagte sie den
äußersten Schritt. Am 26. Juni 1819 ließ sie die neue Verfassung, deren
Artikel sie persönlich ausgearbeitet hatte, in den Jntelligenzblättern veröffent¬
lichen. Es war eine wirkliche Volksvertretung, die auf dem Grundeigentum be¬
ruhte und die drei Stunde der Rittergutsbesitzer, Bürger und Bauern zu gleichen
Teilen berücksichtigte. Und recht ketzerisch und im Zeitalter Metternichs sehr
gewagt lauteten die Grundsätze, die der Archivrat Clostermeier im Auftrage der
Fürstin in einer Rechtfertigungsschrift darlegte: Der rechtliche Bestand der alten
landständischen Verfassung sei erloschen, sobald die fortschreitende Aufklärung
sie als unvereinbarlich mit der Vernunft und den geläuterten Begriffen des
allgemeinen Staatsrechts anerkannt Hütte und die Völker für fähig gehalten
werden müßten, ihre von jenen Korporationen als Standesprärogative usurpierte
und zum eignen Vorteil benutzte Vertretung selbst zu übernehmen. Die Det-
molder feierten den Staatsstreich durch eine Illumination, und die Bauern er¬
klärten laut, sie würden sich das, was ihre "Mutter" ihnen gegeben habe, nicht



Vgl. hierüber Treitschke, Deutsche Geschichte II 544 und M. Weerth in den Mitteilungen
aus der lippischen Geschichte und Landeskunde I, 63 ff.
Fürstin Pauline zur Lippe

bewahranstalten, und sofort forderte sie die Deinen der Gesellschaft auf, ihr
behilflich zu sein, „diese Pariser Mode nach Detmold zu verpflanzen". Das
geschah denn auch wirklich. Die Anstalt wurde begründet, ältere Mädchen aus
dem Waisenhause oder der Erwerbschule übernahmen die Aufsicht über die
Kleinen, und abwechselnd erschienen die Damen, um nach dem Rechten zu sehen.
„Welch eine Erleichterung für arme Mütter, schrieb Pauline, für Witwer, denen
ihre Lage nicht gestattet, eine Wärterin zu nehmen, eine Quelle jener oft so
unüberlegt schnellen, das Zartgefühl der Sittlichkeit verletzenden zweiten oder
dritten Ehen, oft schon geschlungen, wenn die Erdenhülle der ersten Freundin
kaum erkaltet ist." Gedanken und Worte, wie sie treffender gar nicht Paulinens
Wesen bezeichnen können, in dem sich kräftig zugreifender Wirklichkeitssinn so
eng mit Gefühlsschwelgerei verbindet.

Die letzten Jahre ihrer Regentschaft wurden der Fürstin getrübt durch einen
unerquicklichen Streit mit den Stünden ihres Landes. Sie hatte die ehrliche
Absicht, den berühmten Artikel 13 der deutschen Bundesverfassung zu erfüllen,
wollte jedoch den seit lange nicht mehr berufnen Landtag nicht mehr in der mittel¬
alterlich feudalen Form bestehen lassen, sondern in modern bürgerlichem Sinne
umgestalten.*) Die ol-äsvimts, wie Pauline sie nannte, waren darüber außer
sich, verklagten sie beim Frankfurter Bundestag, verlangten die Wiederherstellung
der alten Verfassung, ja sogar die Revision der letzten zehn Regierungsjahre
der Fürstin, das heißt der Zeit, wo sie ohne Landtag regiert hatte. So begann
auch in Lippe-Detmold der Kampf ums alte Recht. Doch Pauline war keine
rücksichtslose Despotin wie der dicke Friedrich von Württemberg, und kein Uhland
erhob gegen sie seine Stimme. Abgesehen von der Ritterschaft Scharte sich das
ganze Land einmütig um die geliebte Herrin. Dadurch ermutigt, wagte sie den
äußersten Schritt. Am 26. Juni 1819 ließ sie die neue Verfassung, deren
Artikel sie persönlich ausgearbeitet hatte, in den Jntelligenzblättern veröffent¬
lichen. Es war eine wirkliche Volksvertretung, die auf dem Grundeigentum be¬
ruhte und die drei Stunde der Rittergutsbesitzer, Bürger und Bauern zu gleichen
Teilen berücksichtigte. Und recht ketzerisch und im Zeitalter Metternichs sehr
gewagt lauteten die Grundsätze, die der Archivrat Clostermeier im Auftrage der
Fürstin in einer Rechtfertigungsschrift darlegte: Der rechtliche Bestand der alten
landständischen Verfassung sei erloschen, sobald die fortschreitende Aufklärung
sie als unvereinbarlich mit der Vernunft und den geläuterten Begriffen des
allgemeinen Staatsrechts anerkannt Hütte und die Völker für fähig gehalten
werden müßten, ihre von jenen Korporationen als Standesprärogative usurpierte
und zum eignen Vorteil benutzte Vertretung selbst zu übernehmen. Die Det-
molder feierten den Staatsstreich durch eine Illumination, und die Bauern er¬
klärten laut, sie würden sich das, was ihre „Mutter" ihnen gegeben habe, nicht



Vgl. hierüber Treitschke, Deutsche Geschichte II 544 und M. Weerth in den Mitteilungen
aus der lippischen Geschichte und Landeskunde I, 63 ff.
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[0335] Fürstin Pauline zur Lippe bewahranstalten, und sofort forderte sie die Deinen der Gesellschaft auf, ihr behilflich zu sein, „diese Pariser Mode nach Detmold zu verpflanzen". Das geschah denn auch wirklich. Die Anstalt wurde begründet, ältere Mädchen aus dem Waisenhause oder der Erwerbschule übernahmen die Aufsicht über die Kleinen, und abwechselnd erschienen die Damen, um nach dem Rechten zu sehen. „Welch eine Erleichterung für arme Mütter, schrieb Pauline, für Witwer, denen ihre Lage nicht gestattet, eine Wärterin zu nehmen, eine Quelle jener oft so unüberlegt schnellen, das Zartgefühl der Sittlichkeit verletzenden zweiten oder dritten Ehen, oft schon geschlungen, wenn die Erdenhülle der ersten Freundin kaum erkaltet ist." Gedanken und Worte, wie sie treffender gar nicht Paulinens Wesen bezeichnen können, in dem sich kräftig zugreifender Wirklichkeitssinn so eng mit Gefühlsschwelgerei verbindet. Die letzten Jahre ihrer Regentschaft wurden der Fürstin getrübt durch einen unerquicklichen Streit mit den Stünden ihres Landes. Sie hatte die ehrliche Absicht, den berühmten Artikel 13 der deutschen Bundesverfassung zu erfüllen, wollte jedoch den seit lange nicht mehr berufnen Landtag nicht mehr in der mittel¬ alterlich feudalen Form bestehen lassen, sondern in modern bürgerlichem Sinne umgestalten.*) Die ol-äsvimts, wie Pauline sie nannte, waren darüber außer sich, verklagten sie beim Frankfurter Bundestag, verlangten die Wiederherstellung der alten Verfassung, ja sogar die Revision der letzten zehn Regierungsjahre der Fürstin, das heißt der Zeit, wo sie ohne Landtag regiert hatte. So begann auch in Lippe-Detmold der Kampf ums alte Recht. Doch Pauline war keine rücksichtslose Despotin wie der dicke Friedrich von Württemberg, und kein Uhland erhob gegen sie seine Stimme. Abgesehen von der Ritterschaft Scharte sich das ganze Land einmütig um die geliebte Herrin. Dadurch ermutigt, wagte sie den äußersten Schritt. Am 26. Juni 1819 ließ sie die neue Verfassung, deren Artikel sie persönlich ausgearbeitet hatte, in den Jntelligenzblättern veröffent¬ lichen. Es war eine wirkliche Volksvertretung, die auf dem Grundeigentum be¬ ruhte und die drei Stunde der Rittergutsbesitzer, Bürger und Bauern zu gleichen Teilen berücksichtigte. Und recht ketzerisch und im Zeitalter Metternichs sehr gewagt lauteten die Grundsätze, die der Archivrat Clostermeier im Auftrage der Fürstin in einer Rechtfertigungsschrift darlegte: Der rechtliche Bestand der alten landständischen Verfassung sei erloschen, sobald die fortschreitende Aufklärung sie als unvereinbarlich mit der Vernunft und den geläuterten Begriffen des allgemeinen Staatsrechts anerkannt Hütte und die Völker für fähig gehalten werden müßten, ihre von jenen Korporationen als Standesprärogative usurpierte und zum eignen Vorteil benutzte Vertretung selbst zu übernehmen. Die Det- molder feierten den Staatsstreich durch eine Illumination, und die Bauern er¬ klärten laut, sie würden sich das, was ihre „Mutter" ihnen gegeben habe, nicht Vgl. hierüber Treitschke, Deutsche Geschichte II 544 und M. Weerth in den Mitteilungen aus der lippischen Geschichte und Landeskunde I, 63 ff.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/335>, abgerufen am 24.07.2024.