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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Astatische Probleme

und Franzosen wurden von England darauf fast ihres ganzen Kolonialbesitzes
beraubt. Nußland faßt 1792 festen Fuß am ganzen Nordufer des Schwarzen
Meeres und dringt in stetig sich anschließenden Etappen immer tiefer ins Innere
von Asien vor. Der Kampf der Europäer um Asien findet von 1792 ab bis
in die Gegenwart fast ausschließlich zwischen Rußland und England statt. Als
sekundäre erscheint von Zeit zu Zeit Frankreich, bald dem einen bald dem
andern beistehend.

Jetzt endlich glauben voreilige Zeitungschreiber den englisch-russischen Kampf
durch das jüngste diplomatische Abkommen für beendet oder doch auf längere
Zeit für aufgehoben einsehn zu können, aber jeder Kenner der dortigen Ver¬
hältnisse weiß, daß Rußlands Sieg in Asien über England nur eine Frage
der Zeit und ebenso unabwendbar ist wie eine Naturkraft. Gerade augen¬
blicklich machen die Russen große kolonisatorische Fortschritte in Zentralasien,
sind aber klug genug, sie möglichst zu verschleiern.

Bei den Russen hält mit der Zunahme der Auswanderung auch die des
eignen Gebiets gleichet! Schritt. Allerdings gehn jetzt die nach Amerika aus¬
wandernden Russen ihrer Heimat verloren, aber was will das besagen gegen¬
über der riesigen Auswanderung nach Asien. Von 1823 bis 1388 wurden
782000 Menschen nach Sibirien verbannt. Andre Hunderttausende sind frei¬
willig eingewandert. Die Verbannten waren, wie Wirth auf die Autorität
Jadrinzeffs gestützt angibt, wenig fruchtbar. Der Kern der jetzigen Bevölkerung
stammt von freiwilligen Ansiedlern und von Kosaken. Rußlands Bevölkerungs¬
zuwachs beträgt 1'/^ Millionen jährlich, seine Gebietsvergrößerung seit Peters
des Großen Zeit 90 Quadratmeter täglich. So wenig wie der unglückliche
Ausgang des Krimkriegs, so wenig hat die Erschöpfung Rußlands nach dem
türkischen Kriege sein weiteres Vorschreiten in Asien verhindert.

Überall in Asien haben es die Russen verstanden, die Bevölkerung der
neueroberten Gebiete sich schnell zu assimilieren, indem sie ungleich den Eng¬
ländern nirgends den Herrenstandpunkt einnahmen und die nationalen Eigen¬
tümlichkeiten sorgsam schonten. So haben die Russen anch regelmäßig die besten
Offiziere und Beamten, die sie hatten, zur asiatischen Kolonisation verwandt.
Sie wurden bei ihrer erfolgreichen Kolonisierung wesentlich durch die Tat¬
sache unterstützt, daß die neuen Gebiete unmittelbar mit dein Mutterlande zu¬
sammenhängen, während die deutschen Kolonien durch das weite Meer von der
Heimat getrennt sind.

Die Russen folgten, wie Wirth sehr richtig hervorhebt, bei ihrem
kolonisatorischen Vordringen in Asien regelmäßig der Linie des geringsten
Widerstandes. Sie fochten mit halbwilden, schlecht bewaffneten Horden. Nur
einmal in der ganzen Zeit besiegten sie einen ebenbürtigen Gegner, Karl den
Zwölften von Schweden bei Pultawa, aber die Schweden waren durch Märsche
und Mangel ermattet und nur ein Viertel so stark wie ihre Gegner. Oft
haben die Russen auch das ihnen mißgünstige Waffenglück in der Weise


Astatische Probleme

und Franzosen wurden von England darauf fast ihres ganzen Kolonialbesitzes
beraubt. Nußland faßt 1792 festen Fuß am ganzen Nordufer des Schwarzen
Meeres und dringt in stetig sich anschließenden Etappen immer tiefer ins Innere
von Asien vor. Der Kampf der Europäer um Asien findet von 1792 ab bis
in die Gegenwart fast ausschließlich zwischen Rußland und England statt. Als
sekundäre erscheint von Zeit zu Zeit Frankreich, bald dem einen bald dem
andern beistehend.

Jetzt endlich glauben voreilige Zeitungschreiber den englisch-russischen Kampf
durch das jüngste diplomatische Abkommen für beendet oder doch auf längere
Zeit für aufgehoben einsehn zu können, aber jeder Kenner der dortigen Ver¬
hältnisse weiß, daß Rußlands Sieg in Asien über England nur eine Frage
der Zeit und ebenso unabwendbar ist wie eine Naturkraft. Gerade augen¬
blicklich machen die Russen große kolonisatorische Fortschritte in Zentralasien,
sind aber klug genug, sie möglichst zu verschleiern.

Bei den Russen hält mit der Zunahme der Auswanderung auch die des
eignen Gebiets gleichet! Schritt. Allerdings gehn jetzt die nach Amerika aus¬
wandernden Russen ihrer Heimat verloren, aber was will das besagen gegen¬
über der riesigen Auswanderung nach Asien. Von 1823 bis 1388 wurden
782000 Menschen nach Sibirien verbannt. Andre Hunderttausende sind frei¬
willig eingewandert. Die Verbannten waren, wie Wirth auf die Autorität
Jadrinzeffs gestützt angibt, wenig fruchtbar. Der Kern der jetzigen Bevölkerung
stammt von freiwilligen Ansiedlern und von Kosaken. Rußlands Bevölkerungs¬
zuwachs beträgt 1'/^ Millionen jährlich, seine Gebietsvergrößerung seit Peters
des Großen Zeit 90 Quadratmeter täglich. So wenig wie der unglückliche
Ausgang des Krimkriegs, so wenig hat die Erschöpfung Rußlands nach dem
türkischen Kriege sein weiteres Vorschreiten in Asien verhindert.

Überall in Asien haben es die Russen verstanden, die Bevölkerung der
neueroberten Gebiete sich schnell zu assimilieren, indem sie ungleich den Eng¬
ländern nirgends den Herrenstandpunkt einnahmen und die nationalen Eigen¬
tümlichkeiten sorgsam schonten. So haben die Russen anch regelmäßig die besten
Offiziere und Beamten, die sie hatten, zur asiatischen Kolonisation verwandt.
Sie wurden bei ihrer erfolgreichen Kolonisierung wesentlich durch die Tat¬
sache unterstützt, daß die neuen Gebiete unmittelbar mit dein Mutterlande zu¬
sammenhängen, während die deutschen Kolonien durch das weite Meer von der
Heimat getrennt sind.

Die Russen folgten, wie Wirth sehr richtig hervorhebt, bei ihrem
kolonisatorischen Vordringen in Asien regelmäßig der Linie des geringsten
Widerstandes. Sie fochten mit halbwilden, schlecht bewaffneten Horden. Nur
einmal in der ganzen Zeit besiegten sie einen ebenbürtigen Gegner, Karl den
Zwölften von Schweden bei Pultawa, aber die Schweden waren durch Märsche
und Mangel ermattet und nur ein Viertel so stark wie ihre Gegner. Oft
haben die Russen auch das ihnen mißgünstige Waffenglück in der Weise


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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/24>, abgerufen am 24.07.2024.