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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Fürsorgeerziehung

rechnen dürfen (mehr als vollen Ersatz hat der Verfasser bei Diakonissen wahr¬
genommen) und schon zufrieden sein müssen, wenn wenigstens schlechte Behandlung
verhütet wird. Landsberg erzählt von einem Mädchen, das bei einer gut
empfohlnen "religiös-sittlichen" Bauernfamilie untergebracht war und dort trotz
allen lobenden Berichten des Ortsgeistlichen zugrunde gegangen sein würde, wenn
es nicht den Mut gehabt hätte, fortzulaufen und den sieben Stunden entfernten
Vormundschaftsrichter aufzusuchen, der es an einem andern Orte unterbrachte,
wo es sich brav gehalten hat. Bei der Fürsorge ans Grund des Bürgerlichen
Gesetzbuchs wird nicht eine definitive Lage geschaffen, sondern der Vormund-
schaftsrichter hat sein Mündel fortwährend im Auge zu behalten und muß
Änderungen eintreten lassen, so oft geänderte Umstände das fordern. Fällt
die Gefährdung weg, so muß er, ohne die Anregung und das Betreiben der
Interessenten abzuwarten, seine Verfügungen wieder aufheben, womit das elter¬
liche Recht in seinem ganzen Umfange von selbst wieder auflebt. Wenig bekannt
scheint es zu sein, daß bei Scheidungsprozessen der Vormundschaftsrichter über
die vorläufige Unterbringung der Kinder Verfügungen treffen darf, die denen
des Prozeßrichters entgegengesetzt sind und deren Vollstreckung hemmen. Hat
dieser zum Beispiel entschieden: während der Dauer des Prozesses bleiben die
Kinder beim Vater, so kann der Vormundschaftsrichter, wenn das Wohl der
Kinder beim Vater gefährdet erscheint, verfügen, daß sie nuderswo, etwa bei
einem Oheim untergebracht werden. Und anch nachdem das scheidende Urteil
ergangen ist, hat er zu prüfen, ob nicht die Kinderfrage in einer vom Gesetze
abweichenden Weise zu regeln ist. Es kommt vor, daß der zur Erziehung
berechtigte infolge der Aufregungen des Scheidungsprozesses einer Geistes¬
krankheit verfallen ist, oder daß Pflege und Fortkommen des Kindes bei dem
andern Teile besser gesichert erscheinen als bei dem nach dem Gesetze berechtigten.
"Ein Verschulden des durch die Abweichung benachteiligten Gatten braucht
nicht vorzuliegen, kann aber natürlich entscheidend mitwirken, wenn es vorliegt."
Auch über den Verkehr des Kindes mit dem Elternteile, von dem es getrennt
ist, hat der Vormnndschaftsrichter zu wachen, und dasselbe gilt, wenn ein Kind
durch seine Verfügung von beiden Eltern getrennt worden ist. Landsberg teilt
einen merkwürdigen Fall mit. Die Verfügung war der schlechten Mutter wegen
ergangen. Der Vater war brav, nur so wenig energisch, daß er im Bereiche
der Frau seinen Einfluß nicht geltend zu machen vermochte. Deshalb wurde
ihm gestattet, die bei einer Bauernfamilie der Umgegend untergebrachten Kinder
zu besuchen. "Fern von der Hölle, zu der die Mutter ihr Haus machte, konnten
sie einander ruhig sehn und sprechen. Der so geregelte Einfluß des Vaters
wirkte gut bis zu seinem frühen Tode. Den Kindern blieb ein freundliches
Bild von ihm; die Mutter wünschen sie nicht wiederzusehn." Selbstverständlich
gehört viel Weisheit und Vorsicht dazu, nebst der genausten Kenntnis und der
sorgfältigsten Erwägung jedes einzelnen Falles, wenn der Vormnndschaftsrichter
bei seinen Eingriffen in die elterlichen Rechte immer das Richtige treffen soll. So


Fürsorgeerziehung

rechnen dürfen (mehr als vollen Ersatz hat der Verfasser bei Diakonissen wahr¬
genommen) und schon zufrieden sein müssen, wenn wenigstens schlechte Behandlung
verhütet wird. Landsberg erzählt von einem Mädchen, das bei einer gut
empfohlnen „religiös-sittlichen" Bauernfamilie untergebracht war und dort trotz
allen lobenden Berichten des Ortsgeistlichen zugrunde gegangen sein würde, wenn
es nicht den Mut gehabt hätte, fortzulaufen und den sieben Stunden entfernten
Vormundschaftsrichter aufzusuchen, der es an einem andern Orte unterbrachte,
wo es sich brav gehalten hat. Bei der Fürsorge ans Grund des Bürgerlichen
Gesetzbuchs wird nicht eine definitive Lage geschaffen, sondern der Vormund-
schaftsrichter hat sein Mündel fortwährend im Auge zu behalten und muß
Änderungen eintreten lassen, so oft geänderte Umstände das fordern. Fällt
die Gefährdung weg, so muß er, ohne die Anregung und das Betreiben der
Interessenten abzuwarten, seine Verfügungen wieder aufheben, womit das elter¬
liche Recht in seinem ganzen Umfange von selbst wieder auflebt. Wenig bekannt
scheint es zu sein, daß bei Scheidungsprozessen der Vormundschaftsrichter über
die vorläufige Unterbringung der Kinder Verfügungen treffen darf, die denen
des Prozeßrichters entgegengesetzt sind und deren Vollstreckung hemmen. Hat
dieser zum Beispiel entschieden: während der Dauer des Prozesses bleiben die
Kinder beim Vater, so kann der Vormundschaftsrichter, wenn das Wohl der
Kinder beim Vater gefährdet erscheint, verfügen, daß sie nuderswo, etwa bei
einem Oheim untergebracht werden. Und anch nachdem das scheidende Urteil
ergangen ist, hat er zu prüfen, ob nicht die Kinderfrage in einer vom Gesetze
abweichenden Weise zu regeln ist. Es kommt vor, daß der zur Erziehung
berechtigte infolge der Aufregungen des Scheidungsprozesses einer Geistes¬
krankheit verfallen ist, oder daß Pflege und Fortkommen des Kindes bei dem
andern Teile besser gesichert erscheinen als bei dem nach dem Gesetze berechtigten.
„Ein Verschulden des durch die Abweichung benachteiligten Gatten braucht
nicht vorzuliegen, kann aber natürlich entscheidend mitwirken, wenn es vorliegt."
Auch über den Verkehr des Kindes mit dem Elternteile, von dem es getrennt
ist, hat der Vormnndschaftsrichter zu wachen, und dasselbe gilt, wenn ein Kind
durch seine Verfügung von beiden Eltern getrennt worden ist. Landsberg teilt
einen merkwürdigen Fall mit. Die Verfügung war der schlechten Mutter wegen
ergangen. Der Vater war brav, nur so wenig energisch, daß er im Bereiche
der Frau seinen Einfluß nicht geltend zu machen vermochte. Deshalb wurde
ihm gestattet, die bei einer Bauernfamilie der Umgegend untergebrachten Kinder
zu besuchen. „Fern von der Hölle, zu der die Mutter ihr Haus machte, konnten
sie einander ruhig sehn und sprechen. Der so geregelte Einfluß des Vaters
wirkte gut bis zu seinem frühen Tode. Den Kindern blieb ein freundliches
Bild von ihm; die Mutter wünschen sie nicht wiederzusehn." Selbstverständlich
gehört viel Weisheit und Vorsicht dazu, nebst der genausten Kenntnis und der
sorgfältigsten Erwägung jedes einzelnen Falles, wenn der Vormnndschaftsrichter
bei seinen Eingriffen in die elterlichen Rechte immer das Richtige treffen soll. So


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[0282] Fürsorgeerziehung rechnen dürfen (mehr als vollen Ersatz hat der Verfasser bei Diakonissen wahr¬ genommen) und schon zufrieden sein müssen, wenn wenigstens schlechte Behandlung verhütet wird. Landsberg erzählt von einem Mädchen, das bei einer gut empfohlnen „religiös-sittlichen" Bauernfamilie untergebracht war und dort trotz allen lobenden Berichten des Ortsgeistlichen zugrunde gegangen sein würde, wenn es nicht den Mut gehabt hätte, fortzulaufen und den sieben Stunden entfernten Vormundschaftsrichter aufzusuchen, der es an einem andern Orte unterbrachte, wo es sich brav gehalten hat. Bei der Fürsorge ans Grund des Bürgerlichen Gesetzbuchs wird nicht eine definitive Lage geschaffen, sondern der Vormund- schaftsrichter hat sein Mündel fortwährend im Auge zu behalten und muß Änderungen eintreten lassen, so oft geänderte Umstände das fordern. Fällt die Gefährdung weg, so muß er, ohne die Anregung und das Betreiben der Interessenten abzuwarten, seine Verfügungen wieder aufheben, womit das elter¬ liche Recht in seinem ganzen Umfange von selbst wieder auflebt. Wenig bekannt scheint es zu sein, daß bei Scheidungsprozessen der Vormundschaftsrichter über die vorläufige Unterbringung der Kinder Verfügungen treffen darf, die denen des Prozeßrichters entgegengesetzt sind und deren Vollstreckung hemmen. Hat dieser zum Beispiel entschieden: während der Dauer des Prozesses bleiben die Kinder beim Vater, so kann der Vormundschaftsrichter, wenn das Wohl der Kinder beim Vater gefährdet erscheint, verfügen, daß sie nuderswo, etwa bei einem Oheim untergebracht werden. Und anch nachdem das scheidende Urteil ergangen ist, hat er zu prüfen, ob nicht die Kinderfrage in einer vom Gesetze abweichenden Weise zu regeln ist. Es kommt vor, daß der zur Erziehung berechtigte infolge der Aufregungen des Scheidungsprozesses einer Geistes¬ krankheit verfallen ist, oder daß Pflege und Fortkommen des Kindes bei dem andern Teile besser gesichert erscheinen als bei dem nach dem Gesetze berechtigten. „Ein Verschulden des durch die Abweichung benachteiligten Gatten braucht nicht vorzuliegen, kann aber natürlich entscheidend mitwirken, wenn es vorliegt." Auch über den Verkehr des Kindes mit dem Elternteile, von dem es getrennt ist, hat der Vormnndschaftsrichter zu wachen, und dasselbe gilt, wenn ein Kind durch seine Verfügung von beiden Eltern getrennt worden ist. Landsberg teilt einen merkwürdigen Fall mit. Die Verfügung war der schlechten Mutter wegen ergangen. Der Vater war brav, nur so wenig energisch, daß er im Bereiche der Frau seinen Einfluß nicht geltend zu machen vermochte. Deshalb wurde ihm gestattet, die bei einer Bauernfamilie der Umgegend untergebrachten Kinder zu besuchen. „Fern von der Hölle, zu der die Mutter ihr Haus machte, konnten sie einander ruhig sehn und sprechen. Der so geregelte Einfluß des Vaters wirkte gut bis zu seinem frühen Tode. Den Kindern blieb ein freundliches Bild von ihm; die Mutter wünschen sie nicht wiederzusehn." Selbstverständlich gehört viel Weisheit und Vorsicht dazu, nebst der genausten Kenntnis und der sorgfältigsten Erwägung jedes einzelnen Falles, wenn der Vormnndschaftsrichter bei seinen Eingriffen in die elterlichen Rechte immer das Richtige treffen soll. So

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/282>, abgerufen am 24.07.2024.