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Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr.

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Vic Bingersdorfer Brücke

Diesesmal genügte aber schon dieser eine, und tels schreckliche Gefühl war
wieder da und fuhr ihr wie ein Schmerz durch den ganzen Körper. Sie konnte
keinen Fuß vor den andern bringen. Sie kämpfte mit sich und wurde über und
über heiß. Es ging nicht.

Eine Schande wars, aber es ging nicht.

Die Arme hingen ihr schlaff herab, und ganz erschöpft setzte sie sich am Weg¬
rand hin.

... Was sollte jetzt werden! Bis zur Mühle zurück wars eine halbe Stunde
und von da nach Hause wieder eine ganze. Da kam sie ja vor Nacht nicht heim.

Im Walde war es stiller geworden und dunkler, über den Feldern drüben stand
der Himmel rot im letzten Licht, und am Flusse hob sich ein feiner Nebel.

Mit großen erschrocknen Augen sah Lene hinüber nach dem offnen Lande und
fühlte auf einmal deutlich, wie klein sie war, ja klein und schwach wie ein Kind.

Da tönten Schritte vom Wege her.

Gott sei Dank, dachte sie ganz erleichtert; denn über ihrer Angst vor dem
Wasser hatte sie alles andre vergessen, es wird ein Förster sein, der nimmt mich
rin rüber.

Sie streckte den Kopf zwischen dem Buschwerk vor, das ihr die Aussicht nahm,
und fuhr jählings zurück. Und dann legte sie beide Hände vors Gesicht und fing
bitterlich zu weinen an.

Der den Waldweg herabkam, war ein großer stattlicher Mensch in einem
städtischen Sonntagsanzug, dessen ungeschickter Schnitt seinem kräftigen Wuchs nicht
gerade günstig war. Er hatte ein rundes Gesicht mit hellen Augen, den Mund
verdeckte ein starker, blonder Schnurrbart.

Wer aber den Fritz Jänisch als Jungen gekannt hatte, wußte, daß es ein
freundlicher, schüchterner Mund war, den der kecke Bart verbarg. Den steifen Stroh¬
hut hielt er in der Hand und sah sehr nachdenklich aus.

Da leuchtete etwas rot am Wege.

Oho, dieses Rot kannte er gut. Seine Augen glänzten auf, und er blieb
stehn. Dann gewahrte er Lenes sonderbare Haltung und kam naher heran. Was
tat sie denn?

Ein schluchzender Laut drang bis zu ihm.

Da wurde er über und über rot, stand wie festgebannt und drehte den Hut
zwischen den Händen.

Sie merkte zitternd, daß er nicht weiter ging.

Jetzt würde er anfangen; und sie duckte sich noch mehr zusammen.

Du ... eine Pause.

Du, was weinst du denn?

Es klang gar nicht gefährlich, aber sie war so verängstigt und verwirrt, sie
merkte es nicht, und zwischen den Händen stieß sie hervor:

Laß mich doch ... ach bitte!

Er verstand sie nicht. Was sollte er nur machen? Er konnte sie doch unmöglich
so hier sitzen lassen, so klein und hilflos wie sie war. Seine großen Hände mal¬
trätierten den Hut, daß er sich bog und knisterte.

Dann fing er wieder an:

Ist dir was? ... sag mirs doch ... und nach erneutem Stocken dringlicher:
Na, sag mirs doch!

Das klang nun so einfach und gutmütig, daß sie es nicht mehr überhören konnte.
Ganz erstaunt horchte sie ans und wagte es, durch die Finger zu blinzeln.

Und sah sein rotes, verlegnes Gesicht und wie er schüchtern an, Hute drehte.


Vic Bingersdorfer Brücke

Diesesmal genügte aber schon dieser eine, und tels schreckliche Gefühl war
wieder da und fuhr ihr wie ein Schmerz durch den ganzen Körper. Sie konnte
keinen Fuß vor den andern bringen. Sie kämpfte mit sich und wurde über und
über heiß. Es ging nicht.

Eine Schande wars, aber es ging nicht.

Die Arme hingen ihr schlaff herab, und ganz erschöpft setzte sie sich am Weg¬
rand hin.

... Was sollte jetzt werden! Bis zur Mühle zurück wars eine halbe Stunde
und von da nach Hause wieder eine ganze. Da kam sie ja vor Nacht nicht heim.

Im Walde war es stiller geworden und dunkler, über den Feldern drüben stand
der Himmel rot im letzten Licht, und am Flusse hob sich ein feiner Nebel.

Mit großen erschrocknen Augen sah Lene hinüber nach dem offnen Lande und
fühlte auf einmal deutlich, wie klein sie war, ja klein und schwach wie ein Kind.

Da tönten Schritte vom Wege her.

Gott sei Dank, dachte sie ganz erleichtert; denn über ihrer Angst vor dem
Wasser hatte sie alles andre vergessen, es wird ein Förster sein, der nimmt mich
rin rüber.

Sie streckte den Kopf zwischen dem Buschwerk vor, das ihr die Aussicht nahm,
und fuhr jählings zurück. Und dann legte sie beide Hände vors Gesicht und fing
bitterlich zu weinen an.

Der den Waldweg herabkam, war ein großer stattlicher Mensch in einem
städtischen Sonntagsanzug, dessen ungeschickter Schnitt seinem kräftigen Wuchs nicht
gerade günstig war. Er hatte ein rundes Gesicht mit hellen Augen, den Mund
verdeckte ein starker, blonder Schnurrbart.

Wer aber den Fritz Jänisch als Jungen gekannt hatte, wußte, daß es ein
freundlicher, schüchterner Mund war, den der kecke Bart verbarg. Den steifen Stroh¬
hut hielt er in der Hand und sah sehr nachdenklich aus.

Da leuchtete etwas rot am Wege.

Oho, dieses Rot kannte er gut. Seine Augen glänzten auf, und er blieb
stehn. Dann gewahrte er Lenes sonderbare Haltung und kam naher heran. Was
tat sie denn?

Ein schluchzender Laut drang bis zu ihm.

Da wurde er über und über rot, stand wie festgebannt und drehte den Hut
zwischen den Händen.

Sie merkte zitternd, daß er nicht weiter ging.

Jetzt würde er anfangen; und sie duckte sich noch mehr zusammen.

Du ... eine Pause.

Du, was weinst du denn?

Es klang gar nicht gefährlich, aber sie war so verängstigt und verwirrt, sie
merkte es nicht, und zwischen den Händen stieß sie hervor:

Laß mich doch ... ach bitte!

Er verstand sie nicht. Was sollte er nur machen? Er konnte sie doch unmöglich
so hier sitzen lassen, so klein und hilflos wie sie war. Seine großen Hände mal¬
trätierten den Hut, daß er sich bog und knisterte.

Dann fing er wieder an:

Ist dir was? ... sag mirs doch ... und nach erneutem Stocken dringlicher:
Na, sag mirs doch!

Das klang nun so einfach und gutmütig, daß sie es nicht mehr überhören konnte.
Ganz erstaunt horchte sie ans und wagte es, durch die Finger zu blinzeln.

Und sah sein rotes, verlegnes Gesicht und wie er schüchtern an, Hute drehte.


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[0156] Vic Bingersdorfer Brücke Diesesmal genügte aber schon dieser eine, und tels schreckliche Gefühl war wieder da und fuhr ihr wie ein Schmerz durch den ganzen Körper. Sie konnte keinen Fuß vor den andern bringen. Sie kämpfte mit sich und wurde über und über heiß. Es ging nicht. Eine Schande wars, aber es ging nicht. Die Arme hingen ihr schlaff herab, und ganz erschöpft setzte sie sich am Weg¬ rand hin. ... Was sollte jetzt werden! Bis zur Mühle zurück wars eine halbe Stunde und von da nach Hause wieder eine ganze. Da kam sie ja vor Nacht nicht heim. Im Walde war es stiller geworden und dunkler, über den Feldern drüben stand der Himmel rot im letzten Licht, und am Flusse hob sich ein feiner Nebel. Mit großen erschrocknen Augen sah Lene hinüber nach dem offnen Lande und fühlte auf einmal deutlich, wie klein sie war, ja klein und schwach wie ein Kind. Da tönten Schritte vom Wege her. Gott sei Dank, dachte sie ganz erleichtert; denn über ihrer Angst vor dem Wasser hatte sie alles andre vergessen, es wird ein Förster sein, der nimmt mich rin rüber. Sie streckte den Kopf zwischen dem Buschwerk vor, das ihr die Aussicht nahm, und fuhr jählings zurück. Und dann legte sie beide Hände vors Gesicht und fing bitterlich zu weinen an. Der den Waldweg herabkam, war ein großer stattlicher Mensch in einem städtischen Sonntagsanzug, dessen ungeschickter Schnitt seinem kräftigen Wuchs nicht gerade günstig war. Er hatte ein rundes Gesicht mit hellen Augen, den Mund verdeckte ein starker, blonder Schnurrbart. Wer aber den Fritz Jänisch als Jungen gekannt hatte, wußte, daß es ein freundlicher, schüchterner Mund war, den der kecke Bart verbarg. Den steifen Stroh¬ hut hielt er in der Hand und sah sehr nachdenklich aus. Da leuchtete etwas rot am Wege. Oho, dieses Rot kannte er gut. Seine Augen glänzten auf, und er blieb stehn. Dann gewahrte er Lenes sonderbare Haltung und kam naher heran. Was tat sie denn? Ein schluchzender Laut drang bis zu ihm. Da wurde er über und über rot, stand wie festgebannt und drehte den Hut zwischen den Händen. Sie merkte zitternd, daß er nicht weiter ging. Jetzt würde er anfangen; und sie duckte sich noch mehr zusammen. Du ... eine Pause. Du, was weinst du denn? Es klang gar nicht gefährlich, aber sie war so verängstigt und verwirrt, sie merkte es nicht, und zwischen den Händen stieß sie hervor: Laß mich doch ... ach bitte! Er verstand sie nicht. Was sollte er nur machen? Er konnte sie doch unmöglich so hier sitzen lassen, so klein und hilflos wie sie war. Seine großen Hände mal¬ trätierten den Hut, daß er sich bog und knisterte. Dann fing er wieder an: Ist dir was? ... sag mirs doch ... und nach erneutem Stocken dringlicher: Na, sag mirs doch! Das klang nun so einfach und gutmütig, daß sie es nicht mehr überhören konnte. Ganz erstaunt horchte sie ans und wagte es, durch die Finger zu blinzeln. Und sah sein rotes, verlegnes Gesicht und wie er schüchtern an, Hute drehte.

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Zitationshilfe: Die Grenzboten. Jg. 67, 1908, Zweites Vierteljahr, S. . In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/grenzboten_341887_311740/156>, abgerufen am 24.07.2024.